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Original und Plagiat

Ein erfolgloser Schriftsteller erschleicht sich den Weg zum Ruhm mit gestohlenen Manuskripten. Als Dozent trifft er auf einen jungen Mann, der aus dem Roman seiner verstorbenen Mutter abschreibt. Was Plagiat und Original letztendlich ausmachen, darum dreht sich der neue Roman von Marlen Schachinger.

Von Lerke von Saalfeld | 07.06.2013
    In einer Zeit, da die literarische Debatte auch von Skandalen über echte oder falsche Plagiate heimgesucht ist, kommt der neue Roman der österreichischen Schriftstellerin Marlen Schachinger zunächst wie eine durchtriebene Antwort auf den Anspruch originellen oder abgekupferten Schreibens daher. Mario Kamov, ein Literat mit Schreibhemmungen, ergaunert bei einem Einbruch in einen Verlag, nachdem nichts Vernünftiges zu finden ist, aus einer verschlossenen Schublade abgelehnte Roman-Manuskripte und stopft sie in seine Tasche. Jetzt hat der blockierte Schriftsteller seinen Stoff. Mario, der Ich-Erzähler des Romans, schreibt die verworfenen Manuskripte um und erzielt damit großen Erfolg, wird sogar Bestsellerautor. Jahrzehnte später holt ihn diese böse Tat ein. Bei einem Poetik-Seminar an einer Universität, zu der Mario als Dozent berufen wird, taucht der junge Student Luca auf:

    Luca hatte erklärt, er wolle einen einzigen genialen Roman schreiben, und wenn er dazu vierzig Mal ansetzen müsse, das sei nicht von Bedeutung, nur jenes eine Meisterwerk zähle, dafür lohne sich jeder Aufwand, und danach habe er vor abzutreten.

    Luca war es, der sich vehement für die Wahl des Dozenten Mario einsetzte, denn er hat noch einen weiteren Grund, das Schreibseminar aufzusuchen. Er hat herausgefunden, dass der Bestsellerautor den abgelehnten Roman seiner Mutter verwurstet haben muss. Der Titelheld des mütterlichen Romans ist der Theologe, Mathematiker und Musiktheoretiker Marin Mersenne, ein Zeitgenosse von Descartes. Das konnte kein Zufall sein. Also beginnt Luca, seinem Dozenten Mario nachzustellen, ihn in Verlegenheit zu bringen, durch anspielungsreiche Bemerkungen zu verunsichern. Mario erzählt, dass Luca schließlich eine Unterredung mit ihm fordert und in die Offensive geht:

    Er suche eine Erklärung, ihm sei aufgefallen, manchmal würden Werke verschiedener Autoren eine über den Zufall hinausreichende Ähnlichkeit aufweisen, vermutlich weil eben ein Thema zu einer gewissen Zeit regelrecht in der Luft liege. Er zögerte, bevor er fortfuhr. Während der vergangenen Monate habe er all meine Werke gelesen, mehrmals, sie studiert, und dabei sei ihm aufgefallen, welch große Analogie mein Erstling mit diesem Manuskript hier aufweise. Und er öffnete seine Tasche, zog einen Stapel ausgedruckter Blätter, die bereits reichlich abgenutzt aussahen, heraus. Er würde, fügte er mit einem Lächeln nach einer kurzen Pause hinzu, diese Gleichartigkeit bloß gerne verstehen.

    Mario Kamov fühlt sich ertappt, als er jedoch das Manuskript liest, stellt er fest, es ist nicht das Original der Mutter, sondern wiederum eine Überarbeitung – wie sich später herausstellt von Luca, der jahrelang versuchte, den Roman der Mutter durch eigene Verbesserungen zu retten. Witz der Geschichte, es gibt also drei Versionen.
    Der Titel des Romans von Marlen Schachinger, ein Zitat aus der Offenbarung des Johannes "…denn ihre Werke folgen ihnen nach", gewinnt zunehmend eine doppelbödige Symbolik. Mario Kamov hat begriffen, Luca hat das Kriegsbeil ausgegraben und der arrivierte Schriftsteller reagiert aufgebracht, allerdings nicht direkt gegenüber Luca, sondern in Gedanken:

    Du wirst mich nicht an den Eiern packen, im Gegenteil, du kleiner Möchtegern-Rächer eines mütterlichen Unglücks, du nicht.

    Mario studiert alles, was Luca bisher veröffentlich hat und gesteht sich ein, der Kleine habe durchaus Talent zum Schreiben. Im Seminar foppt Luca seinen Dozenten, indem er dessen Stil nachahmt, wenn sie Schreibproben abgeben müssen. Mario setzt den Zweikampf fort, indem er Luca zu seinem auserwählten Schüler macht, ihn auf Lesungen mitnimmt und ihn dort dann demonstrativ bloßstellt. Die Frage spitzt sich zu, wer würde triumphieren? Der Ich-Erzähler Mario will nicht aufgeben:

    Auf dem Weg zu meinem Sprechzimmer wusste ich, es würde mir gelingen, Luca mit seinen eigenen Waffen, der Macht der Andeutung, zu schlagen. Sollte ich ihm darin, nach Jahrzehnten des Schreibens, nicht überlegen sein, konnte ich als Autor ohnehin meinen Hut nehmen. Ein Spiel, eine Versuchsanordnung, wir würden ja sehen, wer seine Karten strategisch klüger – und skrupelloser – auszuspielen vermochte.

