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Oktave in der Musik
Musikalische Wahrnehmung hängt von der Kultur ab

Musik kommt in allen Kulturen vor, wird aber überall anders wahrgenommen. Forscher haben untersucht, ob es musikalische Konstanten über die verschiedenen Länder hinweg gibt. Bei einem Experiment überprüften sie, ob Angehörige eines Stammes aus dem bolivianischen Regenwald eine Oktave heraushören können.

Von Christoph Drösser | 02.12.2019
    Rückansicht eines Kopfes mit großen Kopfhörern
    Das Empfinden von Konsonanz und Dissonanz ist nicht naturgegeben (EyeEm / Paulien Tabak)
    "7 Seconds" von Neneh Cherry und Youssou N’Dour
    In diesem bekannten Popsong singen Neneh Cherry und Youssou N’Dour dieselbe Melodie, dieselben Töne. Oder? Nicht ganz: Sie singen mit einem Abstand von einer Oktave. Das tun wir oft, wenn Männer mit Frauen singen oder Erwachsene mit Kindern, einfach weil wir unterschiedlich hohe Stimmen haben.
    Eine Melodie, auf dem Klavier in unterschiedlichen Oktaven gespielt. Uns fällt das uns kaum auf, weil wir Töne, die eine oder mehrere Oktaven voneinander entfernt sind, als praktisch gleich betrachten. Wir benennen sie sogar gleich, hohes C, tiefes C und so weiter. "Oktaväquivalenz" nennt das die Wissenschaft. Ist das eine angeborene Sache, oder haben wir das gelernt? Natur oder Kultur? Um das herauszufinden, muss man Menschen finden, die mit unserer westlichen Musik noch nie in Kontakt gewesen sind. Und dazu muss man weit reisen, sagt der israelische Hirnforscher und Mathematiker Nori Jacoby, der am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt arbeitet. Etwa nach Bolivien:
    "Diese Dörfer waren sehr abgelegen, und wir kamen mit dem Kanu oder dem Flugzeug oder Geländewagen dorthin. Die Menschen dort hatten eine ganz andere musikalische Erfahrung als unsere amerikanischen Teilnehmer."
    Musikwissenschaftliche Experimente im Regenwald Boliviens
    Jacoby gehört zu einer am Massachusetts Institute of Technology beheimateten Gruppe von Forschern, die sich immer wieder in den bolivianischen Regenwald aufmacht, um mit dem Stamm der Tsimané musikwissenschaftliche Experimente zu machen. In früheren Versuchen haben sie zum Beispiel schon gezeigt, dass diese Ureinwohner nicht unser Verständnis von konsonanten und dissonanten Klängen teilen – offenbar ist Wohlklang eine gelernte Empfindung.
    "Sie haben keine Vorliebe für bestimmte Intervalle. Für sie klingen ein Tritonus oder eine Quinte oder eine Quarte irgendwie alle gleich angenehm. Das heißt nicht, dass sie die Intervalle nicht hören, sie sind nicht taub. Konsonanz und Dissonanz sind einfach nicht Teil ihrer Erfahrung, sie hören nicht wie wir."
    Das undatierte Handoutbild zeigt ein Tsimanesdorf im Bolivianischen Amazonas am Fluss. 
    In einem Tsimanésdorf wurden die Musik-Experimente durchgeführt (picture-alliance / dpa / The Lancet journals / Ben Trumble)
    Diese Konsonanz und Dissonanz spüren wir besonders, wenn die Töne zusammen gespielt werden. Eine Quinte oder eine Quarte empfinden wir in der westlichen Musikkultur als angenehm, bei anderen Intervallen reiben sich die Töne.
    Wir tendieren dazu, das natürlich zu finden, es hat doch etwas mit den Schwingungsverhältnissen der Frequenzen zu tun. Aber vom Studium anderer Kulturen, etwa in Indien und Indonesien, wissen wir, dass nicht einmal unsere Tonleitern natürlich vorgegeben sind, diese Völker haben oft Skalen, die für unsere Ohren sehr fremd klingen.
    Westliche Tonleitern sind nicht natürlich vorgegeben
    Die Oktave ist das einfachste Intervall, die beiden Töne sind so verwandt miteinander, dass wir sie als praktisch gleich empfinden und ihnen denselben Namen geben. Und es gibt einen simplen physikalischen Zusammenhang.
    "Oktaven haben etwas mit Akustik zu tun. Wenn zum Beispiel zwei Saiten dieselbe Spannung haben, und eine ist doppelt so lang wie die andere, dann klingt der Ton eine Oktave tiefer."
    Um herauszufinden, ob die Tsimané Oktaven so empfinden wie wir, machten die Forscher ein Experiment: Sie spielten Probanden in den USA und im Regenwald Tonintervalle vor, die sie nachsingen sollten. Allerdings waren sie zu hoch für ihre persönliche Tonlage.
    "Wenn westliche Probanden, insbesondere mit großer musikalischer Erfahrung, Töne hören, die höher als ihre Stimmlage sind, dann transponieren sie sie ein paar Oktaven herunter, um sie singen zu können. Das ist die Oktav-Äquivalenz. Aber unsere Tsimané-Probanden haben das ignoriert. Sie haben das Intervall zwischen den Tönen reproduziert, aber die Melodie nicht im Oktavabstand transponiert."
    Oktavabstand hat für Tsimané keine Bedeutung
    Die bolivianischen Ureinwohner geben die Intervalle, den Abstand zwischen den Tönen, korrekt wieder, aber sie scheren sich wenig darum, in welcher Tonlage sie singen. Der Oktavabstand hat für sie keine besondere Bedeutung. Woran liegt das? Die Musik der Tsimané, sagt Jacoby, kennt keine Mehrstimmigkeit, man singt auch nicht viel zusammen. Deshalb haben diese Menschen keinen ausgeprägten Sinn für das, was wir Harmonie, Konsonanz und Dissonanz nennen. Und wenn sie einmal zusammen singen, kommt es nicht darauf an, dass sie auf demselben Ton beginnen. So exotisch ist das gar nicht – Nori Jacoby kannte das Phänomen aus seiner Heimat.
    "Ich bin in Israel aufgewachsen und viel in orthodoxe Synagogen gegangen. Die Menschen dort singen nicht unbedingt unisono, sie scheren sich nicht um die Tonlage und erzeugen eine Art Tonwolke."
    Musik ist universell, es gab sie zu allen Zeiten und in allen Weltregionen. Aber sie ist sehr unterschiedlich ausgeprägt, und vieles, was wir als von der Biologie oder der Physik als vorgegeben betrachten, ist in Wirklichkeit ein Produkt unserer jeweiligen Kultur. Diese aktuelle Forschung zeigt: Nicht einmal die für uns so selbstverständliche Äquivalenz von Oktaven scheint ein naturgegebenes Phänomen zu sein.