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Österreichs Bundeskanzler Kurz
"Wir plädieren für ein Europa mit möglichst wenig Regeln"

Sozialunion, europaweiter Mindestlohn, Vergemeinschaftung von Schulden: Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz hält diese Vorschläge von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron für utopisch. Die Sozialstandards innerhalb der EU seien zu unterschiedlich, sagte Kurz im Dlf. Das sei auch von Vorteil.

Sebastian Kurz im Gespräch mit Dirk Müller | 12.03.2019
Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) spricht auf einer Pressekonferenz in Wien
Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) spricht auf einer Pressekonferenz in Wien (Imago)
Macrons Vorschläge klängen an der Oberfläche gut, seien in Wahrheit aber vollkommen unmöglich, so Kurz. Um einen europaweiten Mindestlohn einzuführen, müsste man entweder die Standards in Ländern wie Österreich reduzieren oder Unsummen in die Hand nehmen, um dieselben Standards in anderen Staaten zu finanzieren. Für viele Länder sei es wirtschaftlich zudem ein Vorteil, dass die Löhne dort niedriger seien. "Glauben Sie, die deutsche Autoindustrie würde Produktionsstätten in Polen und in Ungarn eröffnen, wenn die Löhne eins zu eins so wären wie in Deutschland?", fragte Kurz im Deutschlandfunk.
Eine Vergemeinschaftung von Schulden sei sogar gefährlich. Kurz betonte, bereits jetzt achteten einige Länder nicht allzu genau auf ihr Budget, das sollte nicht belohnt werden. Er plädierte stattdessen für ein Europa mit wenigen Regeln, die dann aber von allen eingehalten würden.
Grundsätzlich begrüße der österreichische Bundeskanzler, dass Macron eine Diskussion über die Zukunft der EU angestoßen habe. Inhaltlich sei er aber in weiten Teilen deckungsgleich mit der Sichtweise von CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer, die bereits auf Macrons Vorschläge reagiert hatte.

Das Interview in voller Länge:
Dirk Müller: Das Echo ist wie immer geteilt, wenn Emmanuel Macron zur Feder greift. "Wir brauchen ein neues, modernes, zukunftsfestes Europa", schreibt der französische Staatspräsident. "Dazu gehören mehr Grenzschutz, eine Grenzpolizei, eine europäische Asylbehörde, ein europäischer Mindestlohn, eine gemeinsame Klimabank, eine Agentur zum Schutz der Demokratie – strenge Sanktionen gegen Unternehmen, die sich nicht an die Regeln halten." Sprich: Er fordert viel mehr Europa.
Annegret Kramp-Karrenbauer sieht das in weiten Teilen nicht so. Sie hat, vielleicht an Stelle der Kanzlerin, auf Emmanuel Macron an diesem Wochenende geantwortet. "Auf gar keinen Fall ein europäischer Mindestlohn", gibt die CDU-Chefin zu Protokoll, "auch keine Europäisierung der Sozialsysteme, keine Vergemeinschaftung von Schulden, kein europäischer Zentralismus." Sie will, dass die nationalen Regierungen weiterhin eine starke Stellung in der EU inne haben, und AKK will auch auf Straßburg als Parlamentssitz verzichten. "Zu teuer, zu aufwendig, viel zu hohe Kosten!" Kosten sparen, Konzentration auf Brüssel.
Vieles davon könnte auch der schwarz-blauen Regierung in Österreich gefallen. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) ist jetzt bei uns am Telefon. Guten Morgen nach Wien!
Sebastian Kurz: Schönen guten Morgen.
Müller: Herr Kurz, wie nervös macht Sie Emmanuel Macron?
