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Offene Wunde Nahost. Israel, die Palästinenser und die US-Politik

Man kann es sich heute kaum mehr vorstellen. Aber noch bis in die 70iger Jahre galt der Staat Israel sowohl in Amerika als auch in Europa als herausragendes Beispiel einer jungen Demokratie, erschien als ein viel versprechendes Experiment mit einer ganz eigenen Form des demokratischen Sozialismus. Schließlich verkörperte die zionistische Kibbuz-Bewegung in Palästina eine genossenschaftliche Alternative zum privaten Grundbesitz. Seither aber hat sich die israelische Gesellschaft in dramatischer Weise verändert, haben sich die Koordinaten des politischen Systems weit nach rechts verschoben, muss man eine alle Bereiche umfassende Militarisierung des Staates konstatieren.

Oliver Fuchs | 24.05.2003
    Für den amerikanischen Linguisten Noam Chomsky stellt der Sechstagekrieg von 1967 den entscheidenden Bruch dar. Mit der faktischen Annexion der besetzten palästinensischen Gebiete habe Israel sein liberales Selbstbild unwiderruflich aufgegeben und jene repressive und in letzter Konsequenz imperiale Politik entwickelt, die ein erstes Mal 1982 mit der Besetzung des Libanon kulminierte. Damals verloren 20.000 Libanesen und Palästinensern durch die Bombardierungen der israelischen Luftwaffe das Leben, ermöglichte die Regierung Menem Begins das Massaker, das christliche Milizen in den palästinensischen Flüchtlingslagern von Sabra & Schatila verübten.

    Tatsächlich haben, wie Chomskys breit angelegte Analyse überzeugend darlegt, seit dem Sündenfall von 1967 alle israelischen Regierungen, - gleichgültig welcher der beiden führenden Parteien sie angehörten -, eine aggressive und expansive Siedlungspolitik betrieben, deren erklärtes Ziel es war, Fakten zu schaffen, die natürlichen Ressourcen in den besetzten Gebieten unter israelische Kontrolle zu bringen, die demographischen Verhältnisse zuungunsten der Palästinenser zu verschieben.

    Die israelische Besatzung hatte, was nicht überraschen kann, Demütigung und Erniedrigung zur Folge. Israels Pläne für die Palästinenser haben sich an den von Mosche Dajan formulierten Leitsätzen orientiert, die er vor 30 Jahren (..)äußerte: Israel solle den Flüchtlingen klar machen, dass "wir keine Lösung haben, und ihr wie Hunde weiterleben werdet, und wer gehen will, kann gehen". Auf Kritik antwortete er mit einem Satz Ben-Gurions: "Wer das zionistische Problem von einem moralischen Standpunkt aus angeht, ist kein Zionist. Er hätte auch den ersten Präsidenten Israels, Chaim Weizmann zitieren können, der das Schicksal von "einigen hunderttausend Negern" in der Heimat der Juden für "eine bedeutungslose Angelegenheit" hielt. Seit langem erdulden die Palästinenser Folter, Terror, Zerstörung von Eigentum, Verschleppung, Besiedelung ihres Territoriums und die Übernahme grundlegender Ressourcen, deren wichtigste Wasser ist.

    Unerbittlich legt Noam Chomsky den Grundwiderspruch der israelischen Staatsgründung frei, der die demokratischen Hoffnungen der liberalen Zionisten von Anfang an zur Illusion machen musste: dass – um es in den Worten der israelischen Journalistin Amira Hass auszudrücken -, "Demokratie für die einen Enteignung für die anderen" bedeuten musste. Chomskys unmittelbare Vertrautheit mit hebräischen Quellen ist für diese bestürzende Analyse von besonderer Bedeutung. Lakonisch konstatiert der Hebräist Chomsky, wie sehr die in der Landessprache geführte innerisraelische Debatte von dem in Englisch verfassten Diskurs der israelischen Öffentlichkeit differiert. Dieser diene vor allem dazu, das liberale Image Israels in den USA nicht zu beschädigen. Er transportiere dort mit großer Effizienz das Bild einer westlich orientierten Arbeiterpartei, die dem Obskurantismus und revisionistischen Zionismus des Likud gegenüber stehe.

    Vehement und mit einer Vielzahl von Zitaten widerlegt Chomsky die westliche Vorstellung, die Arbeiterpartei sei sehr viel mehr als der Likud für einen Ausgleich mit den Palästinensern eingetreten.

