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Paläoanthropologie
In der Höhle der Menschenartigen

Schon Charles Darwin vermutete die Wiege der Menschheit in Afrika. Dort sorgten Fossilienfunde aus Kenia und Äthiopien immer wieder für Aufsehen. Doch der Hotspot der Forschung verlagert sich. Alle Welt schaut seit einigen Jahren nicht mehr auf den Osten, sondern vermehrt auf den Süden des Kontinents. Immer neue Fundstätten werden dort entdeckt.

Von Michael Stang | 25.12.2014
    Das fossilierte Skelett eines Australopithecus sediba wurde im Jahr 2008 nördlich von Johannesburg (Südafrika) ausgegraben.
    Das fossilierte Skelett eines Australopithecus sediba wurde im Jahr 2008 nördlich von Johannesburg (Südafrika) ausgegraben. (picture alliance / dpa - Jon Hrusa)
    Es ist früh am Nachmittag, rund 40 Kilometer nordwestlich von Johannesburg in Südafrika. Die Straße wird einspurig und geht über in eine Schotterpiste. Hügelige Savanne, so weit das Auge reicht. Nur wenige Bäume sind hier zu sehen, ansonsten wächst überall braunes Gras, manchmal mannshoch.
    In der Höhle der Menschenartigen. Ahnenforschung im Süden Afrikas
    Von Michael Stang
    Arend Mothokgo empfängt die internationale Besuchergruppe mit breitem Grinsen. Hinter ihm ein Café, ein kleines Museum und ein winziger Museumsshop. Sie gehören zu einem unterirdischen Höhlensystem, das sich unter der südafrikanischen Landschaft über 47.000 Hektar erstreckt.
    Es ist windig und regnet ein wenig. Arend Mothokgo verteilt Schutzhelme. Den Weg legen alle rasch zurück. In der Höhle gibt es nur vereinzelt künstliches Licht. Die wenigen Taschenlampen erhellen kaum die nackten Steinwände.
    "Diese Höhle wurde 1896 von italienischen Bergleuten entdeckt, die Gold suchten. Das haben sie nicht gefunden, dafür aber reichlich Kalk. Dafür gab es auch großen Bedarf, für die Produktion von Zement, Zahnpasta, Seifen. Die haben hier die Felsen gesprengt. Die Öffnung hier ist auch kein natürlicher Eingang, sondern das wurde alles frei gesprengt."
    Es wird feucht. An einer Seite liegt friedlich ein unterirdischer See. Das Wasser hätte einigen unvorsichtigen Höhlenbesuchern schon den Tod gebracht, warnt Mothokgo. Heute ist alles mit Geländern gesichert. Es geht weiter.
    Arend Mothokgo zeigt nach oben. Dort, 25 Meter über ihm, öffnet sich der Fels der Silberberg Grotte, ein wenig Tageslicht ist zu erkennen.
    Vor drei Millionen Jahren war hier einer unserer Vorfahren in die Höhle gestürzt und starb. Halb Affe, halb Mensch. 1995 entdeckten Forscher zunächst vier Fußknochen und gaben ihrem Fund den Namen "Little Foot". Eine irreführende Bezeichnung, denn tatsächlich lagen dort fest im Gestein verbacken nicht nur einige wenige Knochen, sondern ein ganzes Skelett. Es war das weltweit erste vollständige Skelett eines Frühmenschen. Und der Beginn einer neuen Zeitrechnung für die Paläoanthropologie.
    "Noch vor zehn Jahren konnten wir damit rechnen, mit sehr viel Glück vielleicht eine Handvoll Fossilienfragmente in einem Jahr zu finden. Das hat sich komplett geändert."
    Lee Berger von der Universität von Witwatersrand in Johannesburg.
    "Wir entdecken nicht nur einfach immer mehr Fossilien, sondern die sind auch spektakulär, wir finden vollständige Skelette, verschiedene Individuen einer Frühmenschenart. Das ist nun natürlich etwas, woran sich unsere Forschungsrichtung abkämpfen muss."
    Die Geschichte beginnt für Südafrika im Jahr 1924. Damals, erklärt Francis Thackory, der Direktor des Instituts für Humanevolution an der Universität von Witwatersrand, machte das Land erstmals von sich reden.
