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Ohne Anfang und Ende

Hannah, Gitti und Elschen kennen sich seit ihrer Kindheit in Leverkusen, als sie zur Strafe in der Schamecke des Klassenzimmers stehen mussten oder in Ferienlagern mithilfe des Liederbuchs "die Mundorgel" bunte Abende gestalteten. Die erwachsenen Frauen, heute um fünfzig Jahre alt, rätseln ihrer Vergangenheit nach. "Wir sind nicht elf Jahre nach dem Krieg geboren, sondern gestorben" heißt es provozierend in Friederike Kretzens neuem Roman "weißes Album".

Von Sabine Peters | 29.03.2007
    Das weiße Album ist einerseits die legendäre Schallplatte der Beatles, deren Musik in den sechziger, siebziger Jahren von vielen Jugendlichen als Zeichen für den Aus- und Aufbruch verstanden wurde. Ein weißes Album ist wörtlich genommen aber auch ein leeres Buch, das nach Bildern erst ruft - ähnlich wie die Vermisstenmeldungen, die die Kinder im Radio hörten. Das Land, in dem sie aufwachsen, besteht aus Straßen, die als "leer und versiegelt" beschrieben werden. Es besteht aus abwesenden Vätern und aus Müttern, die ihrerseits Vatertöchter sind, viel Zeit auf Friedhöfen verbringen und die ihre eigenen Kinder als Klotz am Bein empfinden. Das Leben wird mit der Fahrt auf einer "Geisterbahn" verglichen.

    In immer neuen Chiffren und Bildern zeigt Friederike Kretzen aus dem Blickwinkel der drei Freundinnen, wie die kriegserfahrene Generation der Eltern gleichzeitig mit dem Wiederaufbau ihre Vergangenheit löschte beziehungsweise versiegelte. Wie die Älteren damit also den eigenen Kindern einen Mangel an Wirklichkeit bescherten. Elschen, Hannah und Gitti liegen in einer Art Dornröschenschlaf, halb träumend, halb wachend. Sie sind allein auf einer leeren Landkarte und müssen sich selbst erfinden. Also wollen sie nach Moskau reiten. Also spielen sie Theater; Tschechows Stück von den drei Schwestern, das seinerseits davon spricht, wie drei Frauen in der Provinz von Moskau träumen und die Zeit ihnen verrinnt zwischen erstarrter Erinnerung und unmöglicher Zukunft.

    Elschen, Hannah und Gitti lesen als junge Frauen im Politarbeitskreis Lenin, sie hoffen auf die Revolution, die sie als ein Offenstehen deuten: Nichts soll in Abrede, aber Alles soll in Frage gestellt werden. Das ist das Programm von Friederike Kretzens Roman, wobei man das Wort "Programm" gleich zurücknehmen möchte: Wie die vorhergehenden Bücher ist auch das "weiße Album" die äußerst anspruchsvolle Arbeit daran, aus jeder Art von "Vor-Schreibung" eben gerade herauszutreten und einen Flimmerzustand herzustellen. Die Wörter und Sätze fallen einander ins Wort; sie fehlen in den drei Frauen, und umgekehrt: In den vorgefundenen Wörtern und Sätzen fehlen sie selbst. Einmal heißt es lakonisch: "Die Subjekte dieser Geschichte lückenlos unvorhanden". Und es hat den Anschein, dass der Engel der Geschichte, der nach einem Satz von Walter Benjamin rückwärts in die Zukunft treibt, den Blick entsetzt auf die Katastrophengeschichte der Menschheit gerichtet, dass dieser Engel jetzt festsitzt. Oder ist es der Engel der Verkündigung, der ebenfalls hier auftaucht? Oder eine der Töchter, die kein eingebildeter Engel sein soll und was auf die Flügel kriegt? Wie auch immer, im Schuppen ist ein Engel, die Eltern haben ihn dort angeleint.

