Dienstag, 19. März 2024

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Ökonom über Corona, Politik und Ethik
"Niemand weiß, wie hoch der Preis des Lebens wirklich ist"

Die Corona-Pandemie kostet viele Menschenleben. Sie hat auch weitreichende ökonomische, soziale und psychologische Kosten. Politiker müssten entscheiden, wie viel Geld sie für die Rettung von Leben bereitstellten, sagte der Ökonom Armin Falk im Dlf - das sei ethisch oft schwer auszuhalten.

Armin Falk im Gespräch mit Barbara Weber | 22.04.2021
Mehrere Plakate, Grablichter und Kerzen stehen auf dem Podest des Stierbrunnens in Prenzlauer Berg und erinnern an die die aktuelle Zahl der Toten durch Corona in Deutschland. (Januar 2021)
"Im Grunde hat das Leben keinen Preis. Es hat Würde und lässt sich nicht verrechnen mit anderen Dingen", beschreibt Armin Falk eine von Kant vertretene philosophische Position. (dpa / picture alliance / Annette Riedl)
"Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, mich bringt das manchmal um den Schlaf und ich denke an die Menschen, die sterben," sagte Ralph Brinkhaus am 21.04.2021 im Bundestag bei der Debatte um die Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Dieses sieht einschneidende Maßnahmen vor, und so stellt sich die Frage, inwiefern diese berechtigt sind.
Armin Falk, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bonn und Direktor des briq-Instituts für Verhalten und Ungleichheit, über den Wert menschlichen Leben, ob sich das überhaupt in Zahlen ausdrücken lässt und ethische Fragen.
Barbara Weber: Um welchen Zielkonflikt geht es im Zusammenhang mit der Coronapandemie?
Armin Falk: Im Kern geht es um die Frage, was ist das Leben wert auf der einen Seite - das Leben, was wir retten durch die Maßnahmen, die jetzt beschlossen wurden. Und auf der anderen Seite: Wie hoch sind die ökonomischen Kosten, aber auch die sozialen, die psychologischen Kosten.
Die letzteren kann man einigermaßen gut schätzen, beispielsweise hat das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung geschätzt, dass die ökonomischen, also nur die wirtschaftlichen Einbußen pro Woche etwa bei 3,5 Milliarden Euro liegen. Das sind natürlich alles nur Schätzungen, aber geben uns etwa die Größenordnung an. Und auf der anderen Seite muss man das eben abwägen mit den Kosten oder dem Nutzen von geretteten oder verlorenem Leben. Und ich glaube, das ist im Kern der Zielkonflikt oder Trade-off, wie wir das nennen, um den es hier in der Politik geht.
Dr. Olivia Mitscherlich-Schönherr
Philosophin: "Mit der Pandemie leben und sterben lernen"
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Wie bestimmt man den statistischen Wert eines Lebens?