    "Ein Schädel wurde hier entdeckt an einem Ort namens Taung: 2,5 Millionen Jahre alt. Den Fund hat Professor Raymond Dart als neue Art beschrieben, der er den Namen Australopithecus africanus gab."
    Der Name bedeutet so viel wie: Der Affe aus dem Süden Afrikas. Es war die erste Beschreibung eines Australopithecus; jener Gattung, aus der unsere Gattung Homo hervorgegangen ist.
    "Der Fund war äffisch, aber auch schon sehr menschlich. Dieses Wesen hatte ein kleines Gehirn, lief aber schon auf zwei Beinen. Südafrika spielte plötzlich eine wichtige Rolle für die Menschwerdung, denn nun gab es einen Beweis für Charles Darwins Theorie, dass die Wiege der Menschheit in Afrika stand, dass sich dort die Menschheit entwickelte."

    Nachbildung des fossilen Schädels des "Kind von Taung"
    Nachbildung des fossilen Schädels des "Kind von Taung" (picture alliance / dpa)
    Erhalten sind vom Taung Kind nur der Gesichtsschädel, das versteinerte Gehirn und der Unterkiefer. Doch das genügte, um sein Ende zu rekonstruieren. Eine bizarre Geschichte: Ein Adler hatte das Kind wohl am Kopf gepackt und es weggetragen. Dabei war der Körper abgerissen, der Kopf schließlich in einer Felsspalte gelandet und versteinert. Die Krallenabdrücke des Raubvogels kann man in der Augenhöhle deutlich erkennen.
    Die alles entscheidende Frage: Woher kommt die Gattung Homo?
    Seither besuchten immer wieder Fossiliensammler die Karsthöhlen Südafrikas, doch die Ausbeute blieb mager. Mehr Glück hatten sie im Osten des Kontinents; vor allem im äthiopischen Hochland entdeckten Generationen von Wissenschaftlern Fossilien aus der Frühzeit des Menschen. Aber es waren nur einzelne Knochen. Immer mit großen Abständen auf der Zeitskala der Menschwerdung. Stückwerk, mit dem sich mehr schlecht als recht arbeiten ließ.
    "Die Paläontologie zeigt uns Schnappschüsse aus der Vergangenheit, aber die Funde sind nicht immer vollständig. Unsere Herausforderung lautet daher, so viele Fossilien in so vielen Höhlen wie möglich zu entdecken, das alles zusammenzuführen und in Zusammenhang zu bringen."
    Die große Herausforderung liegt in der Zeit zwischen zwei und drei Millionen Jahren vor heute. Jener Zeit, in der sich unsere direkten Vorfahren entwickelten. Die alles entscheidende Frage lautet : Woher kommt die Gattung Homo? Südafrika kann diese Frage vielleicht beantworten.
    Als in Sterkfontein mit Little Foot erstmals ein vollständiges Skelett in mühsamer Kleinarbeit geborgen wurde, lehrte Lee Berger schon einige Jahre an der zuständigen Universität von Witwatersrand in Johannesburg. Auch er grub in den Höhlen nahe Sterkfontein, vor allem an einer Stelle namens Gladysvale. Der Erfolg war mäßig. Bis zum Jahr 2008.
    "Damals hatte ich begonnen, Satellitenbilder auszuwerten und eine neue Karte der Gegend zu erstellen. Dabei entdeckten wir, dass es hier nicht wie zuvor angenommen nur 100 Höhlen gibt, sondern rund 700. Und in 60 davon haben wir Fossilien entdeckt."
    Lee Berger hatte eine potenzielle Fundstätte ausgemacht, die er sich näher anschauen wollte. Mit einem Mitarbeiter und seinem damals neun Jahre alten Sohn Matthew zog er los.
    "Ich sagte: okay, dann findet mal Fossilien. Matthew rannte los und anderthalb Minuten später fand er einen Stein, hob ihn hoch und rief: Dad, ich habe ein Fossil gefunden."
    Matthew war auf einen bis dahin unbekannten Frühmenschen gestoßen. Es folgte eine große Ausgrabung, bei der das Team um Lee Berger die zwei Millionen Jahre alten Überreste von mehreren Individuen barg, darunter zwei sehr gut erhaltene Skelette, das einer erwachsenen Frau und das eines Jungen. Die neuen Knochen gehören zu einer Frühmenschenart, die die wissenschaftliche Bezeichnung Australopithecus sediba erhielt. Er lief schon aufrecht, seine Hände sahen aus wie die heutiger Menschen. Andere Partien wirkten dagegen noch sehr primitiv. Ein Urahn mit großer Nähe zum modernen Menschen - dessen Wurzeln man eigentlich im Osten Afrikas vermutete.