    Friederike Kretzens Buch balanciert zwischen tiefem Ernst und einer Struppigkeit, die überraschende Momente von Komik zulässt. Der Text ist voller handfester wie poetischer Bilder: Ob die Großmutter auftaucht, die in der Küche auf ihrem Stuhl unter dem Kissen alte Butterbrotpapiere glatt sitzt, oder ob es um Seen geht, die als die Augen der Erde beschrieben werden. Und doch kennt dieser Text ein Bilderverbot. Wenn hier Faszination an Vergangenem geweckt wird, dann, um sie sofort zu unterbinden. Hier wird nichts breit ausgemalt, hier wird Geschichte als Geschichtetes allenfalls vorsichtig berührt. Damit wendet sich der Text inhaltlich wie formal gegen die gerade wieder aktuelle Aussöhnungs- und Normalisierungsideologie. Das Buch will es dem Leser nicht heimelig machen, auch nicht in Form einer Geschichte, in der man einen Identifikationsort fände. Wer im "weißen Album" eine nacherzählbare Handlung sucht, eine Entwicklung oder gar eine kathartischen Erfahrung über die Generationen hinweg, wird kein greifbares Ergebnis vorfinden.

    Friederike Kretzens Arbeit macht auch dem Leser Arbeit, sie hat viel gemeinsam mit der "absoluten Prosa", die Prosa mit lyrischer Sprache verschmilzt und Expressionen mehr aufzählt als erzählt, um den Realitätszerfall und das Auseinanderbrechen der Person sichtbar zu machen. Dabei stellt Kretzen allerdings keine Autonomie im konventionellen Sinn her: Die Körper der Personen sind bereits beschrieben; im Text werden sie noch einmal bearbeitet und verwandelt. Es geht ihr darum, Linearität zu durchbrechen. An die Stelle von Sicherheit verheißender Logik - auf A folgt B - an die Stelle von Kontinuität tritt Unzusammenhängendes.

    Bewegungen setzen an und brechen ab, es gibt Lücken und verwirrende Gleichzeitigkeiten. Dieser Zustand reicht bis in die Grammatik des Textes, der zwischen Präsenz und Imperfekt unvermittelt springt. Das Zirren zwischen den Zeiten, das Fließen von Assoziationen, die Lebendigkeit des Textkörpers transportieren allerdings Gewalt, Gefährdung, Todesversuchung und Todesdrohung. Die Stimmen der Toten wie die Gefühle der Eltern haben sich den Töchtern mitgeteilt. Sie selbst verkörpern eine unheimliche Wiederkehr von Wahnsinn, Schuld und Unglück. Franz Kafka hat einmal von der erdrückenden Aufgabe der "Elternrettung" durch ihre Kinder geschrieben. Davon weiß auch Friederike Kretzens Text. Dieses "Wissen" ist nichts Gesichertes, es artikuliert sich als ein stammelndes Raten, das immer schon von allen Seiten als "Verraten" empfunden wird. Die Kinder sollen wissen und doch nicht wissen. Sie sollen retten und haben verstanden, dass sie dafür am besten auf einem Altartisch geopfert werden müssten. Das Motiv von der Märtyrerin Ursula durchzieht den Text.

    Kretzen kommt mehrfach auf ein Bild des Malers Carpaccio zurück: Ursula liegt mit geschlossenen Augen, die Hand lauschend ans Ohr gelegt, im Bett. Ein Engel wird ihr das Martyrium prophezeien. Auf die Quaste des Kopfkissens ist das Wort "Infantia", Kindheit, gestickt. "Infans" - wörtlich übersetzt bedeutet es: Noch nicht sprechend, stumm sein oder lallend. Eben diesen Zustand inszeniert Friederike Kretzens Text. Gitti, Hannah und Elschen müssten das Zauberwort finden, die Beschwörung, die befreit, und sie gleichen doch vielmehr der Figur des Rumpelstilzchens, das sich zerreißt. So heißt es einmal, Zitat: "Und wie lautet dein Name? Klein, bucklig, beseelt vom Wunsch, zugehörig zu sein, und ausgestattet mit Fähigkeiten, die retten, aber nicht zählen." Was wäre die rettende Fähigkeit? Es ist die Rede dieses Textes selbst, ein traumverlorenes Sprechen an den Rändern der Verständlichkeit. Ein Sprechen, das erklärtermaßen in der Gefahr schwebt, sich in Abstraktion zu verlieren. Schuld, Unglück, Tod, die Wiederkehr des Verdrängten, das sind Begriffe, die vom Gegenständlichen absehen und die hier in Fluss geraten.

    Das "Weiße Album" ist ein maßloses Buch, gewissermaßen ohne Anfang und Ende; es unterläuft jede Erwartung, die man an einen "Roman" haben könnte. Aber wer sich auf seine vielfältigen Klänge und Anklänge einlässt, spürt die Musikalität, die Schönheit dieses Textes.

    Frederike Kretzen: "Weißes Album”
    (Verlag Nagel & Kimche)