Donnerstag, 28. März 2024

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Orchestermusik von Philippe Boesmans
Magische, schillernde Klangspiele

Seine Komponistenkarriere begann der Belgier Philippe Boesmans als Autodidakt. Anfang der 70er Jahre erregte er internationale Aufmerksamkeit, seitdem ist er ein gefragter Komponist. Eine neue CD gibt einen Überblick über Kompositionen der letzten 30 Jahre. Eine musikalische Bereicherung.

Am Mikrofon: Yvonne Petitpierre | 17.11.2019
    Der Komponist Philippe Boesmans, aufgenommen im Stuttgarter Opernhaus
    Der Komponist Philippe Boesmans im Stuttgarter Opernhaus (dpa)
    Musik: Philippe Boesmans. Konzert für Violine und Orchester
    Im Süden der belgischen Provinz Limburg, nur wenige Kilometer nördlich von Liège, beziehungsweise Lüttich, liegt die älteste Stadt Belgiens, Tongern, und damit gehört sie in die Region Flandern. Die zeitgenössische Musiklandschaft dort ist gezeichnet von einer Vielfalt zwischen Chaos, Eigensinn, Formen von Anarchie. Eine spezifische, eigene musikalische Identität existiert nicht, denn es gibt keine gewachsene Tradition, keine Entwicklung, die auf irgendeiner Form von nationalem Bewusstsein basiert. Die Ursachen liegen auf der Hand: Belgiens Geschichte wird konkret erst ab 1830 geschrieben und diese stets im Spannungsfeld zwischen Frankreich und den Niederlanden.
    In Tongern wird 1936 Philippe Boesmans geboren; er studiert am Königlichen Konservatorium in Liège Klavier. Seine Kompositionskenntnisse erwirbt er als Autodidakt. Doch angeregt durch Begegnungen mit Cèlestin Deliège und Henri Pousseur tritt er ab 1960 mit ersten Kompositionen an die Öffentlichkeit und besucht Kurse in Darmstadt. Internationale Aufmerksamkeit erregt Boesmans 1971 mit der Komposition "Upon La-Mi" für Horn und Singstimme beim Prix Italia. Seitdem werden seine Werke immer wieder bei den einschlägigen Festivals für zeitgenössische Musik aufgeführt.
    Einen Überblick über Kompositionen aus drei Jahrzehnten für Soloinstrument und Orchester liefert die soeben erschienene klanglich beeindruckende Veröffentlichung unter dem Titel "Fin de nuit" mit dem Orchestre Philharmonique Royal de Liège unter der Leitung seines jüngst angetretenen Chefdirigenten Gergely Madaras*.
    Poesie und Expressivität
    Aus dem Jahr 1979 stammt das "Konzert für Violine und Orchester" als Auftragswerk des Orchestre Philharmonique Royal de Liège. Hier greifen immer wieder Anklänge an das 19. Jahrhundert, die Virtuosität Paganinis wird hörbar und trotzdem findet Boesmans hier eine persönliche Sprache voller Einfallsreichtum abseits vom romantischen Violinkonzert. Eine Folge von zehn Tönen entwickelt das harmonische Gewebe, das nur in wenigen Momenten wirklich dissonant klingt. Charakteristische Kadenzierungen vermeidet er und harmonische Wendungen wandeln sich unerwartet immer wieder neu. Bestimmend ist ein Klangraum, der sich aus einem Dialog des Orchesters und einem eigenen kleinen, hinter der Bühne plaziertem Ensemble mit der Solovioline formiert. Bei aller Virtuosität und Schnelligkeit entwickelt die Komposition dennoch eine gewisse Form der Leichtigkeit.
    Musik: Philippe Boesmans. Konzert für Violine und Orchester
    Meister der Instrumentierung
    In seinen frühen kompositorischen Arbeiten ist Philippe Boesmans zunächst stark vom Serialismus geprägt, er distanziert sich aber von den daraus erwachsenen Schulen. Seine Kompositionssprache setzt auf klare Strukturen, periodisch wiederkehrende Rhythmen, Konsonanzen und melodische Elemente. Die Kunstfertigkeit vieler seiner Stücke ist gekennzeichnet durch ein Spiel mit Konsonanzen und Intervallen, die Täuschungen oder Anspielungen entwickeln; eine Ästhetik die im Kontext seiner Werke oft als "trompe l’oreille" bezeichnet wird.
    Boesmans Instrumentierungen leben von intensiven Klangfarbenkonstellationen. Und so gilt seit den späten 1960er Jahren sein Interesse orchestralen Formationen, bevorzugt in Konfrontation mit dem Klavier. Klänge vermischt er so subtil, dass ihre Wahrnehmung immer wieder gestört wird, zum Beispiel wenn er eine solistische Stimme mit einer Gruppe von Instrumenten verwebt.
    Als Auftragswerk für Belgiens größtes Festival für zeitgenössische Musik "Ars Musica" komponiert Philippe Boesmans 2010 das "Capriccio" für zwei Klaviere und Orchester. Die Uraufführung 2011 in Lüttich spielte das Klavierduo Katia und Mareille Labèque mit dem Orchestre Philharmonique Royal de Liège anlässlich seines 50-jährigen Bestehens. Ein spieltechnisch anspruchsvolles Werk, aber kein vordergründig Effekte heischendes Virtuosenkonzert. Es dominiert ein Ausreizen der Orchesterfarben in Konfrontation mit dem Klavierklang. Kleine, meist komplexe harmonische Strukturen formieren sich in wechselnden klanglichen Schichtungen und sorgen für einen stark impressionistischen Charakter.
