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Oktoberrevolution
Erinnerung voller Widersprüche

Vor 100 Jahren übernahmen die Bolschewiken mit Wladimir Lenin an der Spitze die Macht in Russland. Die Revolution nahm ihren Lauf. Heute wird in Russland an vielen Orten an die Ereignisse und ihre Folgen erinnert: Eine Mischung aus Nostalgie und vielen offenen Fragen.

Von Thielko Grieß | 07.11.2017
    Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution: Wladimir Lenin auf Leinwand projiziiert.
    Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution (Thielko Grieß)
    Vor 100 Jahren wäre Irina Grigorjewna vermutlich im Strom mitgelaufen, immer in Richtung Winterpalast, um ihn zu stürmen. Heute steht die 70 Jahre alte Frau in dicker Jacke unbeirrt allein gegen den Strom und streckt den herandrängenden Menschenmassen ihre Zeitung entgegen. Es ist Abend, aus dem dunklen Himmel fallen kühle Tropfen. Sankt Petersburg am Samstag.
    "Das ist die Zeitung der marxistisch-leninistischen Bewegung, die gehen sehr schlecht weg. Vor allem alte Leute nehmen sie, ihnen ist die kommunistische Moral noch nah. Aber junge Leute sind schon so von bourgeoiser Propaganda beeinflusst, dass sie fast nicht mehr auf die kommunistische Idee reagieren."
    "Nein, nein, nein..."
    Die stramme Kommunistin hegt für Lenin und Stalin uneingeschränkt Bewunderung. "Natürlich! Wie kann man Stalin nicht respektieren, hat er doch das Programm, das die Bolschewiken unter Leitung von Lenin entwickelt hatten, vollkommen umgesetzt? Leider haben sie ihn später allein gelassen." Was rechtfertigt Zehntausende Hinrichtungsurteile, die Stalin unterschrieben hat? "Nein, nein, nein ..." - in ihrer Zeitung stehe ja, dass das nicht stimme, bleibt Irina standhaft.
    Hinter ihrem Rücken beginnt das Licht-Festival: Zeitungen aus dem Februar vor 100 Jahren verbreiten die Nachricht, der russische Zar habe abgedankt. Dutzende Strahler, Projektoren und mächtige Tontechnik erleuchten und beschallen die Eremitage und das ihr gegenüberliegende, frühere Gebäude des Generalstabs, deren Fassaden als riesige Leinwände dienen. 1917, das Jahr zweier Revolutionen im Februar und Oktober, ein Jahr von Hungersnöten, Streiks, Weltkrieg und Aufständen; alles innerhalb einer knappen Viertelstunde zu sehen. Zeilen des Dichters Alexander Blok, niedergeschrieben vor 100 Jahren, schlagen schließlich den Bogen ins Heute: "Russland wird viel Leid, Erniedrigungen und Teilungen durchleben, aber durch diese Erniedrigungen kommt es neu und groß heraus." Im letzten Bild leuchtet das Gebäude in den russischen Farben; eine verhältnismäßig kleine Dosis Patriotismus und Pathos.
    "Jeder hat seine eigene Meinung"
    Trotz allen Lichts: Im Dunkel bleibt, welche Folgen die Oktoberrevolution für das Land hatte. Ausweichend äußert sich diese Zuschauerin, stellvertretend für viele: "Jeder nimmt das auf seine Weise wahr. Der eine meint, dass die Revolution notwendig gewesen sei, der andere hält sie für einen unüberlegten, unnötigen Schritt. Jeder hat dazu seine eigene Meinung."
    Der Chinese Gao Ao ist auf der "Roten Route" unterwegs
    Der Chinese Gao Ao ist auf der "Roten Route" unterwegs (Thielko Grieß)
    Die Bolschewiken haben mehr als nur Russland umgekrempelt, haben im Namen einer Ideologie Millionen terrorisiert und getötet, aber auch Nazi-Deutschland niedergekämpft, wurden Weltmacht. Zu dieser Ambivalenz hält der Kreml Distanz, am Jahrestag soll es keine offizielle Feier geben.
    Unterwegs auf der "Roten Route"
    Wer Eindeutigkeit sucht, findet sie zum Beispiel am Sonntag in einer Reisegruppe ganz in der Nähe der des Roten Platzes in Moskau. "Ich bin Gao Ao" - aus Peking, 27 Jahre alt. Er trägt lässige Jeans und einen warmen Pullover. Gemeinsam mit einer Gruppe von rund 30 weiteren Chinesinnen und Chinesen ist er in Russland entlang der "Roten Route" unterwegs, einer populären Reiseroute auf den Spuren der Bolschewiken.
    Für Gao Aos Gruppe hat das russische Tourismusunternehmen UTS alles organisiert. Die Reiseleiterin verteilt rote Nelken, die die Gruppe gleich am Grabmal des Unbekannten Soldaten niederlegen will. "In unserer Familie sind alle Kommunisten, deswegen ist die Oktoberrevolution unsere traditionelle Familienfeier. In meiner Kindheit habe ich mir viele Filme über Sozialismus und Marxismus angeschaut, was mich tief durchdrungen hat. Weil der Kommunismus den Menschen Glück bringt, sollte er sich überall entwickeln."
    Der Anlass eint
    Gao Aos Glück ist heute, dass sich um ihn herum Kommunisten aus mehr als 100 Ländern in Feierlaune versammeln. Sie eint der Anlass, doch sie meinen Unterschiedliches: Argentinier besingen lateinamerikanischen Kommunismus, Türken rufen zum bewaffneten Kampf auf und Katalonier sprechen darüber, wie sie die Zentralregierung in Madrid loswerden. In der Menge stehen auch ein paar Leute in Funktionsjacken beieinander. "Ich bin Antifaschist, und aus dem Grund bin ich hier."
    Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg (Petrograd) am 7. November 1917.
    Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg (Petrograd) am 7. November 1917. (picture-alliance / dpa / UPI)
    Hans Brenner aus Fürth in Franken hält eine Art Wandteppich mit dem Porträt Ernst Thälmanns hoch, einem während der Nazi-Zeit erschossenen deutschen Kommunisten. Heute in Moskau zu sein, bewege ihn. "Ohne die Rote Armee würden wir hier nicht stehen. So einfach ist es. Und das dürfen wir nie vergessen. Wir erleben es ja jetzt, dass eine Partei mit fast 13 Prozent in den Bundestag eingezogen ist, die offen rassistisch, nationalistisch, mit faschistischen Tönen durchsetzt ist. Das ist doch traurig, oder?" Dass die AfD gute Kontakte zur russischen Regierung haben soll, will er nicht kommentieren.
    "Wir sind sehr beeindruckt"
    Die Nelken sind niedergelegt und bald danach müssen auch die roten Fahnen abgelegt werden, am Eingang zum Lenin-Mausoleum. Vor dem wachsbleichen Leichnam verneigen sich die Chinesen in Andacht und Demut. Gao Ao aus Peking, unterwegs auf Roter Route, ist ergriffen: "Wir haben Lenin, unseren Revolutionsführer, einen sehr wichtigen Menschen, gesehen. Wir waren in Sankt Petersburg, jetzt sind wir in Moskau. Wir konnten die kommunistischen Stimmungen vergleichen. Wir sind sehr beeindruckt."
    Kaum aus dem Mausoleum herausgetreten, fordert die Polizei die Kommunisten per Lautsprecher dringlich dazu auf, den Roten Platz schleunigst zu verlassen, weil er gesperrt werde. Das, denkt man, hätte es vor ein paar Jahrzehnten so auch noch nicht gegeben.