    Diese Versuchsanordnung hat Marlen Schachinger mit großem Geschick und ironischen Kommentaren über den literarischen Jahrmarkt der Eitelkeiten entfaltet. Mit Vergnügen liest sich diese Persiflage auf die hochgestochenen Abgefeimtheiten im Schriftsteller-Getriebe. Aber dann weitet die Autorin ihr Thema aus: Mario reist von Wien nach Salzburg und sucht dort die Mutter von Luca auf. Er will mehr über den Roman erfahren und schläft sogar mit Lucas Mutter, was Luca natürlich herausbekommt. Luca beginnt immer heftiger Mario zu begehren und auch sie verbringen eine gemeinsame Nacht. Luca ist ein liebeshungriger exzentrischer Schwuler, der in exaltierten Verkleidungen bei Lesungen auftaucht oder nackt nur mit einem Batman-Umhang angetan ist. Nach einer gemeinsamen Lesung in Salzburg, der gemeinsam verbrachten Nacht, fährt Luca mit Mario auf dessen Motorrad zurück nach Wien. Mario rast wie ein Verrückter, er will einen Unfall provozieren, bei dem Luca ums Leben kommt. Luca klammert sich an den Fahrer Mario, der ekelt sich vor seinen Berührungen. Wie ein Wunder kommen beide heil an, wortlos setzt Mario in Wien Luca am Straßenrand ab.

    Abgeliefert, weggeworfen, ausgelöscht. Luca wischte sich über die tränenreichen Augen.

    Schon zu Beginn des Romans erfährt der Leser, dass Marcel Proust das große Vorbild für Luca ist. Er bekommt ein Poster mit dem Konterfei von Proust geschenkt, versehen mit einem Zitat von Proust, das Luca auch als sein Lebensmotto versteht und so übersetzt:

    Der wesentliche Zug meines Charakters ist der Wunsch, geliebt zu werden – oder genauer gesagt: liebkost und verwöhnt zu werden – weitaus mehr als das Bedürfnis nach Bewunderung.

    Die homoerotische Komponente zwischen dem jungen und dem älteren Mann, auch die Anspielungen auf Prousts Romanfigur Charlus gewinnen mehr und mehr an Gewicht. Dennoch hört das gegenseitige Belauern nicht auf, denn Luca schreibt an seinem großen Roman, verrät Mario aber nichts über den Inhalt. Der befürchtet, es wird die große Enthüllung über seinen literarischen Verrat an der Mutter von Luca. Gegenseitig durchwühlen sie sich heimlich, aber erfolglos die Zimmer: Mario auf der Suche nach dem neuen Romanmanuskript Lucas, Luca auf der Suche nach dem Originaltext seiner Mutter. Luca stürzt immer mehr in Verzweiflung, denn er, der Sensible, spürt, wie Mario, der Machtgewohnte, mit ihm spielt und er sich nicht wehren kann. Aber, der Roman Lucas wird fertig und Luca begeht, wie prophezeit, Selbstmord. Nun kann Mario endlich lesen, was Luca geschrieben hat:

    Um die Wahrheit zu sagen: Lucas Roman war von der ersten bis zur letzten Seite eine einzige Liebeserklärung an mich, elegante erotische Passagen, die eine Beziehung der beiden Männer nahe legten, ohne sie je zu nennen, mischten sich mit literarischen Anspielungen und Querverweisen. Luca begann mir bereits jetzt zu fehlen.

    Aber damit nicht genug, Lucas Roman wird ein Bestseller und dennoch kann Mario mit Genugtuung feststellen:

    Der Roman belegte letztlich um drei Wochen kürzer den ersten Platz der Bestsellerliste als mein letzter Roman. Ich hatte ja von vorneherein gesagt, ich würde siegen.

    Aber damit immer noch nicht genug. Marlen Schachinger fügt in einem letzten Kapitel als Alternative oder Utopie ein versöhnliches Ende an: Luca ist nicht tot und beide überarbeiten gemeinsam das Manuskript für die Veröffentlichung und wollen dann zur Belohnung zu zweit nach Paris oder Venedig reisen. Der Witz, der Esprit der Grundgeschichte – Original und Plagiat - verpufft in diesem Roman leider zusehends zu Ungunsten einer larmoyanten Beziehungskiste. Schade.

    Literaturhinweis:
    Marlen Schachinger: denn ihre Werke folgen ihnen nach, Otto Müller Verlag, 266 S., 20 Euro