    Am Beginn bestimmen die beiden Soloklaviere den Verlauf. Das erste Klavier spielt eine kurze wellenartige Figur im Pianissimo in sehr hoher Lage, die dann vom zweiten übernommen wird. Dieses Motiv ist Ausgangspunkt für vielfältige Drehbewegungen und Läufe, die sich allmählich ausweiten. Nach und nach kommen Bläser, Streicher und Schlagzeug hinzu und übernehmen das Geschehen, ehe beide Klavierstimmen mit rhythmisch und motivisch markanten Figuren den Orchesterapparat aufbrechen. Teilweise ergeben sich dann kleinteilig changierende Dialoge zwischen den Klavier- und Orchesterstimmen.
    Musik: Philippe Boesmans. "Capriccio" für zwei Klaviere und Orchester
    Als einziges professionelles Symphonieorchester im französisch-sprachigen Teil Belgiens konzertiert das Orchestre Philharmonique Royal de Liège seit 1960 unter der Leitung verschiedener Dirigenten wie Pierre Bartholomée oder Christian Amring. Seit diesem September ist der gebürtige Ungar Gergely Madaras, der sich unter anderem als Assistent von Pierre Boulez in Luzern verschiedentlich profiliert hat, Chefdirigent des Klangkörpers und leitet auch die vorliegenden Aufnahmen. Philippe Boesmans und das Orchester verbindet eine jahrzehntelange Freundschaft, weshalb alle eingespielten Werke auch Auftragskompositionen des Orchesters sind.
    Boesmans hat sich seit den 1980er Jahren vor allem einen Namen als Opernkomponist gemacht. Ab 1985 ist er Hauskomponist am Theâtre Royal de la Monnaie in Brüssel, in deren Auftrag er mehrere Bühnenwerke musikalisch gestaltet hat. Eine besonders enge Zusammenarbeit verband Boesmans mit dem 2015 verstorbenen Regisseur Luc Bondy, der vier Opernstoffe für ihn adaptierte und deren Uraufführung inszenierte - unter anderem "Reigen" nach Arthur Schnitzler und "Yvonne, Prinzessin von Burgund" nach Witold Grombowitz. Für Aufsehen sorgte Boesmans vor einigen Jahren auch mit einer Orchestrierung der Monteverdi-Oper "L’incoronazione di Poppea" für moderne Instrumente.
    Nächtliche Atmosphären
    Das jüngste Werk von Philippe Boesmans, "Fin de Nuit" für Klavier und Orchester aus dem vergangenen Jahr, entsteht in Aix en Provence während der Proben zu einer weiteren Oper, "Pinocchio" nach Carlo Collodi.
    Der erste Teil "Dernière Rêve" (dt: letzter Traum) widmet sich ausschließlich dem Orchester. Alles basiert zunächst auf einer aufsteigenden großen Terz, die sich in langsamem Tempo bewegt und sich klanglich fast im Nichts auflöst. Beschrieben wird gewissermaßen der leichte Schlaf zwischen zwei Träumen kurz vor Tagesanbruch. Boesmans arbeitet mit chromatischen Fragmenten, lässt Klänge kurz auftauchen und wieder verschwinden, so dass der Hörer quasi in einen permanenten Zustand des Träumens versetzt wird.
    Musik: Philippe Boesmans. "Dernière Rêve" aus "Fin de nuit"
    Solist und Widmungsträger dieses Klavierkonzertes "Fin de nuit" ist der Franzose David Kadouch, 1985 in Nizza geboren. Er studierte am Pariser Konservatorium bei Jaques Rouvier sowie bei Dimitri Baschkirov in Madrid. Hierzulande gewann er als 3. Preisträger 2005 beim Internationalen Beethovenwettbewerb in Bonn erstmals Aufmerksamkeit.
    Im zweiten Teil des Konzerts "Envols", was soviel wie Flug oder Schweben bedeutet, dreht sich das Geschehen um eine absteigende kleine Terz. In einem brillanten Scherzo entfalten sich virtuose Ausbrüche und Kadenzen des Klaviers, die sich mit dem Orchester oft echoartig vermengen. Trotz sehr konzertanter Passagen ist der Klavierpart in den Orchesterklang integriert. Boesmans wechselt gerne die Kontexte und so greift er auch Momente des ersten Teils wieder auf, als käme wieder eine kurze Schlummerphase. Dem Hörer präsentiert sich eine Art orchestrale Oper, denn trotz fehlender Gesangsstimmen entspinnt sich eine Handlung, die um verschiedene Schlafphasen kreist.
    Musik: Philippe Boesmans. "Envols" aus "Fin de nuit" (David Kadouch, Klavier)
    * Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle haben wir einen Namen korrigiert.
    Philippe Boesmans - "Fin de Nuit"
    George Tudorache, Violine
    David Kadouch, Piano
    David Libeer, Piano
    Orchestre Philharmonique Royal de Liège
    Leitung: Gergeley Madaras
    CD Cypres, CPY4656
    EAN:5412217046569