    Traditionellerweise haben die Zionisten der Arbeiterpartei im jordanischen König, nicht aber in der einheimischen Bevölkerung Palästinas, ihren Verhandlungspartner gesehen. Zudem ist die Ansicht, dass es letztlich die Araber sind, die anderswo ihre Heimat finden müssen, im zionistischen Denken tief verwurzelt und findet sich sogar bei Berl Katznelson, einem Helden des sozialistischen Zionismus, der für die meisten frühen Pioniere allmählich den Status eines säkularen "Rabbi" erlangte. Katznelson allerdings dachte eher an Syrien und den Irak als Zufluchtsort für die palästinensische Bevölkerung. Ähnliche Ideen sind von Chaim Weizmann, David Ben-Gurion und vielen anderen vorgetragen worden. Für Ben-Gurion, der einer weit verbreiteten Überzeugung Ausdruck verlieh, war daran "nichts moralisch Falsches", auch wenn der Transfer erzwungen werden musste, also Ausweisung bedeutete, war er doch der Meinung, dass die einheimische Bevölkerung – von der er offenbar wenig wusste und hielt – keine "emotionalen Bindungen" an das Land hegte.

    Chomskys Buch verstärkt den Eindruck, dass diese Ignoranz der jüdischen Siedler gegenüber den Palästinensern kein Zufall ist. Sie erscheint als ein gelegentlich sogar bewusstes Ausblenden der Unausweichlichkeit eines Konflikts, der nur als Reflex auf die nationalsozialistischen Verbrechen verstanden werden kann.

    Erst 1942 unter dem Eindruck des von den Deutschen mit industrieller Perfektion organisierten Massenmords an den Juden legte sich die zionistische Bewegung auf die Gründung eines jüdischen Staates fest. Nie wieder in einem Staat leben zu müssen, in dem man die prekäre Rolle einer verfolgten Minderheit hat, nie wieder ohnmächtig und ohne Möglichkeit zur Selbstverteidigung dazustehen, ein territoriales Refugium für alle Juden sicherzustellen: das wurde nach der Erfahrung der Schoah zur Triebfeder des Zionismus. Die geschichtliche Verantwortung Deutschlands für die Existenz Israels erstreckt sich damit auch auf diesen aus dem Trauma der Schoah geborenen Grundwiderspruch des jüdischen Staates. Für den deutschen Leser macht das Chomskys Buch zu einer tief deprimierenden Erfahrung.

    Israel ist ein jüdischer Staat mit einer Minderheit nicht-jüdischer Bürger. Es ist nicht der Staat seiner Bürger, sondern des jüdischen Volks, sei es in Israel oder in der Diaspora. Es gibt keine israelische Nationalität. Zwar wird gemeinhin behauptet, Israel sei nur in dem Sinne jüdisch, wie Großbritannien britisch ist, so dass jene, die – vergeblich – auf den Tatsachen beharren, dem jüdischen Nationalismus sein Recht absprechen, aber das ist einfach falsch. Ein Bürger Großbritanniens ist britisch, aber ein Bürger Israels, muss nicht jüdisch sein; das ist eine alles andere als triviale Tatsache, die auch durch Rhetorik nicht verdeckt werden kann.(..) Der grundlegende Widerspruch, der in der Idee eines demokratischen und jüdischen Staats liegt, tritt mit der zunehmenden Integration der besetzten Gebiete immer deutlicher zutage.

    Mit großer wissenschaftlicher Disziplin und unerschrockener Unparteilichkeit deckt Chomsky in einem halben Jahrhundert Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts das untergründige und gespenstische Fortwirken des Nationalsozialismus auf. Seine unheilvolle Wirkung spiegelt sich in rassistischen Strömungen des jüdischen Staates ebenso wie in dem darauf antwortenden antisemitischen Rassismus der Araber; als ob es keinen Endpunkt für das einmal geschichtliche Realität gewordene Verhängnis geben könne, als ob sich Rassismus, Genozid und Vertreibung unendlich fortsetzen müssten.

    Die Arme der Gefangenen mit Registriernummern zu versehen, ist eine offenbar weit verbreitete Praxis. Der Friedensbewegung angehörende Offiziere berichten, dass israelische Soldaten regelmäßig die Handgelenke arabischer Gefangener mit deren Personalausweisnummern beschriften. Zudem seien arabische Gefangene, die die Unterkünfte der israelischen Soldaten reinigen mussten, "nachts in eine kleine Zelle gesperrt und so geschlagen worden, dass viele von ihnen nicht mehr aufstehen konnten - Jugendliche, von denen die meisten noch nicht verurteilt worden waren und die aus Mangel an Beweisen freigelassen werden". In der Zeitschrift "Davar" klagt Aharon Geva: "einige von uns Israelis benehmen sich wie jene schlimmste Art von Antisemiten, deren Name hier nicht genannt werden kann, wie die Leute, die den Juden als untermenschliche Kreatur darstellten.

