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Olivier Rolin: "Baikal-Amur. Ein Reisebericht"
Per Zug durch russische Lebenswelten

Reise in die Vergangenheit: Der französische Autor Olivier Rolin begibt sich in "Baikal-Amur" auf eine 4.300 Kilometer lange Zugfahrt durch Russland. Dabei verwebt er die Geschichte Russlands kunstvoll mit dessen widersprüchlicher Gegenwart - literarisch, manchmal launisch, doch immer historisch genau.

Von Cornelius Wüllenkemper | 24.10.2018
    Buchcover: Olivier Rolin: „Baikal-Amur. Ein Reisebericht“
    Monument stalinistischen Terrors: Die Eisenbahnstrecke Baikal-Amur Magistrale - von Gulag-Häftlingen erbaut (Buchcover: Verlagsbuchhandlung Liebeskind, Hintergrundfoto: dpa/TAR-TASS /Maxim Kashirin)
    Seit fast 35 Jahren widmet sich Olivier Rolin den Spuren von Diktatur und Gewaltherrschaft. So auch in seinem Reisebericht über eine Zugfahrt vom Baikalsee bis zum Pazifik. Die so genannte Baikal-Amur Magistrale ist eine 4.300 Kilometer lange Zugverbindung und mit 2.230 Brücken, 212 Bahnstationen und unzähligen Tunnels zugleich ein Monument des stalinistischen Terrors. Hunderttausende Gulag-Häftlinge wurden ab den 1930er Jahren zur Arbeit an der Gleisstrecke gezwungen, die Sibirien ans Schienennetz anbinden sollte. Unzählige Arbeiter bezahlten bis zur endgültigen Fertigstellung des Mammutprojekts 1984 mit ihrem Leben. Eine Vergangenheit, die Olivier Rolin während seiner Reise Station für Station dem Vergessen entreißt.
    "Lager und Massengräber sind eine Konstante in der russischen Landschaft, die sie - wenn auch meist ausradiert - unter der Oberfläche birgt: Vielleicht ist es ermüdend, wenn ich es wiederhole, aber es geschieht zu Recht, und darauf, dass die Behörden es tun, braucht man nicht zu zählen. Dabei ist es nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit: Ich meine, man begreift Russland nicht, wenn man dieser Signatur des Terrors in der Landschaft - der städtischen, industriellen und sogar der natürlichen Landschaft - keine Beachtung schenkt. Viele Russen wären mit dem, was ich sage, nicht einverstanden, aber ich glaube, dass sie Unrecht haben, dass aus dem Willen zu vergessen nichts Gutes für sie erwächst."
    Sympathie für das Unperfekte
    Kritische Reflektionen über die russische Gegenwart ändern keineswegs Rolins tiefe Verbundenheit mit den Bewohnern und der faszinierenden Weite des Landes. Er ärgert sich über unwirsche Hotelangestellte, denen das Gulag-System "für Generationen die Achtlosigkeit gegenüber Menschen einpflanzte", während er an anderer Stelle die Höflichkeit und Großzügigkeit der Russen rühmt, die einem dort viel häufiger begegne als bei uns. "Baufällig", "abgewirtschaftet, "verfallen", "klapprig", "trostlos", "heruntergekommen" - das sind die Vokabeln, mit denen Rolin die Städte entlang der Zugstrecke beschreibt. Zugleich hegt er gerade für das Unperfekte und die Anspruchslosigkeit im Alltag größte Sympathien. Rolins Text scheut keine Widersprüche und macht ihn als Reisebericht dadurch umso eindringlicher. Neben historische Rückblicke auf Reisende und Literaten, die sich mit diesen vom Weltgeschehen fast vergessenen Landschaften bereits vor ihm beschäftigten, stellt Rolin dokumentarische Berichte über Begegnungen in der Gegenwart, etwa auf der 37stündigen Fahrt von Tynda nach Komsomolsk.
