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Opioid-Krise in den USA
Dealer im weißen Kittel

Der Abstieg in die Drogen hat für tausende US-Amerikaner mit opioidhaltigen Schmerzmitteln begonnen. Besonders dramatisch ist die Lage in Tennessee. Dort kommen auf 100 Personen 94 Rezepte. Auch Claire Patterson wollte eigentlich nur ein Medikament gegen Migräne - und wurde abhängig von Heroin.

Von Sabine Adler | 07.12.2019
Ein Arzt hält Tabletten in der Hand.
Oft begann es mit Zahnschmerzen oder einer Knieoperation: Viele US-Amerikaner leiden an einer schweren Opioid-Abhängigkeit (imago/STPP)
Alles begann mit einer Migräne. Claire Patterson war 19, als ein Arzt ihr ein falsches Rezept ausstellte: "Ich bekam 90 Tabletten für einen Monat. 90 Percocet für Migräne sind unfassbar viel. Wenn man Schmerzen hat, soll man eine Tablette nehmen, aber das Rezept sah drei pro Tag vor."
Percocet besteht aus Paracetamol und Oxycodon. Oxycodon ist ein Opioid, das nur bei sehr starken Schmerzen gegeben werden sollte. Es enthält Schlafmohn und hat ein hohes Suchtpotential. Dass der Arzt Claires Behandlung mit einem Opioid startete, widerspricht der Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation. Für die junge Mutter begann mit den falschen Tabletten eine lebensgefährliche Odyssee. Dabei hatte sie sich zunächst einfach nur an die Dosis gehalten.
"Wenn ich die Pillen nahm, ging es mir großartig. Ich hätte sie gern früher gehabt. Mir ging es noch nie in meinem ganzen Leben so gut wie mit diesem Medikament. Ich hatte keinerlei Schmerzen mehr und bekam viel mehr Dinge geregelt. Ich hatte sogar das Gefühl, eine bessere Mutter zu sein. Ich war energiegeladen. Am Anfang war das richtig toll."
Als die Packung aufgebraucht war, wachte sie eines Morgens auf und fühlte sich miserabel: "Mir war übel, ich hatte Magenschmerzen und war unsagbar ängstlich. Heute weiß ich, dass das Entzugserscheinungen waren. Aber damals wandte ich mich wieder an diesen Arzt und bekam ein neues Rezept. Aber um das gleiche herrliche Gefühl zu bekommen, brauchte ich immer mehr Tabletten."
"So viele Tabletten, wie ich brauchte, hätte mir kein Doktor verschrieben"
Was oft mit Zahnschmerzen, Knieoperationen, oder wie bei Claire mit Migräne begonnen hat, endete für immer mehr US-Amerikaner in den letzten zehn Jahren in einer schweren Opioid-Abhängigkeit. Als sie merkte, was mit ihr geschehen war, stand ihr Arzt plötzlich nicht mehr zur Verfügung. Sie ging zum nächsten, zum übernächsten, immer auf der Jagd nach einem weiteren Rezept:
"Ich kaufte zusätzlich Pillen von der Straße. Denn so viele, wie ich inzwischen brauchte, hätte mir kein Doktor verschrieben. Doch diese Tabletten vom Schwarzmarkt hatten ganz andere Wirkstoffe. Sie gefielen mir sogar noch besser."
Claires kleiner Sohn bekam nicht mit, wie schlecht es ihr oft ging. Schließlich vertraute sie sich ihrer Mutter an. Die informierte Claires Mann. Dass sie so offen mit ihrer Tablettenabhängigkeit umging, lag an ihrer Zuversicht, dass sie sie besiegen würde. Und einmal, in ihrer zweiten Schwangerschaft, gelang es ihr sogar, denn sie wollte auf keinen Fall, dass das Leben ihres Kindes mit Entzugserscheinungen beginnt:
"Es sind die gleichen wie bei Erwachsenen: Angst, Magenprobleme. Die Babys können nicht schlafen, sind sehr irritiert und weinen die ganze Zeit."
Ein Mann reicht eine Verpackung Schmerzmittel
Opioidkrise in den USA - Die betäubte Nation
Es begann in den 90ern, als in den USA plötzlich viel mehr Schmerzmittel verschrieben wurden. Heute wütet dort die Opioid-Epidemie, vor allem auf dem Land.
Kurzer Weg zum Heroin
Nach der Entbindung, die ein Kaiserschnitt war, begann der Kreislauf von neuem. Die jetzt zweifache Mutter brauchte wieder Schmerztabletten und landete erneut bei Opioiden. Claire hatte sich immer geschworen, niemals Heroin zu spritzen. Die heute 25jährige, die beim Sprechen oft lebhaft gestikuliert, hält plötzlich inne, wickelt eine lange blonde Haarsträhne um ihren Zeigefinger:
"Der Weg zu Heroin war kurz. Denn wenn du für die gleiche Wirkung, die zehn Pillen erzeugen, Heroin nimmst, zahlst du nur 40 Dollar, nicht 300!"
Die Abhängigkeit bleibt, das berauschende Glücksgefühl aber stellt sich nicht mehr ein. Ein Entzug folgt dem nächsten, alle erfolglos. Claire leidet unter Angst-Attacken, ist hypernervös, bekommt Krämpfe. Bei einem Sturz schlägt sie sich vier Zähne aus. Dann erwischt die Polizei sie beim Fahren unter Drogeneinfluss, steckt sie ins Gefängnis:
"Meine Familie holte mich nicht raus. Zehn Tage blieb ich in Haft und war sehr, sehr krank. In einem amerikanischen Gefängnis bekommt man keine Medikamente, keine Behandlung, nichts. Sie lassen dich sterben, jedenfalls dachte ich das. Ich wurde zu einem Jahr Bewährung verurteilt, in dem man ständig auf Drogen getestet wird. Drei Mal fanden sie was. Deswegen wurde ich vor die Wahl gestellt: Gefängnis oder Therapie. Mein Vater, der die Behandlung vorher abgelehnt hat, weil ich schon einmal eine abgebrochen hatte, stimmte Gott sei Dank der Therapie zu, dafür bin ich sehr dankbar."
Seit zweieinhalb Monaten ist Claire clean. 74 Tage hat sie in der Klinik verbracht. Zu 90 Tagen Therapie hatte das Gericht sie verurteilt, dann wird sie erstmals ihre kleinen Kinder wiedersehen. Ihre Krankenversicherung kommt nur für den ersten Monat auf, der allein 30.000 Dollar kostet. Die anderen beiden Monate will ihre Familie übernehmen.
Claire Patterson, die einem Leben ohne Drogen so nahe ist wie seit über fünf Jahren nicht, überlegt, ob sie gegen den Arzt klagt, der ihr als erster das Opioid verschrieben hatte. Sie zögert:
"Schließlich war ich es, die die Tabletten genommen hat. Als er sah, dass ich von ihnen abhängig geworden war, hat er andere Mittel vorgeschlagen. Aber da wollte ich schon nur noch die." Aber für sie steht fest: Dieser Arzt war ihr erster Dealer. Ein Dealer im weißen Kittel.