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"Ornament" versus "Gosse"

Der Unterschied zwischen den konkreten Kunstauffassungen in Berlin und Wien war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts groß. Eine Ausstellung von Berlinischer Galerie und dem Belvedere in Wien zeigt aber, dass sich doch die eine oder andere Gemeinsamkeit finden lässt.

Von Carsten Probst | 26.10.2013
    Eigentlich verband die künstlerischen Revolten seit Ende des 19. Jahrhunderts ein gemeinsames Ziel: das heftige Unbehagen junger Künstler am eingefahrenen Kunstbetrieb der Kaiserzeit, die wachsende Unlust an den bigotten Lehrprogrammen der Kunstakademien, die jede Künstlerförderung von nationalistischer Stromlinienförmigkeit abhängig machten. Die Sezessionen in Wien und Berlin waren dagegen von vornherein auf transnationalen Austausch aus. Für den universalistischen Anspruch der Moderne sollte er später unverzichtbar werden.

    Dennoch war der Unterschied zwischen den konkreten Kunstauffassungen in Berlin und Wien denkbar groß. Das Klischee von "Ornament" versus "Gosse" enthielt durchaus einen wahren Kern, die Neigung der Wiener Kunst zur Flächenornamentik des Jugendstils und einer daraus abgeleiteten Abstraktion gegenüber dem Naturalismus der Berliner Alltagsmalerei, die bis zum lakonisch überzeichneten Realismus eines Otto Dix, George Grosz und der Neuen Sachlichkeit führte. So weit wie gesagt das Klischee.

    Zumindest zeigt die große Gemeinschaftsausstellung von Berlinischer Galerie und dem Belvedere in Wien auch, dass es am Ende so einfach doch nicht war mit den Unterschieden. Dem in Berlin höchst populären norddeutschen "Lichtgebet"-Maler Fidus lassen sich etwa schon früh Verwandtschaften mit dem Jugendstil unterstellen. Aber vor allem mit dem Aufstieg Berlins zur europäischen Kunstmetropole kurz vor dem Ersten Weltkrieg erhöhte sich die Anziehungskraft der Stadt für die gesamte Avantgarde, auch für die Wiener.

    Demzufolge häuften sich Annäherungen, Einflüsse, Begegnungen in vielerlei Hinsicht. Gerade die Neue Sachlichkeit versammelt künstlerische Positionen beider Metropolen in der großen Treppenhalle der Berlinischen Galerie. Bekannt sind die Kontakte, die der Berliner Galerist und Impresario Herwarth Walden mit Karl Kraus unterhielt und ihn ebenso wie Oskar Kokoschka schließlich bei der Gründung seiner Kunstzeitschrift "Der Sturm" einband, die trotz ihres geringen Umfangs zu einem Zentralorgan der Berliner Moderne werden sollte. Sehr aufschlussreich ist eine Gegenüberstellung Ernst Ludwig Kirchners (in Berlin) mit Egon Schiele (in Wien), die eine junge expressionistische Künstlergeneration repräsentierten und über die bereits etablierten Netzwerke wechselseitig in beiden Städten vorgestellt wurden.

    Nach Ende des Ersten Weltkriegs lösen sich diese Netzwerke spürbar voneinander. Der Untergang der K&K-Monarchie zeitigt künstlerisch in Österreich ganz andere Folgen als der Zusammenbruch des Wilhelminismus in Deutschland. Der Dadaismus verbreitet sich von Zürich aus bald in Berlin und ganz Europa - nur Wien erreicht er kaum. Dort bildet sich stattdessen eine eigentümlich poetische Melange aus Expressionismus, Abstraktion und Konstruktivismus heraus, der sogenannte Kinetismus, sowie höchst eigene Positionen wie die an frühe Graphic Novels erinnernden Bilderfolgen der Erika Giovanna Klien, die aus Italien nach Wien gekommen war. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg finden beide Metropolen zunächst keine gemeinsame künstlerische Sprache.