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Pakistan
Warum die "Unberührbaren" zur christlichen Minderheit gehören

Die christliche Minderheit in Pakistan lebt unter der ständigen Bedrohung, der Blasphemie bezichtigt zu werden - ein Vergehen, das mit dem Tod bestraft werden kann und oft Lynchjustiz nach sich zieht. Schon wer eine Reform des Blasphemie-Gesetzes fordert, muss mit Todesdrohungen rechnen.

Von Silke Mertins | 30.12.2013
    Ein zerlumptes Zelt im Grüngürtel von Islambad. Mehrere Dutzend Kinder haben sich auf abgewetzten Bastmatten und Decken niedergelassen. Auf einem Podest steht ein schlichtes rotes Holzkreuz. Es ist die Kirche eines improvisierten Flüchtlingslagers. Um die Kirche herum stehen mehrere Hundert armselige Zelte, die bei Regen im Schlamm versinken.
    Das Camp in der pakistanischen Hauptstadt heißt "Rimsha Kolonie". Denn hierher sind die Christen aus Mehrabadi geflohen, dem Armenviertel, in dem das geistig behinderte Mädchen Rimsha Masih gewohnt hat. Die 14-jährige Christin war im August 2012 der Blasphemie beschuldigt worden. Die Vorwürfe stellten sich später als inszeniert heraus. Der Imam selbst soll Koranverse aus einem Lehrbuch absichtlich in den Müll gesteckt und sie dem Kind untergeschoben haben. Doch der Vorfall hat eine ganze Gemeinde entwurzelt. Die christlichen Familien aus Mehrabadi flohen in Panik vor einem aufgeputschten Mob. Der Familienvater Tufeil Maseh erinnert sich:
    "Wir hatten große Angst. Die Muslime hatten begonnen, die Häuser niederzubrennen. Das Feuer war nur noch drei Häuser von uns entfernt. Wenn wir nicht geflohen wären, hätten sie uns bei lebendigem Leib verbrannt. Die Vermieter in Mehrabadi, wir nennen sie Malik, sind sehr gefährliche Leute. Sie können uns jederzeit der Blasphemie beschuldigen. Wir können nichts dagegen tun."
    Tufeil Maseh versucht mit einer abgebrochenen Schaufel eine Sickergrube für Schmutz- und Regenwasser auszuheben. Er lebt mit seiner Frau und drei Kleinkindern in einem Verschlag aus Stoffresten und Plastikplanen. Die Wintersonne wärmt sie ein wenig, aber nachts wird es bitterkalt. Immerhin sind wir einigermaßen sicher hier, sagt er. Er hofft, dass die Regierung sie nicht wieder vertreibt.
    Gewalt gegen die christliche Minderheit in Pakistan macht immer häufiger auch weltweit Schlagzeilen. Erst im September haben die extremistischen Taliban auf eine Kirche in der Stadt Peshavar, nicht weit von der afghanischen Grenze, einen Anschlag verübt. 78 Menschen kamen ums Leben. In der Millionenstadt Lahore genügte ein Gerücht im vergangenen Frühjahr, um eine wütende Menge 120 Häuser von Christen niederbrennen zu lassen. Der ehemalige Parlamentsabgeordnete Naveed Teeva hält das für unislamisch:
    "Sie denken, dass es ihre spirituelle Pflicht erfüllen, wenn sie Christen töten. Sie sind fehlgeleitet. Sie verstehen die tatsächliche Bedeutung von Dschihad, von spiritueller Pflicht nicht. Der Islam erlaubt nicht, Menschen einfach so zu töten oder zu hassen. Aber genau das ist ihre Denkweise."
