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Opernpremiere
Leiden in der Provinz

"Jenufa" ist auf den ersten Blick ein grausames Stück, in dem es um Ehren- und Kindesmord geht. Die Schande einer unehelichen Schwangerschaft kann die junge Frau nur durch Heirat abwenden, doch es kommt schlimmer. Die Oper von Leos Janacek feierte jetzt Premiere im Landestheater Detmold.

Von Frieder Reininghaus | 08.02.2014
    Außenansicht auf das Landestheater in der nordrhein-westfälischen Stadt Detmold.
    Das Landestheater in der nordrhein-westfälischen Stadt Detmold (dpa / Willi Gutberlet )
    Gefangen in Moral- und Wertvorstellungen geht es in dem im Jahr 1904 uraufgeführten Stück um soziale und seelische Konflikte. In der Oper ertränkt die Stiefmutter Jenufas und Küsterin des Dorfes das uneheliche Kind. Der Komponist Leos Janacek wusste, wovon er im Jahre 1895 zu komponieren begann, denn er selbst verlor zwei Kinder.
    Nicht nur der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Auch der ins neue Opernjahr. In dem stützen die großen Staatsopern von London bis Budapest ihr Angebot auf das "Bewährte", die kleineren Häuser erproben neue Wege und Gesichter. Gerade dort sollten und können Chancen wahrgenommen und auf Risiken eingegangen werden. Also sind auch Abstecher nach Bremen angesagt (wo sich eine fulminante "Bohème" outete), nach Aachen (das einen großformatigen "Don Carlos" verspricht) und nach Düsseldorf (das den gottgesandten Schwanenritter Lohengrin gegenwartsorientiert zum Staatsbankretter schrumpfen ließ). Oder eben eine Landpartie nach Detmold. Dort spürte Dirk Schmeding mit Janaceks "Jenufa" auch einer "Klassikerin" nach.
    Die Schulklassen, die nach dem Ende der Premiere die Köpfe zusammensteckten, hatten praktische Verständnisfragen: Warum z. B. steht die "alte Buryja", die sich eine Zigarette nach der anderen ansteckt, so viel jünger aus als ihre Tochter, die Küsterin, die motiviert von einer Melange aus Bigotterie, Ehrpusselei und ehrlicher Sorge um Jenufas Lebensglück, deren unehelich geborenes Kind umbringt? Die nahe liegende Antwort wäre gewesen: Dass sich das kleine Theater nach der personellen Decke strecken muss und in einer ungebrochen quasi-realistischen Inszenierung dann derart Widersinniges auftaucht. Weithin sah man Sängerinnen, denen wohl freier Lauf gelassen wurde, bei den von ihnen bei den Altvorderen aufgeschnappten Gesten, die ausgesungenen Erregungs-, Ermattungs-, Belustigungs- und Verzweiflungszustände unterstreichen sollen, aber mit denen der heutigen Lebens- oder Fernsehwelten wenig zu tun haben. Solches Laissez-faire soll man einem kleinen Theater in Ostwestfalen nicht ankreiden, solange es an den ersten Häusern Europas und Nordamerikas zum Standard gehört. Während es dort allerdings durch ein überaltertes Kernpublikum ökonomisch fundiert erscheint, gibt es keinen erkennbaren Grund, die Augen der zahlreichen 15-Jährigen im Publikum auf analoge Weise zu erziehen.
    Deftig drehte das Orchester auf. Unter den Schlägen von Lutz Rademacher ging es zur Sache, als müsse es die Jahrhunderthalle in Bochum samt Vorplatz beschallen. Da konnten die Protagonisten nicht zurückstehen und sollten es wohl auch nicht: Ewandro Stenzowski als Frauenheld und reicher Erbe Steva, dessen Stimme gebührend prahlt, Heiko Börner, der den vom Leben benachteiligten Laca mit sympathischem Tenor, aber auch Überdruck beglaubigt. Andrea Baker, die die Glaubens- und Gemütslage der Küsterin ausdrucksstark herausprozessiert und Jana Havranova in der Titelpartie sind gleichfalls mit einem Nachdruck bei der Sache, der für die präzise Stimmführung nicht immer hilfreich erscheint.
    Susanne Ellinghaus gelang ein klares drittes Bild für die Hochzeitsvorbereitungen der auf Umwegen zustande gekommenen Paare: Schwarz und leer lauert die Bühne – nur eine breite weiße Girlande zeigt sich als deutende Dekoration. Drei Stapel weiße Plastikgartenstühle werden drapiert. Zuvor präsentierte sich die rückständige Bauernwelt im Mähren der späten K&K-Zeit in Kleidung der 1980er-Jahren, als dynamische junge Frauen Overalls als Kampfanzüge trugen und beim Geschirr-Abwaschen an Plastikwannen standen. Warum gerade "Jenufa", die doch belesen ist und die anderen rings um sich her aufklärt, das Schicksal ereilt, vor der Zeit ein Kind zu bekommen, sich im Zuge dieser angeblichen "Schande" der christkatholischen Familienpolitik der Küsterin unterwirft und nicht, wie vom Libretto in Aussicht gestellt, nach Wien geht, bleibt unerklärt. Vielleicht müsste die Geschichte, um im theaterrealistischen Sinn wieder plausibel zu werden, ins Milieu einer heutigen Parallelgesellschaft gerückt werden, in der die Ehre der jungen Frauen auf die gehabte Weise zur Disposition steht und die Gewalt gegen deren legitimen Lebensinteressen noch der Brauch ist.