    Verbindung zwischen Vor- und Frühmenschen: Australopithecus sediba.
    Verbindung zwischen Vor- und Frühmenschen: Australopithecus sediba. (Science/University of the Witwatersrand, Lee Berger, Brett Eloff)
    "Sediba schlug ein Loch in diese Idee. Entweder war er ein direkter Vorfahr unserer Gattung Homo, oder ein toter Seitenast im menschlichen Stammbaum. Seine Anatomie wirft große Fragen auf. Wie und wo ist unsere Gattung Homo entstanden? Und wie erklären wir, was wir sind?"
    Die Antwort liegt auf der Hand, meint Lee Berger. "Wir müssen uns die Fossilien aus dem südlichen Afrika anschauen. Nur so können wir verstehen, was bei der Evolution des Menschen passiert ist."
    In Johannesburg, an der Universität von Witwatersrand, führt Bernhard Zipfel, Südafrikaner mit deutschen Wurzeln und Herr der Knochen, in einen großen Raum. Hier liegen – offen zugänglich für alle Wissenschaftler - jene Frühmenschenfossilien, die Südafrika zu Ruhm verholfen haben.
    "Also, es ist kaum zu glauben: nur dieses kleine Abteil hier, also das sind zwei Reihen, das war vorher unsere ganze Sammlung von Hominiden, über viele, viele Jahre gesammelt."
    "Hier haben wir einen Schädel von Australopithecus africanus, dieses hier ist StW504 und 505, diese zwei."
    Auch das Taung-Kind liegt hier.
    "Und an dieser Seite fängt es an mit den Original-Fossilien aus Sterkfontein."
    Und daneben, in der Mitte des Raumes unter Glas, die beiden Australopithecus Sediba-Skelette.
    "Man kann sehen, wie schnell sich das alles geändert hat. So viele Jahre so wenig Fossilien und dann plötzlich über Nacht hat man so viele."
    Bernhard Zipfel zeigt auf den Knöchel des weiblichen Skeletts. Dann holt er aus einer Schachtel die Nachbildung dreier Knochen hervor, die den Anthropologen großes Kopfzerbrechen bereitet hatten, vor allem das Fersenbein. Wäre es nicht im Skelett-Verbund entdeckt worden, hätte es niemand mit dem Rest des Körpers in Verbindung gebracht:
    "Wäre das aus einer Stelle gewesen, hätte ich gesagt: dieses ist menschlich, aus einer anderen Stelle, hätte ich gesagt, das ist ein primitiver Affe aus dem Miozän oder so was ähnliches, aber sie sind von dem gleichen Individuum."
    Das Fußgelenk ist eine Mischung aus alten und neuen anatomischen Merkmalen. Während die Knochen an sich sehr primitiv wirken, sind sie in ihrer Funktion schon sehr modern, wie bei Vertretern von Homo. Auch das Verhältnis von Armlänge, die sehr äffisch ist, zur Ausprägung der Hand, die menschlich daherkommt, zeigt die mosaikhafte Anatomie dieses Frühmenschen. Die Analyse legt nahe: Die einfachen Konzepte der Menschwerdung – ein schneller und gleichmäßiger Übergang von primitiv zu modern – können nicht stimmen.
    "Das sagt uns, dass manche Teile von einem Skelett schneller evolvieren als andere und dass das für uns vielleicht nicht ganz Sinn macht. Man muss auch denken, dass dieses Primaten sind, die aufrecht laufen konnten, so ähnlich wie wir das tun, aber sie konnten auch in Bäume klettern und die haben auch Arme und Beine, die das machen konnten."
    Vor drei bis zwei Millionen Jahren lebte noch kein Mensch, aber verschiedene Frühmenschenarten in Südafrika. Welche Ereignisse legten den Grundstein dafür, dass sich aus ihnen unsere Gattung Homo entwickelte? Um das zu verstehen, hat sich Job Kibii die Umweltbedingen angesehen.