Kurz: Um ehrlich zu sein: Gar nicht! Ich sehe es einmal grundsätzlich positiv, dass es eine Debatte zur Zukunft der Europäischen Union gibt, die er zweifelsohne auch ausgelöst oder mit ausgelöst hat. Vieles von dem, was er vorschlägt, finden wir positiv, wenn ich an einen besseren Außengrenzschutz, eine engere Partnerschaft mit Afrika oder die Besteuerung von Internetkonzernen denke. Aber es gibt auch einiges, was wir ablehnen, und insofern sind wir sehr froh über die Antwort von Annegret Kramp-Karrenbauer, weil wir inhaltlich in weiten Teilen deckungsgleich mit ihrer Sichtweise sind.
"Viele der Vorschläge sind utopisch"
Müller: Was lehnen Sie ab?
Kurz: Zunächst einmal glaube ich, dass viele der Vorschläge utopisch sind, wenn ich an eine Sozialunion denke, an einen europaweiten Mindestlohn. Wir haben ganz unterschiedliche Sozialstandards. Der Mindestlohn in Österreich oder in Deutschland ist teilweise ein Vielfaches vom Durchschnittseinkommen in anderen Staaten. Die Mindestsicherung in Österreich ist doppelt so hoch wie das Durchschnittseinkommen in Ländern der Europäischen Union. Insofern glaube ich, dass diese Vorschläge sehr realitätsfern sind, denn entweder wir müssten unsere Standards deutlich reduzieren, oder wir müssten Unsummen in die Hand nehmen, um dieselben Standards anderswo zu finanzieren.
Müller: Andererseits, wenn ich hier unterbrechen darf: Die Waren fließen frei hin und her. Die Produktion tut das auch. Warum dann nicht die Löhne?
Kurz: Weil das ein absolut unrealistischer Zugang wäre. Wir haben einfach schlichtweg ganz andere Standards und es ist wirtschaftlich für viele dieser Staaten ein großer Vorteil, dass die Löhne niedriger sind und sich darum dort Produktion ansiedelt. Glauben Sie, die deutsche Autoindustrie würde in Ungarn oder in Polen Produktionsstätten eröffnen, wenn die Löhne eins zu eins so wären wie in Deutschland?
Müller: Das ist schlecht für die deutschen Arbeitnehmer.
Kurz: Na ja, das ist eben Wettbewerb! Das ist eben Wettbewerb! Aber ein anderes System würde doch bedeuten, dass die Deutschen oder die Österreicher einen Mindestlohn anderswo finanzieren sollten, der jetzt vielleicht um ein Drittel oder ein Viertel nur vorhanden ist. Oder Sozialsysteme finanzieren, wo auf einmal dann der Mindeststandard für Menschen, die nicht arbeiten gehen, doppelt so hoch ist wie das Durchschnittseinkommen in diesen Ländern. Rumänien hat eine Familienbeihilfe, die beträgt ungefähr ein Fünftel der österreichischen Familienbeihilfe. Da sieht man schnell, wenn man das diskutiert, dass das vielleicht an der Oberfläche gut klingt, aber in Wahrheit vollkommen unmöglich ist.
Das geht Hand in Hand mit dem Vorschlag der Vergemeinschaftung von Schulden, und das halte ich für wirklich gefährlich. Denn es ist jetzt schon attraktiv für Staaten, Schulden zu machen und nicht allzu genau auf das eigene Budget zu achten. Wenn dann noch die Schulden von allen anderen einfach so übernommen werden, wird eine Verschuldung der Staaten nur noch attraktiver, und das sollte wirklich nicht die Richtung sein, in die wir uns entwickeln.
"Europa wird dann stabiler, wenn sich alle an die Regeln halten"
Müller: Das war ja, Herr Bundeskanzler, eine Diskussion auch um die Eurobonds. Die Franzosen haben das immer gepusht. Die haben gesagt, die anderen Staaten müssen helfen. In Griechenland hat man geholfen. In vielen anderen Fällen, Portugal und so weiter, hat man ja auch geholfen. Wird Europa nicht dann stabiler, wenn die Staaten, die schwächeln, wissen, dass sie letztendlich aufgefangen werden?
