Dienstag, 16. April 2024

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Ökologie der Angst

Wanderer, kommst Du nach Hollywood, wirst Du es dort nicht finden. Im Zentrum jenes heruntergekommenen und diffus ausfransenden Ortes stößt man auf einige läppische Symbole, die sich mühsam um den Glanz des Namens ranken: Zum Beispiel in Zement gegossene Fußabdrücke von Filmstars, die hier schon lange nicht mehr wohnen. Und die berühmten Filmstudios befinden sich seit Jahrzehnten in gebührendem Abstand von dem Ort, in dessen Namen sie immer noch firmieren. Hollywood ist ein Name. Die Ankündigung seiner selbst. Ein monumentaler Schriftzug an einem Berghang über Los Angeles. Das phantastische Ideal dahinter besichtigt man am besten im Disneyland von Florida.

Walter van Rossum | 18.07.2000
    Los Angeles kann man auch nicht besichtigen. Aber genau das kann man besichtigen, nämlich im City Walk: eine Fußgängerzone als Attrappe ihrer selbst, wo man Bonbonpapiere in den Boden eingelassen hat - sozusagen als kühnes Zitat des Menschen und der Stadt. Der City Walk liegt am Rande der riesigen Universal Studios und gehört einer Filmgesellschaft. Seit der Eröffnung im Jahre 1993 suchen die Angelinos hier einen begehbaren Teil von LA, wo sie sich nicht von Gangs oder Autos bedroht fühlen und des Anblicks von Drogensüchtigen, Obdachlosen und Durchgeknallten vorübergehend enthoben sind. Wanderer, kommst Du nach Los Angeles, begib Dich in den City Walk! Dort wirst Du in einer Art rückwärts laufenden Extase die Unsichtbarkeit von Los Angeles als Firlefanz aus niedlichen städtischen Versatzstücken erschauen.

    Nicht Wanderer, sondern aus Paris einfliegende Philosophen behaupten es seit langem: Los Angeles ist die Speerspitze der Postmoderne. Realität erschiene hier nur als flüchtige Spiegelung, Tanz der Fragmente. Doch die verschwindende Realität kauft sich ihre teuren Interpreten: Postmoderne europäische Weltbilddesigner schürfen in der real existierenden kalifornischen Irrealität nach einer Zukunft jenseits des Menschen. Bereits in den 40er Jahren hatten allerdings mürrische deutsche Exilanten schon konstatiert, daß in LA der Antihumanismus längst die Macht ergriffen habe - und zwar in Gestalt der Kulturindustrie, die bei den hochkulturellen Europäer erhabenes und anhaltendes Dauerfrösteln auslöste. Unter anderen Vorzeichen zelebrieren postmoderne Denker heute beim Anblick jener monströsen Agglomeration ohne Zentrum noch Identität ein kostbares Schauern über die Unlesbarkeit der Gegenwart. So unvergleichbar ein Theodor W. Adorno und ein Jean Baudrillard auch scheinen mögen, beide entdeckten hier reichlich Stoff für apokalyptische Endzeiten der Vernunft und des Menschen - und beide hielten es für völlig überflüssig, die konkrete soziale Realität der Stadt eines Blicks zu würdigen.

    Wer auf den philosophischen Höhenkämmen dunkler abendländischer Geister wandelt, könnte glatt vergessen, daß hinter der metaphysischen Kulisse in Los Angeles nebenbei über 12 Millionen Menschen leben bzw. überleben und daß das uferlose Häusermeer vom größten ethnischen Mix der Welt bewohnt wird. Es ist allerdings schwer vorstellbar, daß ein wie strammer Wanderer auch immer in diesem Flickenteppich aus Bretterbuden und Wolkenkratzern, aus unvorstellbarem Reichtum und unvorstellbarer Armut, unter der Dunstglocke von Hitze und Gewalt, in der verwirrenden Vielfalt der Rassen und Ethnien auch nur Spuren einer beschreibbaren Realität fände. Wo man anfangen könnte, LA zu suchen - das verrät einem Mike Davis. Der kalifornische Stadtsoziologe hat mittlerweile zwei umfangreiche Bücher über Los Angeles geschrieben. 1990 sorgte The City of Quartz für eine mehr als lokale Sensation - drei Jahre später folgte die deutsche Übersetzung mit dem Untertitel: Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles. 1998 erschien Ecology of fear, das unter dem Titel Ökologie der Angst. Los Angeles und das Leben mit der Katastrophe soeben auch ins Deutsche übersetzt wurde. Beide Bücher sind auch für denjeniegen von der ersten bis zur letzten Zeile spannend, der nie in Los Angeles war und wenig Ahnung von kalifornischen Stand der Dinge hat. Zwar entziffert Davis gleichsam Straßenzug um Straßenzug die ganz konkrete Realität dieser einzigartigen Stadt, zugleich aber spürt er im Detail die Symptome zukünftiger und globaler Stadtentwicklungen auf.