    "Vor zwei Millionen Jahren sah hier alles anders aus. Dort, wo wir heute in Sterkfontain die Höhlen der Cradle of Humankind haben, erstreckten sich bewaldete Gebiete, die teilweise in offene Graslandschaften übergingen. Wir haben Beweise, dass es damals auch Lianen gab. Diese Kletterpflanzen gibt es heute in Afrika nur in Äquatornähe wie dem Kongo."
    Das Klima habe sich damals spürbar verändert. Es regnete immer weniger, die Wälder verschwanden und wurden mehr und mehr von einer offenen Landschaft abgelöst.
    "Es gab einmal diese Savannengebiete, dann wieder tropische Wälder. Australopithecus sediba muss also damals, vor zwei Millionen Jahren an all diese Gegebenheiten angepasst gewesen sein."
    Die Fähigkeit des gegenseitigen Warnens
    Australopithecus sediba hatte es gleich mit mehreren Raubtieren zu tun; mit in den Wäldern beheimateten Leoparden, aber auch mit Hyänen, die durch die offene Savanne streiften. Aus vergleichenden Studien mit heutigen Affenarten weiß man, dass unter solchen Umständen die Fähigkeit zur Kommunikation einen Überlebensvorteil bietet.
    "Die Frühmenschen mussten sich also gut verständigen können und gegenseitig warnen, etwa 'wenn Du dahin gehst, triffst du auf diesen Angreifer, wenn du in die Savanne gehst, auf jenen.' Das ist, was wir vermuten."
    "Dank dieser Kommunikationsfähigkeit haben sich die Menschen dort weiterentwickelt bis zu uns heute als eine Art Endstation."
    In Sterkfontein führt Arend Mothokgo seine Besucher wieder ans Tageslicht. Er geht voran, über einen Weg mit Holzplanken, zu einem zweiten, dem natürlichen Eingang der Höhle – ein großes, zerklüftetes Loch im felsigen Untergrund. Er zeigt nach unten.
    Hier entdeckten Forscher 1947 den Schädel von Mrs. Ples, die neueren Erkenntnissen zufolge doch keine Frau, sondern ein Mann war. Die Fundstätte ist eingerüstet. Drei Männer machen sich mit Hammer und Stemmeisen am vom Regen feuchten Felsen zu schaffen. Die Ausgrabungen sind auch heute noch längst nicht abgeschlossen.
    In den weitverzweigten Höhlensystemen in Südafrika wurden in den letzten Jahren unzählige Knochen entdeckt, darunter solche von robusten, sehr primitiven Arten, die nicht als unsere Vorfahren nicht in Frage kommen. Vor allem aber viele hundert Frühmenschenartefakte. Alle neu entdeckten Fossilien kommen nach Johannesburg, wo sie begutachtet, geröntgt, präpariert und wissenschaftlich begutachtet werden. Ein Riesenberg Arbeit. Allein Australopithecus sediba hat die Forscher um Lee Berger vier Jahre lang in Anspruch genommen.
    "Manchmal denke ich, dass wir Paläoanthropologen zu sehr unseren eigenen, alten Geschichten glauben. Wir denken, dass Fossilien von Frühmenschen die seltensten Objekte der Welt sind und wenn wir mal etwas finden, dann kommt das einem Lottogewinn gleich. Um im Bild zu bleiben: Wenn man aber danach keinen weiteren Lottoschein kauft, wird man niemals den Jackpot ein zweites Mal knacken."
    Lee Berger jedenfalls wollte sich mit dem einen großen Fund nicht zufriedengeben.
    In Sterkfontein gibt es auch eine Kantine. Hier treffen sich Museumsmitarbeiter, Touristenführer. Und Höhlenforscher wie Pedro Boshoff, ein imposanter Mann mit Glatze und Schnauzbart. Der Geologe und Höhlenkletterer trägt wie immer einen Blaumann, die rotkarierte Mütze samt Bommel hat er neben sich gelegt, während er erzählt.
    "Lee hatte mich beauftragt, alle Höhlen im Rising Star System systematisch nach neuen Fossilienstätten zu durchsuchen."
    Das war im Herbst 2013. Pedro Boshoff begann die Westseite der Cradle of Humankind zu durchforsten, ein Höhlensystem names Rising Star. Dabei stieß er auf einen winzigen Eingang, nur 17 Zentimeter breit. Zu schmal für den stämmigen Mann. Er fragte zwei Kollegen, ob sie es nicht versuchen könnten. Einer davon war der spindeldürre Steve Tucker, der sich mit seinem Kaffee dazugesellt.