Kurz: Europa wird dann stabiler, wenn sich alle an die Regeln halten. Ich glaube, wir brauchen nicht immer mehr Regeln, Regulierung und Bürokratie in Europa. Aber die wenigen Regeln, die wir uns selbst gegeben haben, die sollten eingehalten werden. Wenn Dublin ausgehöhlt oder aufgekündigt wird, bevor es neue Regeln zur Migration gibt, dann entsteht Chaos so wie im Jahr 2015. Und wenn sich Staaten nicht an die Maastricht-Kriterien halten und sich überschulden, dann ist das gefährlich für die Staaten, und wenn es große Staaten sind, vielleicht sogar für den Euro und die Europäische Union. Insofern plädieren wir für ein Europa mit möglichst wenig Regeln. Aber die, die wir uns selbst gegeben haben, die, die wir uns gut überlegt haben, die, die auch viel machen, die sollten endlich von allen eingehalten werden.
Zur Schuldenpolitik: Es gibt Länder wie Griechenland, denen wir helfen mussten. Das ist richtig! Aber vergessen Sie nicht die Länder wie Irland und andere, die selbst Reformen gemacht haben, die selbst die Dinge unter Kontrolle gebracht haben und die heute deutlich besser dastehen, die ein höheres Wirtschaftswachstum haben als viele andere Staaten in der Europäischen Union, und die sich durch Reformen selbst irgendwie aus der Krise gezogen haben.
Müller: Das wäre ja vielleicht für Frankreich auch eine Möglichkeit, Herr Kurz. Haben Sie schon mal mit Emmanuel Macron von Regierungschef zu Präsident gesprochen und gesagt, es wäre schön, wenn die Franzosen zur Abwechslung mal das Haushaltsdefizit einhalten würden?
Kurz: Wir haben schon oft darüber gesprochen. Österreich war auch das Land, das ganz vehement von den Italienern eingefordert hat, die Schuldenpolitik, die sie vorhatten, so nicht zu betreiben, und ich bin froh, dass die Kommission bei den Italienern hart geblieben ist und nicht nachgegeben hat.
Müller: Bei den Franzosen aber nicht!
Kurz: Ich hoffe, dass selbiges auch für ganz große Länder gilt, denn wenn es in der Europäischen Union Schule macht, dass sich große Länder die Regeln zurechtbiegen können und diese nur für kleinere angewendet werden, dann werden irgendwann auch die kleineren Länder die Regeln nicht mehr einhalten.
Müller: Wen meinen Sie mit den großen?
Kurz: Die ganz großen sind Deutschland und Frankreich. Das sollte man aus deutscher Perspektive doch wissen.
Müller: Ja, ja – war eine rhetorische Frage. – Sie meinen, beide Länder halten sich nicht an die Regeln, die Deutschen nicht an die Schuldengrenze und Frankreich nicht ans Haushaltsdefizit?
Kurz: Nein, das meine ich nicht, sondern die Franzosen halten sich nicht an die Defizitvorgaben. Bei den Italienern hat der Druck der Kommission gewirkt. Wir sind grundsätzlich als kleines Land der Meinung, dass einfach Regeln von allen eingehalten werden sollten, ganz gleich wie groß. Die Deutschen halten sich meiner Meinung nach im Regelfall an das, was in der Europäischen Union beschlossen und vorgegeben wurde.
Müller: Im Regelfall an die Regeln. – Herr Bundeskanzler, hat Sie das damals geärgert, als Jean-Claude Juncker – das ist immerhin der Chef der Europäischen Kommission – gesagt hat, na ja, wieder haben die Franzosen gegen das Haushaltsdefizit verstoßen, so sind halt die Franzosen? Ist das gute EU-Politik?
