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Pakistan versinkt im Chaos

Die dritte Januarwoche war ein Musterbeispiel für die Irrungen und Wirrungen der pakistanischen Politik. Auf Massendemonstrationen gegen die Regierung folgte ein Kompromiss, die wahren Probleme wie Terror, Gewalt und Extremismus blieben unangetastet.

Von Sandra Petersmann | 26.01.2013
    "Die Welt schläft, während die Korruption sich ausbreitet."

    Der kleine Junge plappert nach, was sein Vater ihm vorsagt.

    Fast eine Woche lang, vom 13. bis zum 17. Januar, trotzten rund 50.000 Demonstranten Wind und Wetter - inspiriert von einem selbst ernannten Revolutionsführer, der wie Phoenix aus der Asche auftauchte, um die gewählten Politiker Pakistans zum Teufel zu jagen.

    "Hier gilt das Gesetz des Dschungels. Darum möchten wir diese inkompetenten Leute loswerden. Wir wollen sie durch fähige und talentierte Patrioten ersetzen, denen das Wohl des Landes am Herzen liegt."

    Die dritte Januarwoche war ein Musterbeispiel für die Irrungen und Wirrungen der pakistanischen Politik. Im Zentrum des Geschehens: der muslimische Geistliche Tahir ul Qadri. Ein Prediger der moderaten, spirituellen Sufi-Strömung des Islam. Ein studierter Jurist, erfolgloser Politiker, Auswanderer und Gründer einer Hilfsorganisation, die nach eigenen Angaben in über 90 Ländern aktiv ist - vor allem im Bildungsbereich.

    "Wir können die Entgleisung der Demokratie in diesem Land nicht länger zulassen. Wir verlangen als Gesellschaft eine wahre Demokratie."

    Der Geistliche war erst im Dezember nach rund sieben Jahren Abwesenheit aus Kanada heimgekehrt. Kaum zurück, rief er die Bevölkerung von Lahore aus zu einem Marsch der Millionen auf. Am 14. Januar erreichte sein Konvoi die pakistanische Hauptstadt. Dort zog Tahir ul-Qadri in einen gläsernen Hochsicherheitscontainer ein, während zehntausende seiner Anhänger eine menschliche Blockade in Sichtweite des pakistanischen Parlaments bildeten.

    "Das hier ist ein friedlicher Marsch für die Demokratie, gegen die Korruption, für die Rechtstaatlichkeit. Das Gebäude, das wir da vorne sehen, heißt Parlament. Aber es ist nur von außen ein Parlament. Es gibt in Pakistan kein Parlament, denn es ist die Heimat von Brandstiftern, Dieben, Plünderern und Verbrechern."
    Das trifft den Nerv der enttäuschten Massen, die sich ein besseres Leben wünschen. Doch ul-Qadri belässt es nicht beim Verteufeln. Er fordert offensiv, dass Militär und Justiz eine stärkere politische Rolle übernehmen sollen.

    "In Pakistan gibt es nur zwei funktionierende Institutionen, die ihre Pflicht erfüllen und die für das Volk da sind. Die Justiz und die Armee und sonst niemand."

    Tatsächlich vermuten Beobachter wie der Politikwissenschaftler Sohail Mahmood, dass das mächtige Militär mit dem selbst ernannten Revolutionär unter einer Decke steckt - um die zivile Politik im Vorfeld einer geplanten Parlamentswahl zu schwächen.

    "Leute mit engen Verbindungen zum Militärapparat haben sich mit Quadri in Lahore getroffen. Ich denke, dass es die stillschweigende Genehmigung gibt, für Unruhe zu sorgen."

    Wer zum Beispiel hat die millionenschwere Werbekampagne bezahlt, mit der Tahir ul-Qadri zum langen Marsch aufgerufen hat? Und wer hat die perfekte Organisation in Islamabad bezahlt? Nicht weniger verwunderlich: Warum hat das Oberste Gericht mitten in der Hochphase dieses Massenprotests die Verhaftung des Premierministers angeordnet, die bis heute nicht vollstreckt worden ist? Die Korruptionsvorwürfe gegen Regierungschef Ashraf sind alles andere als neu.

    "In Pakistan schreibt man Verfassungen, um ihnen nicht zu folgen. Und jeder, der ein wichtiges Amt bekleidet, hat nur damit zu tun, irgendwie im Amt zu bleiben. Alle sind unsicher. Und wenn du unsicher bist, denkst du nicht an gute Regierungsführung, sondern an dein Überleben. Du stopfst dir die Taschen voll, so schnell du kannst. Denn der nächste Militärputsch steht vielleicht kurz bevor - oder wie in diesem Fall: Vielleicht beendet die Justiz die Amtszeit."

    Diese Zustandsbeschreibung pakistanischer Innenpolitik stammt von der renommierten Historikerin Professor Ayesha Jalal. Ihr Spezialgebiet: die Geschichte Pakistans und die Geschichte des Islam. Pakistan war die längste Zeit seiner noch jungen Geschichte eine Militärdiktatur.

    "Unser Militär hat den Islam immer stärker für strategische Zwecke benutzt, um sich regional zu positionieren. Das ist völlig außer Kontrolle geraten. Wir haben es in Pakistan mit einem instrumentalisierten Islam zu tun, nicht mit einer verwurzelten Vorliebe für Extremismus innerhalb der Gesellschaft. Und die Armee hat fälschlicherweise geglaubt, dass sie islamistische Gruppen nach Belieben aufbauen und wegsperren kann. Sie versucht heute tatsächlich, einige Gruppen zu schließen, während sie andere in Ruhe lässt."

    Das pakistanische Militär schweigt auffällig zu ul-Qadri - einem populistischen Islamgelehrten, der Terror und Selbstmordanschläge als unislamisch anprangert. Das ist wichtig für eine Armeeführung, die sich längst darüber im Klaren ist, dass der heimische Terror die größte Bedrohung für die eigene Stabilität ist.

    Und der von Tahir ul-Qadri angeführte Massenprotest? Ist beendet, als sei nichts gewesen. Am 17. Januar einigten sich der Sufi-Prediger und die Regierung, die er mit seinem Protest zum Rücktritt zwingen wollte, auf einen erstaunlichen Kompromiss. Es soll bald Wahlen geben, aber das war sowieso geplant. Das Parlament soll sich Mitte März auflösen und die Regierung soll für eine unparteiische Übergangslösung Platz machen, um faire Wahlen zu garantieren. Aber auch das war geplant.

    Die wahren Probleme der chronisch taumelnden Atommacht bleiben im ewigen politischen Theater unangetastet: Terror, Gewalt, Extremismus, Korruption, Energieknappheit, Inflation, mangelnde Bildung, Arbeitslosigkeit, der feudalistische Aufbau der Gesellschaft. Historikerin Ayesha Jalal hofft auf die heilende Wirkung eines demokratischen Machtwechsels.

    "Pakistan braucht ein paar demokratische Wahlen nacheinander, um sich demokratisch zu entwickeln. Die Tatsache, dass bisher keine gewählte Regierung demokratisch aus dem Amt geschieden ist, hat Pakistan enorm verletzt. Es fehlt an Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwesen."

    Vielleicht würde das Verantwortungsbewusstsein wachsen, wenn Volk und Volksvertreter mehr in der Verantwortung stünden. Doch vermutlich hat die Armee genau davor Angst. Ihr Machtanspruch leitet sich aus dem chronischen Chaos der zivilen Politik, aus der Feindschaft zu Indien und aus der Terrorgefahr ab.