    "Ich gehöre halt zu den schlaksigen Typen, die sich durch solche schmalen Gänge zwängen können, aber so wenige Zentimeter waren auch für mich eine Herausforderung."
    Die Gegend war berüchtigt wegen vieler Unfälle.
    "Ich nenne sie die Menschenfresserhöhle. Sie ist gefährlich, wenn man eine Minute nicht aufpasst, kann man sich sehr schnell sehr schwer verletzen."
    Aber Steve und sein Kollege waren vorsichtig.
    "Es war aufregend, durch diesen kleinen Eingang sich nach unten zu begeben. Die Höhle ist eigentlich bekannt, aber diese Ecke des Systems hatte nie einer beachtet. Wir haben dort direkt viele Fossilien entdeckt, wir hatten aber keine Ahnung, wie alt sie waren, wie viele es waren oder zu welcher Menschenart sie gehörten."
    Die beiden machten ein paar Fotos und kamen wieder nach oben. Nachdem Pedro Boshoff die Fotos gesehen hatte, versuchte er sofort, mit Lee Berger Kontakt aufzunehmen.
    "Es war schon spät und ich konnte Lee telefonisch nicht erreichen, also fuhr ich zusammen mit Steven Tucker zu seinem Haus. Wir klingelten an der Tür, Lee öffnete und ich sagte nur 'Du willst uns auf jeden Fall hereinlassen.' Wir bekamen Kaffee serviert. Ich klappte meinen Laptop auf und zeigte Lee die Fotos. Sein Unterkiefer klappte nach unten und dann gingen wir vom Kaffee sehr schnell zum Bier über."
    "Mehr als 1.200 Fragmente von Frühmenschenskeletten"
    So begann die Rising Star Expedition. Lee Berger entschied sich für eine weltweite Ausschreibung. Er suchte kleine, wendige und höhlenerfahrene Nachwuchswissenschaftler, die alles stehen und liegen lassen konnten, um drei Wochen später an einem einzigartigen Projekt teilzunehmen. 50 qualifizierte Bewerbungen gingen ein, sechs Frauen erhielten den Zuschlag. Die auf eine Woche angesetzte Ausgrabung wurde ein unglaublicher Erfolg.
    "Am Ende der Woche hatten wir schon genauso viele Fossilien ausgegraben, wie jemals zuvor in Sterkfontein gefunden wurden. Zum Schluss waren es mehr als 1.200 Fragmente von Frühmenschenskeletten, was mehr Teile sind, als alle Funde im südlichen Afrika in den vergangenen 90 Jahren zusammen."
    Sprecherin: Im Januar 2014 fand eine zweite Grabung statt, im Mai dann ein Workshop, in dem alle Fossilien wissenschaftlich untersucht wurden. Einer der Leiter des Rising Star Projekts ist der US-amerikanische Paläoanthropologe John Hawks von der Universität von Wisconsin in Madison.
    "Nummeriert haben wir 1751 Fossilien. Viele Stücke können wir zuordnen, wissen also, ob das jetzt von einem Oberschenkelknochen oder vom Schienbein stammt. Hunderte Knochen sind vollständig, dazu haben wir eine vollständige Hand und einen ganzen Fuß. Außerdem haben wir mehr als 150 Zähne."
    Wie vielen Individuen das entspricht, ist noch nicht ganz klar. Mindestens 15 seien es in jedem Fall und das sei nur eine konservative Schätzung. Wenn 15 rechte Schlüsselbeine vorliegen, ist die Hochrechnung einfach. 24 Rippen hingegen können alle von einer Person stammen, aber eben auch von 24 verschiedenen. Datieren ließ sich die Fundstätte bislang nicht. Klar ist aber, dass die Knochen alt sein müssen.
    "Die Knochen sind nicht menschlich, gehören also nicht zu unserer Spezies, es ist eher das, was wir Frühmenschen nennen."
    In der Höhle wurden nur Menschenknochen gefunden, keine Kleidung oder Werkzeuge, keine Tierknochen. Es könnte sein, dass die Knochen in die Höhle geschwemmt wurden.
    "Wir haben alles, was es in einer Population gibt. Erwachsene, Heranwachsende, Kinder und Babys. Vermutlich Frauen und Männer."