    Noam Chomskys Analyse wurde ursprünglich für eine amerikanische Öffentlichkeit geschrieben. Für den überzeugten Antikolonialisten ist das endlose Morden in Palästina nicht denkbar ohne die machtpolitischen Interessen der amerikanischen Außenpolitik. Die USA tragen als Schutzmacht und vor allem als Zahlmeister Israels in ganz anderer Weise als Deutschland Verantwortung. Die Geostrategen im Weißen Haus machten den jüdischen Staat mit der faktischen Ausdehnung der Monroe-Doktrin auf die Golf-Region zu einer Art Brückenkopf in einem Gebiet, das zwei Drittel der Welterdölvorkommen beherbergt. Das erklärt die massive Hochrüstung Israels durch die USA, die weit über eine Bewaffnung zur Selbstverteidigung hinausgeht. Chomskys Darstellung der amerikanischen Mittlerrolle im Nahostkonflikt ist vernichtend: nie haben die zahllosen Friedensinitiativen von Reagan bis Clinton wirklich ernsthaft die Rechte der Palästinenser in Erwägung gezogen, immer hat die US-Friedensrhetorik nur die massive finanzielle Unterstützung der israelischen Siedlungspolitik verdeckt, immer war es das amerikanische Veto, das Resolutionen zum israelischen Rückzug aus den besetzten Gebieten zu Fall brachte. Mit der Unterstützung der dominierenden Medien ist in Washington oder New York substantielle Kritik an der israelischen Besatzungspolitik zu einem mächtigen Tabu geworden, gibt es eine unheilvolle Allianz zwischen den reaktionärsten Kräften in beiden Ländern.

    Aber auch in Deutschland steht Chomskys Buch quer zu allen Lagern. Seine radikale Demontage der vorgeblichen Friedensbereitschaft der Arbeiterpartei und ihrer prominentesten Aushängeschilder Shimon Peres und Jitzhak Rabin muss alle verstören, die vor allem den offenen Radikalismus Ariel Sharons für das Scheitern des Oslo-Prozesses verantwortlich machen. Bestürzend auch das Urteil über das hierzulande von großen Erwartungen begleitete Abkommen. Es zeigt für Chomsky überdeutlich, wie sehr sich die Koordinaten verschoben haben, wie sehr es Israel und seiner amerikanischen Lobby gelungen ist, die öffentliche Meinung im Westen zu beeinflussen. Ein Blick auf die Landkarte würde genügen, um zu zeigen, dass es auf eine Übernahme des "Homeland-Modells" hinausläuft, wie es einst vom rassistischen Südafrika praktiziert wurde. Schon damals ging archaischer Rassismus bruchlos über in moderne kapitalistische Ausbeutung.

    Es ist so, als wenn New York State die Verantwortung für die Slums von South Bronx und Buffalo an lokale Behörden delegiert, während er die finanziellen, industriellen und kommerziellen Sektoren, die Viertel der Reichen und praktisch die ganze nutzbaren Ländereien und Ressourcen behält, mit Ausnahme einiger verstreuter Regionen, die er lieber jemand anderem überlässt (..). Abgesehen von privilegierten Schichten, die sich den neokolonialistischen Bedingungen anpassen, kann der Rest der Bevölkerung in den besetzten Gebieten eine Zukunft erwarten, die anderswo längst Gegenwart ist, wie etwa in Haiti, wo die Arbeiter für einige Cent die Stunde in US-amerikanischen Fabriken arbeiten, oder in China, wie die Menschen für ausländische Produzenten unter sklavenähnlichen Bedingungen schuften.

    Chomsky ist ein ebenso entschiedener Verfechter des Rechts auf Widerstand, wie er Gegner von Gewalt ist. Wer Gewalt anwendet, trägt nach seinen Worten immer die Beweislast, dass ihre Anwendung unvermeidlich war. Die Selbstmordattentate der Islamisten können diesen Beweis in seinen Augen ebenso wenig erbringen wie die blutige militärische Repression der israelischen Armee. Zur geschichtlichen Wahrheit aber, auf die Chomsky in diesem Zusammenhang hinweist, gehört aber auch dass terroristische Gewalt schon immer Bestandteil nationaler Befreiungsbewegungen war. Das gilt auch für die zionistische Bewegung, deren terroristische Aktivität vor und nach der Gründung des Staates Israel Chomsky in erschreckenden Details nachzeichnet.

    Michael Haupt hat das Buch handwerklich überzeugend übersetzt, dennoch leidet die deutsche Ausgabe unter den massiven Kürzungen, denen nicht nur viele der wichtigen amerikanischen Bezüge sondern auch das Vorwort von Edward W. Said zum Opfer gefallen sind. Völlig unverständlich aber ist der Wegfall des Kapitels über Israels Rüstung. In einer Zeit, da in den USA und auch hierzulande von der Gefahr eines "Zweiten Holocaust" durch die Selbstmordattentate gesprochen wird, ist es wichtig die realen Machtverhältnisse in Erinnerung zu rufen. Der Umfang des nuklearen und chemischen Waffenarsenal Israels jedenfalls führt eine solche Vorstellung ad absurdum.