    Von Zeit zu Zeit entlädt sich in LA der tägliche Bürgerkrieg einer turbokapitalistischen Gesellschaft in blutigen Aufständen, wie zuletzt bei den sogenannten "Unruhen" von 1993, die keineswegs ein Aufstand der Schwarzen gegen die Weißen waren, wie man gerne erzählt, sondern ein Kampf aller ethnischer Gruppen gegen alle, die nur wenig mehr besaßen. Am wenigsten zu Schaden kam dabei die weiße Oberschicht, die auf schwer bewachten Bergen ober- und außerhalb der Stadt residiert.

    In seinem letzten Buch Ökologie der Angst vergleicht Mike Davis ausführlich die realen Katastrophen von LA mit den fiktiven Katastrophenszenarien in Büchern und Filmen. Immerhin ist Los Angeles in den vergangenen 90 Jahren mindestens 129 Mal restlos untergegangen: pulverisiert von den Erschütterungen gigantischer Erdbebeben, geschmolzen in den Feuersbrünsten der Bürgerkriege, von Aliens atomisiert, oder von Pest oder der gelben Gefahr ausgerottet. In den letzten Jahrzehnten wird dabei eine Tendenz unverkennbar: Die fiktive Zerstörung von Los Angeles verheißt eine Art Reinigung. Der Rest der Zivilisation befreit sich von einem Krebsgeschwür. Und es bedarf keiner tiefsinnigen Deutungskunst, um in der Geschwulst bestimmte ethnische Fratzen deutlich zu erkennen.

    In den fiktiven Katastrophenbildern spiegeln sich die Ängste der besitzenden, aber mehr und mehr zur Minderheit werdenden weißen Oberschicht vor der realen Katastrophe aus Gewalt, Rassismus und Verelendung. In der Realität führen diese Ängste allerdings zu einer fortschreitenden Militarisierung des Stadtraums. Auf der Grundlage bereits ersichtlicher raumpolitischer Maßnahmen entwirft Davis eine Karte für die künftige Zitadellenarchitektur von Los Angeles: ein infernalischer Bebauungsplan mit elektronischen Zugbrücken, Ghettos und Übergangszonen, sortiert nach Hautfarben und Besitzständen.

    Bereits heute fliehen die reichen weißen Minderheiten in die Berge, wo sie von Kojoten, Pumas und Waldbränden bedroht werden. Ganz abgesehen von Erdbeben und Überschwemmungen, die sich in den letzten Jahren scheinbar gehäuft haben. Doch neue klimahistorische Analysen zeigen, daß Kalifornien im Moment eine eher milde Klimaperiode durchlebt. Auch wenn die massiven Eingriffe in das instabile kalifornische Ökosysstem die Lage erschweren. Wirklich verblüffend aber ist, wie Davis nachweist, daß selbst die Wahrnehmung der natürlichen Katastrophenlage in Los Angeles ideologisch verhindert wird. Absehbaren zukünftigen Naturkatastrophen ist die Stadt vollkommen ausgeliefert. Nach wie vor wird das Wetter ewiger Beach-Partys als der klimatische Normalfall verkauft.

    Mike Davis hat nicht nur ein ungeheuer informatives und fessendes Buch über die Ökologie, also über die Wechselbeziehungen von realen, sozialen, fiktiven und natürlichen Katastrophen im Raum Los Angeles geschrieben, es ist Seite für Seite auch ein atemberaubendes Lehrbuch für die konkrete Entzifferung unserer komplexen gesellschaftlichen Wirklichkeit schlechthin.