    "In den Dörfern überleben die Menschen nur Dank ihres Gemüsegartens. [...] Es gibt keine Arbeit, also trinken sie, aus Verzweiflung. Ich habe die Leute so häufig auf diese Weise reden gehört, dass ich nicht richtig verstehe (Tricksereien bei den Wahlen beiseitegelassen), warum Wladimir Putin so populär ist. Ich verstehe es nicht richtig, aber ich weiß auch, dass ich, indem ich so denke und es sage, ungewollt eine sehr westliche Überzeugung zum Ausdruck bringe, obwohl ich sie nicht teile, dass nämlich Politik letztendlich eine rationale Sache sei. In Wirklichkeit glauben wir nicht positiv an die Vernunft in der Politik, sondern aus Mangel an Alternativen, weil wir uns bemühen, alles Leidenschaftliche aus der Politik herauszuhalten, und weil das, was wir ,Vernunft' nennen, ökonomische Kennzahlen sind. Doch unserer Auffassung entgegen zählt in Russland die Leidenschaft, beispielsweise der Patriotismus, ja sogar der Nationalismus [...]. Selbst jemand, dessen Großvater von Stalin ermordet wurde, hängt irgendwo in seiner Wohnung ein Stalin-Portrait auf."
    Unprätentiös und überzeugend
    Als Leser steht man bei Rolins manchmal launischen und immer unterhaltsamen Betrachtungen an der Seite eines ebenso scharfsinnigen wie liebenswürdigen Reisenden. Er will weder von seiner Meinung überzeugen noch mit spektakulären Berichten Leser gewinnen. Vielmehr schreibt Rolin unprätentiös und überzeugend, historisch genau und äußerst belesen, und doch zweifelt er immer wieder an absoluten Standpunkten und vermeintlichen Wahrheiten. Der geradezu freundschaftliche Erzählton, der übrigens auch in der Übersetzung von Holger Fock und Sabine Müller unverkennbar ist, ist Ausdruck einer wichtigen Voraussetzung für eine erkenntnisreiche Reise: der Bereitschaft zuzuhören. So verdeutlicht etwa ein beiläufig skizziertes Gespräch mit einem Lokführer in Ost-Sibirien die Lebensrealität derjenigen Russen, die sich insgeheim einen "neuen Stalin" wünschen, der dem Land wieder auf die Beine helfen möge.
    "Igor ist ruhig, nachdenklich, und er versteht die Welt, in der er lebt, auch nicht mehr. ,Warum arbeiten die Leute heutzutage nicht mehr gern?', fragt er sich. ,Sie haben nicht anderes im Kopf, als schnell nach Hause zu kommen und sich vor den Fernseher zu setzen.' Er hat tausend Fragen und findet keine Antwort. [...] Der Zustand der Straßen, die Tatsache, dass Russland, obwohl es so groß ist, seine Lebensmittel nicht selbst erzeugen kann und sie aus Europa importiert und jetzt wegen der Sanktionen nicht mehr importiert.Das alles komme ihm rätselhaft und besorgniserregend vor. Er spricht darüber voller Ernst. Und er hat Recht, es ist vielleicht nicht völlig rätselhaft, aber mit Sicherheit besorgniserregend."
    Abenteuerfahrt durch die russische Gegenwart
    Olivier Rolin spürt in den kleinsten Begegnungen und Beobachtungen den großen Erkenntnissen, den politisch-gesellschaftlichen Bruchstellen und scheinbar unlösbaren Widersprüchen Russlands nach. Der Reisebericht "Baikal-Amur" webt ein literarisches Netz aus Assoziation, Reflektion, Dokumentation und der unverhohlenen Subjektivität seines Autors. Rolins Reise im Zug, dem "Transportmittel in die verlorene Zeit", wie er schreibt, entpuppt sich als Abenteuerfahrt durch die ebenso verstörende wie faszinierende Lebenswelt der russischen Gegenwart.
    Olivier Rolin: "Baikal-Amur. Ein Reisebericht"
    Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
    Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München. 187 Seiten, 20,00 Euro.