Dienstag, 23. April 2024

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Osteuropa und die Flüchtlinge
"Streit mit Brüssel ist nicht gewollt"

Der tschechische Politikwissenschaftler Vladimir Handl glaubt nicht, dass sich die osteuropäischen Staaten einer Quotenregelung zur Verteilung von Flüchtlingen in Europa langfristig verweigern werden. Auf einen Konflikt mit der EU würden sie es nicht ankommen lassen, sagte er im DLF. Finanziell sei die Aufnahme von Flüchtlingen in den Ländern "klar machbar".

Vladimir Handl im Gespräch mit Reinhard Bieck | 04.09.2015
    Der slowakische Premierminister Robert Fico, Polens Premierministerin Ewa Kopacz, der tschechische Premierminister Bohuslav Sobotka und der ungarische Premierminister Viktor Orban stehen in einer Reihe nebeneinander an Mikrofonen.
    Der slowakische Premierminister Robert Fico, Polens Premierministerin Ewa Kopacz, der tschechische Premierminister Bohuslav Sobotka und der ungarische Premierminister Viktor Orban bei ihrem Treffen in Prag. (dpa/picture alliance/Petrovic Milan)
    Reinhard Bieck: In der tschechischen Hauptstadt arbeitet Vladimir Handl, Politikwissenschaftler am Institut für Internationale Beziehungen. Herr Handl, warum wehren sich die osteuropäischen Länder geradezu mit Händen und Füßen gegen eine Quotenregelung?
    Vladimir Handl: Die osteuropäischen Länder sind eigentlich Länder, die sehr wenige Ausländer innehaben. Deswegen hat die Bevölkerung auch sehr wenig Erfahrung im Zusammenleben mit Ausländern und vor allem mit Ausländern aus muslimischen oder arabischen Ländern. Das ist wirklich eine kulturelle Schwierigkeit und Asymmetrie, die wir haben in Europa, mit dem Westen Europas, der viel mehr offen steht in internationalen Beziehungen, und dem Osten Europas.
    Bieck: Hier in Deutschland sind Vorbehalte gegen Ausländer dort am größten, wo am wenigsten Ausländer leben, nämlich im Osten. Verstehe ich Sie richtig, Herr Handl, dass das in den vier osteuropäischen Ländern, von denen wir sprechen, ähnlich ist?
    Handl: Das würde ich auch behaupten. Ich glaube, es ist wirklich ein kultureller Unterschied zwischen dem Osten und dem Westen. Und das zweite Merkmal ist die Schwäche der Politik. Wir haben in den ostmitteleuropäischen Ländern politische Parteien, die seit langen Jahren nicht mehr politische Führung anbieten, sondern nur Management der politischen Agenda eines jeden Tages, und deswegen sind die Politiker auch nicht fähig und bereit, sich zu stellen und die Probleme wirklich zu erklären und eine Führung für die Gesellschaften anzubieten, und diese Schwäche zeigt sich jetzt sehr stark, würde ich sagen.
    Infrastruktur für Flüchtlinge: "Das wäre klar machbar"
    Bieck: Jetzt mal abgesehen von der Politik. Hätten Polen, die Slowakei, Tschechien und Ungarn denn überhaupt genug Geld, Unterkünfte und die Infrastruktur, um Flüchtlinge aufzunehmen und menschenwürdig zu betreuen?
    Handl: Ich glaube, in dem Maße, in dem die Länder angesprochen worden sind von der Europäischen Kommission, wäre das schon klar machbar.
    Bieck: Zu Sowjetzeiten waren die osteuropäischen Länder ja von wirtschaftlicher Entwicklung abgeschnitten. Der Aufholprozess ist noch nicht ganz abgeschlossen. Haben die Menschen womöglich Angst, das bisher Erreichte könnte ihnen von den Flüchtlingen wieder weggenommen werden?
    Handl: Das ist sicherlich Teil dieser allgemeinen Verunsicherung, weil die Leute befürchten, dass wirklich das, was jetzt erreicht worden ist, dann verloren geht. Das ist sicherlich der Fall. Aber grundsätzlich, glaube ich, ist es wirklich erst mal diese kulturelle Befürchtung, dass die Länder überflutet werden durch Einflüsse von Islamisten und anderen Faktoren, die wirklich als Bedrohung wahrgenommen werden.
    Bieck: Nun sagen manche Beobachter aber, der ungarische Regierungschef Orbán wettere nur gegen die Flüchtlinge, um von innenpolitischen Problemen abzulenken. Gilt das auch für die Regierung der anderen Visegrad-Staaten?