    Die größte Bedrohung für die christliche Minderheit ist das Blasphemie-Gesetz in Pakistan. Es gehört zu den strengsten der Welt. Blasphemie, die Entweihung des Koran oder die Beleidigung des Propheten, kann mit dem Tod bestraft werden. Seit über drei Jahren sitzt die Christin Asia Bibi wegen Blasphemie-Anschuldigungen ihrer Nachbarn in der Todeszelle. Zwei Politiker, die sich für sie eingesetzt haben, - ein Moslem und ein Christ - wurden von Fanatikern bereits ermordet. Oft aber ist Gotteslästerung nur ein Vorwand, sagt Britta Petersen, Direktorin der Heinrich-Böll-Stiftung in Islambad:
    "Wann immer der Vorwurf der Blasphemie erhoben wird, steht oft etwas ganz anderes dahinter als Blasphemie. Das mögen Streitigkeiten zwischen Nachbarn gewesen sein, das kann aber auch damit zusammenhängen, ich habe über einige Fälle gelesen, wo es tatsächlich um so Dinge ging, dass ein Christ auf einem muslimischen Friedhof beerdigt wurde oder dass sie Brunnen benutzt haben, die sie nicht hätten benutzen dürfen. Woran man natürlich sofort erkennt, wo die Ursprünge des Problems liegen, nämlich im Kastenwesen."
    Die große Mehrheit der Christen lebt in ärmsten Verhältnissen, fegt Pakistans Straßen, sammelt den Müll ein und putzt in Haushalten oder öffentlichen Gebäuden.
    Britta Petersen:
    "Das liegt daran, dass sehr viele Christen konvertierte Unberührbare sind. Das mag vielleicht überraschen, weil Pakistan ja ein muslimisches Land ist, aber das Kastensystem war vor der Teilung und natürlich auch jetzt noch in Indien weit verbreitet. Und in Pakistan ist es zwar offiziell abgeschafft, aber die sozialen Strukturen existieren natürlich weiter. Und es ist bekannt, dass viele Familien, die jetzt christlich sind, vor einigen Generationen noch Unberührbare gewesen sind."
    Die Armut macht die pakistanischen Christen noch verwundbarer. In dem Slum Mehrabadi, in dem Rimsha lebte, ist von einem Staat, der seine Minderheiten schützt, nichts zu spüren. Rimshas Familie musste wegen Todesdrohungen nach Kanada fliehen. Nur wenige Christen haben es gewagt, nach den gewalttätigen Ausschreitungen nach Mehrabadi zurückzukehren.
    Der Moschee in Rimshas ehemaligen Wohnviertel, in der der Imam dazu aufrief, die Christen zu jagen, ist ein unscheinbarer, schmutziger Flachbau, so verwahrlost wie der Vorplatz. Hier spielen Kinder im Müll, Ziegen fressen Plastiktüten und Essensreste. Das Abwasser fließen ungefiltert die Gassen hinunter.
    Catherine ist eine der wenigen Christen, die zurückgekommen sind. Das Leben im Zeltlager, wo ihre fünf Kinder schutzlos der Witterung ausgesetzt waren, schien ihr noch schlimmer als das in Mehrabadi unter feindseligen Nachbarn. Und eine Wohnung in einer besseren Gegend kann sich die Familie nicht leisten. Ihr Mann verdient als Reinigungskraft in einem Restaurant 5000 Rupien im Monat, umgerechnet rund 50 Dollar.
    "Über uns hängt immer ein Damoklesschwert. Ich sage meinen Kindern ständig, dass sie nicht mit anderen über Religion reden dürfen: nicht über den Koran, nicht über Muslime und nicht mal über ihre eigene Religion. Wir müssen, so weit es eben geht, überhaupt versuchen zu vermeiden, mit ihnen zu reden. Wir können hier nicht unsere Feste feiern. Letztes Jahr haben uns die Muslime die Weihnachtsdekoration abgerissen. Und dann kam alles noch schlimmer."
    Hinter der Tür steht eine Axt. Sie steht nicht nur zum Holzhacken dort. Doch Catherine weiß, dass die ihr nichts nützt, wenn der Mob kommt. Sie lebt mit der Angst. Zum Abschied fleht sie um mehr Hilfe und Unterstützung für die pakistanischen Christen. Und immer wieder sagt sie: "Holt uns hier raus."