Samstag, 20. April 2024

Archiv


Ödipus

Die Tragödie "Ödipus der Tyrann" von Sophokles ist schon mehr als 2400 Jahre alt. Dennoch gehört sie nach wie vor zu den rätselhaftesten und faszinierendsten Dramen der gesamten Literaturgeschichte. Im deutschen Sprachraum hat dieses Drama gleich drei folgenreiche, einander jedoch krass widersprechende Deutungen erfahren. Schelling interpretierte Ödipus als das schuldlos-schuldige Opfer des über ihm verhängten Schicksals, Schiller und Hegel als das schuldlos-schuldige Opfer eines ausweglosen moralischen Dilemmas. Und Freud schließlich entdeckte bei Sophokles das Modell jenes psychosexuellen Urkonflikts, den er den Ödipuskomplex taufte.

Frank Ufen | 15.02.1999
    Nach Auffassung des Althistorikers Egon Flaig haben diese Deutungen einen Nachteil: sie sind hoffnungslos anachronistisch und verfehlt. Der amerikanische Historiker Carl E. Schorske hat gegen Freud einmal eingewandt, daß er das Entscheidende übersehen habe: Ödipus war ein König. Flaigs Argumentation hat dieselbe Stoßrichtung. Die adäquate Interpretation des Ödipus-Dramas verlangt die Rekonstruktion der politischen Machtverhältnisse und der Rechts- und Moralnormen im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. Flaig hat sie rekonstruiert. Dadurch ist er zu verblüffenden Befunden gelangt.

    In der gesamten Antike herrschte die Auffassung, daß alle Prophezeiungen mehrdeutig und deshalb in hohem Grade interpretationsbedürftig seien, und daß man sie niemals wortwörtlich, sondern nur metaphorisch interpretieren dürfe. Wenn deshalb das Orakel zu Delphi Ödipus weissagte, daß er mit seiner eigenen Mutter schlafen werde, so konnte das zweierlei bedeuten. Nämlich entweder, daß er bald zur Mutter Erde zurückkehren, also sterben würde. Oder daß er eines Tages den Königsthron seines Geburtslandes besteigen würde. Und wenn das Delphische Orakel Ödipus verkündete, er werde seinen eigenen Vater umbringen, so konnte dies zum Beispiel bedeuten, daß seine Vaterstadt ihn eines Tages verbannen würde.

    Ödipus verkennt dies jedoch völlig. Er versteht die - politisch gemeinten - Weissagungen des Delphischen Orakels buchstäblich, und durch sein eigenmächtiges Handeln bewirkt er selbst, daß sie sich buchstäblich erfüllen. Schuld daran sind allein Ödipus' Überheblichkeit, sein Autismus, sein Macht- und Prestigehunger.

    Als Ödipus überstürzt vor seinen vermeintlichen Eltern nach Theben flieht, stößt er unterwegs an einem Dreiweg auf seinen eigentlichen Vater Laios. Doch diesem Mann, der einen Wagen lenkt und der sich noch dazu als König zu erkennen gibt, verweigert der Fußgänger Ödipus die Vorfahrt. Damit hat er das Athenische Wegerecht grob verletzt. Und daß es danach zu einem Handgemenge kommt, bei dem Ödipus seinen Vater und dessen Dienerschaft tötet, ist ebensowenig die Folge fataler Umstände. Ödipus tötet vier unbewaffnete Männer, ohne sich in einer Notwehrsituation zu befinden. Folglich muß er vorsätzlich gehandelt haben.

    Doch warum wird Ödipus zum Massenmörder und warum legt er ein derart selbstzerstörerisches Verhalten an den Tag? Nach Flaig gibt es hierauf nur eine schlüssige Antwort. Ödipus hat den typischen Habitus eines Tyrannen, er verfügt über die charakteristischen Dispositionen und Denkschemata eines Repräsentanten der älteren Adels-Generation. Er ist jemand, der um jeden Preis seine adligen Kon- kurrenten übertreffen will, um sein symbolisches Kapital an Ehre und Prestige zu erhöhen. Dabei setzt er sich bedenkenlos über alle sozialen Normen hinweg und gefährdet die Polis-Gemeinschaft.

    Und er ist jemand, der immer überhastet und überstürzt handelt, weil er es für unter seiner Würde hält, sich mit anderen zu verständigen und ihren Rat zu suchen. In diesem selbstherrlichen Charakter des Ödipus kommt ein fataler Defekt der athenischen Demokratie zum Ausdruck. Die Athener Volksversammlung, in der die wichtigsten politischen Entscheidungen getroffen wurden, wurde nämlich von Adligen dominiert, zwischen denen ein Kampf aller gegen alle tobte. Die adligen Politiker versuchten unablässig, einander in der Formulierung immer riskanterer Anträge zu überbieten und ihre Anträge in der Volksversammlung durchzubringen. Dies führte nicht selten zu brisanten innen- und außenpolitischen Situationen. Die möglichen verhängnisvollen Folgen dieses unerbittlichen Macht- und Prestigekampfes zwischen demagogischen Politikern werden im Drama des Sophokles öffentlich durchgespielt.

    Soviel zu den Kerngedanken dieser Studie von Egon Flaig. Ob Flaig mit seinen waghalsigen und nicht völlig konsistenten Thesen bei der Zunft der Althistoriker auf große Zustimmung stoßen wird, bleibt abzuwarten. Doch ohne Zweifel hat Flaig einen originellen Beitrag zur Entmystifizierung der Antike geleistet. Und er hat gezeigt, wie nützlich Erkenntnisse der zeitgenössischen Sozialwissenschaften für die Erforschung der Antike sein können.