Kurz: Das liegt schon eine Zeit lang zurück und ist, glaube ich, jetzt nicht mehr das relevanteste Thema. Aber gut war das sicherlich nicht, denn was passiert, wenn man Großen Ausnahmen gewährt – die Kleinen fordern das genauso für sich ein –, und was passiert, wenn man Schuldenpolitik zulässt – mehr und mehr Staaten gehen diesen Weg, weil es einfach für Politiker angenehmer und einfacher ist, Geld zu verteilen als sparsam zu sein. Der Weg ist gefährlich und dass es geht, das haben wir zum Beispiel in Österreich gezeigt. Wir haben 60 Jahre ein Defizit gehabt. Wir haben 60 Jahre Schuldenpolitik gehabt in unserem Land und wir machen heuer das erste Mal einen Budgetüberschuss. Es ist anstrengend, man muss teilweise unpopuläre Reformen durchführen, aber es geht. Und Deutschland hat das ja vorgezeigt mit Überschüssen in den letzten Jahren, in mehreren Jahren hintereinander.
Müller: Aber die Staatsverschuldung ist immer noch hoch genug in Deutschland, liegt auch über den Kriterien.
Kurz: Die Staatsverschuldung ist hoch genug, wie in vielen anderen Staaten, aber es kommt doch schon auf den Willen und auf die Richtung an. Und dass es immer noch besser geht, da pflichte ich Ihnen bei. Aber wenn ich mir ansehe, dass Deutschland es die letzten Jahre geschafft hat, Überschüsse zu erzielen, während andere die Schulden ständig erhöht haben, dann würde ich sagen, dass Deutschland hier auf einem sehr guten Weg war. Wir schaffen es jetzt auch und einige andere Staaten auch. Man sollte nicht diejenigen belohnen, die bewusst einen anderen Weg gehen.
"Natürlich war das ein Schritt auf Theresa May zu"
Müller: Thema Europa, Macron und Annegret Kramp-Karrenbauer. Das war unsere Verabredung, Herr Kurz. Der Brexit-Vertrag ist mal wieder dazwischen gekommen – gestern Abend, heute Morgen mit dem Tenor in den Medien, auch von vielen Politikern, das sind Zugeständnisse gewesen aus Brüssel für Theresa May, dass sie vielleicht heute Abend bei der Abstimmung in London erfolgreich sein könnte. Unser Korrespondent hat eben gesagt, waren keine Zugeständnisse, im Grunde ist das alles Copy and Paste gewesen. Ich weiß jetzt nicht, inwieweit Sie alle Details schon sortiert haben, aber war das ein Schritt auf Theresa May zu, dass das doch vielleicht noch klappt?
Kurz: Natürlich war das ein Schritt auf Theresa May zu. Ich glaube, dafür braucht man sich auch nicht genieren oder entschuldigen, sondern niemand kann ein Interesse an einem hard Brexit haben. Niemand sollte sich ein No-Deal-Szenario wünschen. Insofern ist es nicht ein Fehler oder Schwäche, wenn Jean-Claude Juncker einen kleinen Schritt auf Theresa May zumacht, sondern es ist sinnvoll und richtig. Ich hoffe sehr, dass dieser zugegeben kleine, aber doch vorhandene Schritt dazu beiträgt, dass Theresa May die notwendige Unterstützung im Unterhaus erhält, denn dann ersparen wir uns ein No-Deal-Szenario, und das ist nicht nur besser für Großbritannien, sondern auch für die Europäische Union.
Müller: Jetzt haben wir ganz viele letzte Schritte und letzte Zugeständnisse notiert in den vergangenen Wochen und Monaten. War das jetzt das letzte Zugeständnis aus Brüssel?
Kurz: Ich bin kein Prophet und weiß deshalb nicht, wie die Abstimmung heute Abend ausgeht. Ich weiß, dass der Bewegungsspielraum in Brüssel und die Möglichkeit an Zugeständnissen sehr eingeschränkt ist. Insofern freut es mich, dass dieser kleine Schritt gestern Abend noch gelungen ist, und ich hoffe, dass er nun ausreicht, um eine Mehrheit für Theresa May sicherzustellen. Alles andere bringt uns schon gefährlich nahe an das Brexit-Datum, ohne ein ordentlich vorbereitetes Austrittsszenario fertig zu haben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.