    Handl: Das ist eben dieser Faktor der mangelnden Führungsfähigkeit, Kraft und Bereitschaft seitens der Politik. Die Politiker wissen, dass die Bevölkerung im Grunde diese kulturellen und sicherheitspolitischen Ängste hat, und deswegen laufen die mit, die bieten keine anderen Lösungen, Lösungsansätze, und das ist wie gesagt die Strukturschwäche der Politik in Mitteleuropa.
    "Konflikt mit der EU ist sicherlich nicht gewollt"
    Bieck: Werden es denn diese vier Länder auf einen wirklichen Konflikt mit der EU ankommen lassen?
    Handl: Das kann ich mir wohl nicht vorstellen. Ich glaube, die Länder, auch diese Gruppe ist eigentlich in einer tiefen Krise. Die Gruppe einigt sich eigentlich in sehr wenigen Themen zurzeit, zum Beispiel auch nicht in der Russland-Politik. Diese Immigrationsfrage oder Flüchtlingsfrage ist eines der wenigen Politikfelder, wo sie sich in der defensiven Haltung einigen. Aber einen Konflikt mit der Europäischen Union, Streitigkeiten mit Brüssel oder auch mit Berlin sind sicherlich nicht gewollt und ich glaube nicht, dass die Politik in diesen Ländern diesen Konflikt sucht.
    Bieck: Das heißt, wenn Brüssel oder von mir aus auch Berlin mal richtig auf den Tisch hauen würden, dann ging das mit der Quote am Ende doch?
    Handl: Ich nehme an, die politischen Parteien im Europäischen Parlament sollten viel mehr mit den Politikern arbeiten. Wir haben Politiker aus allen politischen Parteien in Europa jetzt in Regierungen. Die politischen Parteien sollten mit den führenden Persönlichkeiten viel intensiver arbeiten und sie einbinden und dann vor die Wahl stellen, sind sie als Teil der politischen Familien solidarisch mit der Politik, oder wollen sie wirklich ein Außenseiter sein. Das, glaube ich, läuft noch nicht ganz deutlich.
    Bieck: Mal kurz über diesen osteuropäischen Tellerrand geblickt. Der britische Premier David Cameron will jetzt 4.000 Flüchtlinge aufnehmen, aber nicht welche, die es schon bis nach Europa geschafft haben, sondern sie sollen direkt aus syrischen Flüchtlingslagern geholt werden. Das soll den Anreiz nehmen, es auf eigene Faust und über das gefährliche Mittelmeer zu versuchen. Ist das in Ihren Augen ein richtiger Ansatz?
    Handl: Es ist zu begrüßen, dass die britische Politik jetzt aus der sehr passiven Position herausgeht und dass sie jetzt eine aktive Politik betreibt oder betreiben wird. Das ist wirklich zu begrüßen. Ob dieser Anreiz oder dieser Ansatz die richtige Lösung bringt, das bezweifele ich. Die wissen doch, es ist schon verständlich, dass man wirklich auch in den Ländern, wo die Flüchtlinge schon leben, helfen muss. Aber die Lage in Europa, in Kontinentaleuropa ist jetzt wohl sehr gespannt und wir brauchen politische Solidarität auch auf dem Kontinent, nicht nur in den Ländern, wo die Flüchtlinge jetzt leben.
    "Fico ist einer der populistischsten Politiker Mitteleuropas"
    Bieck: Ich möchte Sie gerne noch mit einem Zitat des slowakischen Ministerpräsidenten Fico konfrontieren. Der kritisiert den Westen dafür, dass er die Opposition in Syrien und Libyen unterstützt habe. Dadurch seien die Bürgerkriege in beiden Ländern angeheizt und die Flüchtlingswelle erst ausgelöst worden. Wie sehen Sie das?
    Handl: Das ist leider Teil des Diskurses in diesen Ländern, geteilt auch mit Moskau zum Beispiel. Die Kritiker des Westens, der Europäischen Union und auch des Westens, die behaupten das. Leider sind Teile der politischen Klasse in diesen Ländern auch dieser Meinung. Es ist nicht so stark zu hören in Prag, in der Prager Regierung, aber Herr Fico ist seit Ende der 90er-Jahre einer der berühmtesten populistischen Politiker in Mitteleuropa und er sagt das, was die Leute auch so zum großen Teil wahrnehmen. Der Westen, die USA, die Kriege im Mittleren Osten haben das alles verursacht und deswegen sollen die großen Staaten die Kosten tragen und die Risiken tragen.
    Bieck: Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn halten an ihrem Nein zur Quotenregelung fest. Ich sprach darüber mit Vladimir Handl, Politikwissenschaftler am Prager Institut für Internationale Beziehungen. Danke an die Moldau.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.