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Otto Felix Kanitz vor 125 Jahren geboren
Wegbereiter der modernen Pädagogik

Solidarität und Selbstbestimmung statt Zwang: Der Österreicher Otto Felix Kanitz war ein Wegbereiter der modernen Pädagogik. Seine eigene unglückliche Kindheit beeinflusste seine Arbeit - auch als leidenschaftlicher Kämpfer der Arbeiterbewegung, Funktionär und Politiker.

Von Andrea Westhoff | 05.02.2019
    Kinderfreunde Heim Hungerburg bei Innsbruck auf einer zeitgenössischen Fotografie in schwarz-weiß.
    Der Verein "Kinderfreunde Österreich" kümmerte sich um Jugendfürsorge und Ferienheime - Otto Felix Kanitz leitete eines der Kinderheime des Vereins (picture alliance / Arkivi)
    Wer im ersten Wiener Bezirk durch die Reichsratsstraße geht, kann an der Fassade neben dem Hintereingang des Parlaments eine Gedenktafel entdecken, die dort 2003 angebracht wurde:
    "Otto Felix Kanitz: 1894-1940, ermordet im KZ Buchenwald wegen seiner Gesinnung und seiner Abstammung."
    So sollte - wenn auch spät - verhindert werden, dass einer der Wegbereiter der modernen Pädagogik vollends in Vergessenheit gerät.
    Früh ins Waisenhaus
    Kanitz, am 5. Februar 1894 in Wien geboren, stammte eigentlich aus einer gutbürgerlich-jüdischen Familie. Aber nach der Scheidung der Eltern wurden der Fünfjährige und seine Brüder in ein Waisenhaus abgeschoben und dort streng katholisch erzogen. Angeblich soll er als Kind einmal gesagt haben.
    "Ich bin Otto, aber nicht Felix."
    Dieses "nicht glücklich sein", die fehlende Nestwärme, hat zweifellos die Pädagogik von Otto Felix Kanitz beeinflusst, in der es immer wieder um Gemeinschaft geht, um gegenseitige Anerkennung, Unterstützung und Freundschaft. Erste praktische Erfahrungen sammelte er als Betreuer bei den "Kinderfreunden", einem Arbeiterverein, der sich besonders um die notleidende "proletarische Jugend" kümmerte.
    Die erste "Kinderrepublik"
    Noch während des Ersten Weltkriegs machte Kanitz sein Abitur nach und begann 1918 Philosophie und Pädagogik zu studieren. Doch schon im Jahr darauf übertrug man ihm die Leitung einer riesigen "Kinderfreunde"-Ferienkolonie, die im ehemaligen Flüchtlingslager in Gmünd in Niederösterreich eingerichtet wurde. Hier konnte er erstmals sein erzieherisches Konzept anwenden, das er zusammen mit der Pädagogin Hermine Weinreb entwickelt hat.
    "Leiter und Helfer machten den damals doppelt kühnen Versuch, die Kolonie vollkommen im Geiste der Selbstregierung und Selbstverwaltung zu führen. Ohne Aufseher befolgten alle die selbstgegebenen Gesetze, weil es ihre Regeln für ihre Gemeinschaft waren. Gmünd wurde zur ersten Kinderrepublik, ohne diesen Namen zu führen."
    Kanitz verband damit die Hoffnung, dass die jungen Menschen nach einer solchen Erfahrung auch für eine demokratische Republik im Großen eintreten würden - die für ihn nur als eine sozialistische vorstellbar war.
    Erziehung ohne Gewalt
    Schnell wurden feste Strukturen für die Idee geschaffen: 1919 errichteten die "Kinderfreunde" in dem verlassenen Habsburger-Schloss Schönbrunn in Wien ein Kinderheim; bald folgte eine moderne Ausbildungsstätte für Erzieher mit angeschlossenem Internat unter der Leitung von Otto Felix Kanitz.
    "Der neue Erzieher ist der liebende Freund"
    In einer Zeit, als die Prügelstrafe zur pädagogischen Grundausstattung gehörte, trat Kanitz für eine Erziehung ohne jede Gewalt ein.
    "Wir können den Drang nach Freiheit, den Drang also, ohne äußeren Zwang seinen Lebensweg zu gehen, entfalten, indem wir den selbsttätigen Willen des Kindes schulen, es selber Gesetze finden lassen, nach denen es unter seinesgleichen leben kann."
    Solche Vorstellungen finden sich dann in den 1960er und 70er Jahren im Konzept der "antiautoritären Erziehung" wieder.
    Die "Schönbrunner Schule" selbst und damit auch das Projekt "Kinderrepublik" waren 1924 jedoch finanziell am Ende, und Kanitz engagierte sich nun noch stärker politisch: Im Juli 1929 organisierte er für die Sozialistische Arbeiter-Jugend das II. Internationale Jugendtreffen, zu dem mehr als 50.000 Teilnehmer aus aller Welt nach Wien kamen.
    1933 Flucht nach Brünn
    1932 saß er für das Bundesland Wien im Bundesrat, als Abgeordneter der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Doch die wurde 1933 verboten, und in Österreich etablierte sich unter Dollfuß eine sogenannte austrofaschistische Diktatur. Kanitz floh in die tschechische Stadt Brünn, litt dort aber unter heftigen Depressionen. 1937 kehrte er schließlich nach Wien zurück - nicht unbemerkt offenbar, obwohl er sich nicht mehr politisch betätigte: Im November 1938 wurde Otto Felix Kanitz von der Gestapo verhaftet, ein Jahr später ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht und dort ermordet.
    Seine Idee der Kinderrepublik aber hat überlebt und viele Nachahmer gefunden: Schon 1927 entstand in Seekamp bei Kiel die erste in Deutschland. Und bis heute sind die Ferienlager der "Kinderfreunde" ähnlich organisiert.