Weber: Wie hoch ist denn der Preis für ein menschliches Leben? Das wird ja auch in anderem Zusammenhang immer wieder diskutiert oder stillschweigend vorausgesetzt.
Falk: Niemand weiß, wie hoch der Preis des Lebens wirklich ist, aber es gibt Möglichkeiten oder Versuche, dieser Frage etwas näher zu kommen. Da gibt es zum einen eine sehr lange und tradierte philosophische Debatte, auf der einen Seite als Extremposition meinetwegen eine deontologische oder von Kant vertretene Position, nach der das Leben im Grunde keinen Preis hat. Es hat Würde und lässt sich nicht verrechnen mit anderen Dingen. Wenn man es ökonomisch ausdrücken würde, könnte man dann sagen, der Wert des Lebens oder der Preis des Lebens ist sozusagen nahezu unendlich.
Auf der anderen Seite gibt es eine eher empirisch orientierte Forschung insbesondere in den Wirtschaftswissenschaften, die versucht, den statistischen Wert eines Lebens zu bestimmen. Das wäre also einer utilitaristischen Logik folgend. Da gibt es verschiedene Schätzungen, diese Schätzungen sind sehr abhängig von den zugrundeliegenden Annahmen, und man sollte einen Fehler nicht machen, diese Schätzungen sozusagen als moralische Werturteile nehmen. Was sie eher sind, sind deskriptive Beschreibungen, die beschreiben, wie wir de facto den Wert eines Lebens bestimmen. Da geht es um die Fragen, wie zum Beispiel Entscheidungen zu interpretieren sind, die Menschen treffen, um das Leben zu verlängern oder sich einem Risiko auszusetzen, also zum Beispiel wie viel Geld muss ich jemandem mehr bezahlen, damit er oder sie bereit ist, einen riskanteren Job anzunehmen oder ein riskanteres Transportmittel zu wählen und so weiter.
Der Verhaltensökonom Armin Falk nimmt am 07.04.2015 in Berlin an einer Diskussionsveranstaltung im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Wirtschaft für morgen" im Bundeswirtschaftsministerium teil.
"Aktuellere Studien gehen von Werten von fünf bis zehn Millionen Dollar für ein Menschenleben aus", sagt der Verhaltensökonom Armin Falk (dpa / picture alliance / Tim Brakemeier)
Vielleicht kann ich kurz illustrieren, wie die Logik dieser Art von Studien funktioniert: Das geht zum Beispiel so, dass man Veränderungen im Tempolimit sich angeschaut hat in den 90er-Jahren in den US-Bundesstaaten. Erwartungsgemäß gab es daraufhin mehr Verkehrstote. Dann hat man sich gefragt, wie ist denn die Zeitersparnis auf der anderen Seite, die Zeitersparnis wurde dann multipliziert mit Stundenlöhnen. Und dann kann man in etwa ausrechnen, was de facto in der Bewertung dieser Politik, welcher Wert dem Leben beigemessen wurde. Das ist in dieser Studie etwa 1,5 Millionen Dollar gewesen. Das ist ein Wert aus den 90er-Jahren.
Aktuellere Studien gehen so von Werten von 5 bis 10 Millionen Dollar aus. Die OECD hat 2012 eine Empfehlung abgegeben von etwa 1,8 bis 5,5 Millionen. Also man sieht, die Schwankungen sind riesig, aber es sind auf jeden Fall mal Millionenbeträge. Und das sind eben, wie gesagt, keine moralischen Urteile, sondern das sind die Werte, die wir bekommen, wenn wir de facto das Verhalten der Menschen sich selbst gegenüber als Richtschnur nehmen. Wie viel Geld seid ihr bereit auszugeben, um Leben zu retten, da kommt man eben so in etwa in die Größenordnung von 5 bis 10 Millionen Euro oder Dollar.
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"Gesellschaft toleriert unterschiedliche Bewertung des Lebens"

Weber: Ich unterstelle jetzt einfach mal, wir reden hier von Industrienationen, also nicht unbedingt von einem afrikanischen Menschenleben. Oder?
Falk: Absolut richtig, das zeigt auch den Zynismus dieser Betrachtung, wobei man sollte es nicht zynisch sehen, weil es eigentlich keinen moralischen Anspruch hat, sondern nur deskriptiv ist. Aber wenn wir die Logik jetzt zum Beispiel exportieren und in arme Länder gehen, werden Sie automatisch sehen, dass der Wert – ich sage das jetzt ganz bewusst in Anführungszeichen –, der Wert, der statistische Wert des Lebens deutlich geringer ist.
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In ärmeren Ländern, aber auch innerhalb von Gesellschaften zählen Menschenleben unterschiedlich viel (dpa / SOPA Images via ZUMA Wire / Amarjeet Kumar Singh)
Weber: Das merkt man ja auch bei uns, da braucht man, glaube ich, gar nicht so weit zu gehen. Auch bei uns spielt der sozio-ökonomische Status ja eine Rolle bei der Lebenserwartung.
Falk: Absolut richtig. Alles, was ich vorhin gesagt habe zu dem Vergleich zwischen ärmeren und reicheren Ländern gilt auch innerhalb aller Gesellschaften, die wir kennen. Das geht übrigens sogar in Ländern mit erheblich besserer Gesundheitsversorgung als in Deutschland, beispielsweise in skandinavischen Ländern, wo die Versorgung noch besser ist, selbst dort sind Zugänge zu Gesundheit und damit auch die Überlebenswahrscheinlichkeit sehr stark vom Einkommen und vom sozio-ökonomischen Hintergrund abhängig. Das heißt, wir als Gesellschaft tolerieren auch eine unterschiedliche Bewertung des Lebens in Abhängigkeit der sozialen Herkunft. Das kann man mit Fug und Recht auch als sehr ungerecht beschreiben. Das würde ich auch in jedem Fall tun.

