Freitag, 29. März 2024

Archiv

Pablo d'Ors
Wanderjahre, Handwerk und ein Traum

Pablo d'Ors hat Theologie und Philosophie in Rom, Prag und Wien studiert. Nach der Priesterweihe ging er 1991 als Missionar nach Honduras und schrieb dabei Erzählungen, Romane und Essays. Bei ihm gehen Seelsorge und Literatur Hand in Hand und münden in einer Vielzahl von Tätigkeiten. Nun ist die Übersetzung von seinem Buch "Die Wanderjahre des August Zollinger" erschienen.

Von Margit Klingler-Clavijo | 02.03.2016
    "Die Wanderjahre des August Zollinger" haben viel von einem klassischen Entwicklungsroman. August Zollinger muss sich mit Ende 20 eingestehen, dass er seinen Berufswunsch, einmal der Buchdrucker von Romanshorn zu werden, nicht so verwirklichen kann, wie er es sich als Junge erträumt hatte. Der Besitzer der einzigen Druckerei von Romanshorn, der ihn als Kind fast wie seinen eigenen Sohn behandelt hatte, duldet keine Konkurrenz neben sich und verhindert, dass August Zollinger seine eigene Druckerei aufmacht. Der begibt sich daraufhin auf eine sechsjährige Wanderschaft durch Österreich und die Schweiz und findet handwerklich begabt wie er ist, unterwegs mühelos Arbeit.
    Er beginnt als Weichensteller bei einer Eisenbahngesellschaft, ist anschließend Soldat in einem Kavallerie-Regiment. Während eines längeren Einsiedlerdaseins im Wald lernt er, die Musik der Bäume wahrzunehmen. In einer Amtsstube, in der von morgens bis abends Briefe und Dokumente stempelt, bewahrt er sich seine heitere Gelassenheit, weil er sich auf den Klang der Stempel beim Aufdruck konzentriert. Zu Geld und Ansehen bringt er es in einer Schusterei, die wegen seiner Liebe zu den Schuhen eine ungeahnte Blütezeit erlebt. Am Ende seiner Wanderschaft geht August Zollingers uralter Kindheitstraum, der Drucker von Romanshorn zu werden, gleichsam von selbst in Erfüllung. Nach dem Tod des Druckers erwirbt er die Druckerei, in der er sich als Junge für den Buchdruck begeisterte und fängt an, dort zu arbeiten. Soviel zum Handlungsgerüst des Romans, der über eine für europäische Breitengrade ungewohnte magisch musikalische Dimension verfügt, die an die lateinamerikanische Literatur erinnert. Pablo d´Ors ist ein aufmerksamer und feinfühliger Beobachter, der den kleinen Dingen große Beachtung schenkt, der sich auf Stimmen, Klänge und Geräusche konzentriert, die innere Musik von Menschen und Gegenständen. Wie in vielen spirituellen Texten sind August Zollingers Wanderjahre auch eine Reise ins eigene Innere, die mit einer Liebesgeschichte beginnt.
    Er verliebt sich in eine Telefonistin der Eisenbahngesellschaft, bei der er als Weichensteller für den Nachtexpress Wien-Prag zuständig ist. Die junge Frau ruft ihn jeden Morgen an, um ihm die Ankunft des Nachtexpress mitzuteilen, wobei sie immer nur ein Wort sagt, entweder "fertig" oder "bereit." Der junge Mann beginnt für die junge Frau zu schwärmen. Als sie eines Tages noch etwas persönlicher wird, verliebt er sich.
    "Es war an einem zweiundzwanzigsten April, dem nächsten Tag um 5:45 Uhr früh (wann sollte es sonst sein?) als der wahre und glückliche Beginn dessen stattfand, was man im strengeren Sinn eine Beziehung nennen kann. Als er den Hörer abhob, vernahm der junge Eisenbahner nicht nur ein "Bereit?" oder "Fertig?", sondern etwas unendlich Zarteres und Vielversprechenderes: "Ich heiße Magdalena. Bereit?""
    Allerdings existiert die Liebe zu Magdalena nur in der Vorstellungswelt des einsamen Weichenstellers und ist eigentlich nur die Liebe zur Stimme einer unbekannten Frau, die er nie zu Gesicht bekommen wird. Magdalena wird von eben jenem Nachtexpress der Strecke Prag-Wien, für den er einmal am Tag die Weichen stellt, überfahren. August Zollinger, der ihren Tod aus der Zeitung erfährt, gibt daraufhin seine Stelle bei der Eisenbahngesellschaft auf und wird Soldat. Seinen Kummer über ihren jähen Tod kann er nur schwer verwinden. Im Kavallerieregiment wird er wegen seiner Trinkfestigkeit geschätzt, jedoch auch "der traurige Trinker genannt. Erst in der Abgeschiedenheit der Wälder von Sankt Heiden, in die sich August Zollinger zurückgezogen hat, findet er allmählich zu sich selbst, als er sich auf die Klänge und Melodien der Bäume einlässt. Sein Klanggedächtnis wird dabei aktiviert, angefangen beim traumatischen Geräusch des Nachtexpress, das ihn an Magdalena erinnert, bis hin zu all den Klängen, die Erinnerungen an seine Kameraden und Freunde wecken.
    "Wie schön und liebeswert die Bäume, die die Klangfülle der Natur in sich trugen. Auch das Wohlgefallen, das der Einsiedler an den "Musik-Bäumen" fand, war unvergleichlich. Den ersten Baum, in dem er eine Melodie hörte, nannte er den "Musik-Baum", da er glaubte, er sei der Einzige im gesamten Wald, der sie ihm darbot. Aber dann, als er an der Rinde einer großen Kiefer lauschte - und er war bereits ein Fachmann darin - die äußeren Geräusche auszublenden - vernahm er eine neue, frühlingshafte Melodie, die viel fröhlicher war als die des sogenannten Musik-Baums, weshalb er den letzten "Allegro-Baum" und den ersten "Moderato" nannte. Begriffe, die in der Schule gelernt zu haben, er sich erinnerte."
    August Zollinger, der völlig verzückt von der Klangwelt der Bäume ist, beendet sein Eremitendasein erst, als er von einem Baum dazu gedrängt wird. Der Klang der Bäume, der ihm die Wunder des Lebens offenbarte, hat sein Herz geweitet und zu einer inneren Gelassenheit und Heiterkeit geführt, die so schnell nichts erschüttert. Pablo d´Ors hat mit "Die Wanderjahre des August Zollinger" einen heiteren und doch sehr tiefgründigen Roman vorgelegt, weil er die absurden, beglückenden und tragischen Erlebnisse des jungen Wanderers mit ebenso großem Staunen wie Exaktheit beschreibt, sodass sie noch lang in einem nachhallen.
    Pablo d´Ors: "Die Wanderjahre des August Zollinger", Wagenbach Verlag, Berlin,2015 Übersetzung: Enno Petermann, Preis: 15,90 Euro