Warum die Politik durch Corona über den Wert des Lebens nachdenkt

Ich glaube, dass die Aufmerksamkeit, Leben zu retten, jetzt in der Corona-Krise besonders groß ist – nicht zuletzt deswegen, weil eben Bevölkerungsgruppen betroffen sind, die sonst nicht betroffen sind, also Politikerinnen und Politiker, Wirtschaftslenker, ja, Entscheidungsträger, viele, die sonst auf der Sonnenseite des Lebens stehen, sind jetzt im Grunde genommen auch gleichermaßen betroffen, vielleicht ein bisschen weniger als ärmere oder benachteiligte Personen, aber sie sind im Prinzip betroffen. Und ich glaube, dass das mit ein Grund dafür ist, dass der Wert des Lebens im Moment eine so zentrale Rolle spielt bei politischen Überlegungen.
Weber: Sie haben es ja eben schon mal angesprochen: Wir nehmen viel Geld in die Hand. Gesetzt den Fall – wider Erwarten –, dass wir die Pandemie nicht in den Griff bekommen, das kann ja nicht endlos so weitergehen, weil auch unsere Ressourcen sind begrenzt. Ist es denkbar, dass dann ganz andere Überlegungen im Raum stehen könnten?
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Falk: Die Finanzierung ist natürlich ein Riesenproblem, nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern. Und es ist die beinharte Logik des ökonomischen Denkens, dass das Geld, das jetzt an dieser Stelle ausgegeben wird, woanders natürlich nicht zur Verfügung steht. Und ich würde davon ausgehen, dass wir deswegen in anderen Bereichen wahrscheinlich weniger Ressourcen haben. Das kann unter Umständen eben dann auch – unbeabsichtigt natürlich, aber am Ende unvermeidlich – zu mehr Todesfällen in anderen Bereichen kommen. Sie sehen das beispielsweise jetzt an den aufgeschobenen oder nicht erfolgten Operationen. Hier werden überall in andere Lebensbereiche auch Risiken verschoben, das geht einmal über das Geld, wie Sie es angesprochen haben, es geht de facto auch über Zeit, Aufmerksamkeit und andere Ressourcen. Insofern würde ich sagen, ja, die Pandemie hat nicht nur Corona-Tote, sondern eben auch viele weitere Todesfolgen, die wir heute vielleicht noch gar nicht so auf dem Schirm haben. Wenn ich auch daran denke, wer besonders leidtragend ist in meinen Augen – nämlich Kinder und Jugendliche – und welche psychischen Kosten hier auf uns zukommen und mit welchen Krankheiten und Symptomen wir später auch noch zu tun haben werden als Gesellschaft, muss man leider davon ausgehen, dass die Folgewirkungen sehr erheblich sein werden.

Schwierige ethische Fragen

Weber: Ist das ethisch eigentlich alles vertretbar? Das ist doch ganz schwer auszuhalten.
Falk: Ja, ich glaube, das ist ethisch schwer auszuhalten, weil das Unrecht in dieser Welt ethisch schwer auszuhalten ist. Das Unrecht in dieser Welt hat aber nicht das Virus gebracht, das war vorher schon da. Es wird nur jetzt gerade sehr stark thematisiert und aktualisiert. Aber die Skandale, mit denen wir uns im Grunde genommen immer schon abgefunden haben, dass viele Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, zu einer vernünftigen Bildung und so weiter haben, das ist ethisch schwierig, das würde ich auch so sehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.