    Die Rising-Star-Knochen weisen ebenso wie die von Australopithecus sediba mosaikhafte Züge auf. Viel mehr kann John Hawks noch nicht verraten, denn die Ergebnisse sind noch nicht publiziert.
    "Ich denke, dass wir eine gute Hypothese haben, um was es sich bei diesen Individuen handelt. Das war nicht einfach, schließlich galt es, Daten einer ganzen Population zu analysieren. Und jetzt warten wir mal ab, was die Gutachter dazu sagen."
    Im Frühjahr sollen die Daten in einem hochrangigen Fachjournal veröffentlicht werden. Das ist aber noch lange nicht das Ende der Rising Star Expedition. Gerade einmal die Grundfläche von einem Quadratmeter wurde bislang ausgegraben, so viele Knochen lagen übereinander. Geologe Pedro Boshoff verrät noch mehr.
    "Wir hier wissen das alle und ich kann Ihnen versichern: da unten liegen jede Menge Hominidenfossilien."
    Hunderte neue Frühmenschenfossilien gibt es plötzlich. Nicht nur einzelne Knochen, sondern ganze Skelette, gar ganze Populationen werden in den kommenden Jahren analysiert werden. Besonders die Funde von Australopithecus sediba und die der Rising-Star-Expedition zeigen, wie sehr die Wissenschaft umdenken muss. Es tritt etwas zutage, was sich viele Forscher bis vor Kurzem noch nicht vorstellen konnten, sagt Direktor Francis Thackory.
    "Da gibt es diese aufregende Entwicklung in der Paläoanthropologie, dass die Grenzen zwischen den einzelnen Frühmenschenarten verschwimmen. Früher konnte man problemlos jedes neue Fossil einer neuen Art zuordnen."
    Aus Australopithecus sollte sich, so die bisherige Lehrmeinung – irgendwo in Ostafrika - die Gattung Homo entwickelt haben, zunächst Homo habilis, dann Homo erectus, schließlich Homo sapiens. Doch so geradlinig kann die Entwicklung nicht verlaufen sein. Es tauchten immer weitere Funde auf, man behalf sich mit neuen Namen. Aber, repräsentierten sie wirklich so viele verschiedene Arten? Einiges deutet darauf hin, dass die Frühmenschen die Schwelle zur Gattung Homo vielleicht auch in Südafrika passiert haben. Die neuen Funde verkomplizieren das Bild der Frühzeit des Menschen damit erheblich. Die Verästelungen im Stammbaum der Menschheit sind kaum noch zu überblicken. Vielleicht wäre es besser, satt von einem Stammbaum von einem Stammbusch zu reden.
    Das 'Luxusproblem' der vielen Funde
    "Schon Charles Darwin selbst hatte das Problem erkannt. Bei Studien an Rankenfußkrebsen hatte er bemerkt, dass bei kleinen Stichproben eine Arteinteilung – das ist Spezies A, das ist Spezies B, diese hier C - kein Problem war. Je mehr Material er jedoch zur Analyse hatte, desto schwieriger wurde die Kategorisierung, Grenzen verschwammen. Um das Problem zu lösen, brachte er den Begriff der Variationen ins Spiel."
    Dieser Herausforderung, Lebewesen in Kategorien zu stecken, ihnen Namen zu geben, haben sich nun auch Paläoanthropologen zu stellen, eben weil es auf einmal so viele Funde gibt. Eigentlich ein Luxusproblem.
    "Und wir haben heute genau dasselbe Problem mit unseren Frühmenschenfossilien in Afrika. Heute kennen wir 20 Hominidenarten, die in den letzten sieben Millionen Jahren gelebt haben sollen."
    Vielleicht sind die alten Einteilungen heute nicht mehr haltbar, räumt auch Bernhard Zipfel ein.
    "Das war für uns nun eine interessante Erfahrung, in dem wir etwas vorsichtiger sein werden in der Zukunft, wenn wir isolierte Knochen studieren, dass wir vielleicht vorsichtig sind, wie wir diese interpretieren."
    Der Umbruch in der Paläanthropologie ist in vollem Gange. Ob Südafrika nun den Osten des Kontinents als fundreichste Stätte für Frühmenschenfossilien verdrängt oder nicht, ist unerheblich. Den Forschern um Lee Berger wird mehr und mehr klar, dass ein Flecken Erde allein das Rätsel sowieso nicht wird lösen können. Dazu ist die Geschichte der Menschwerdung viel zu kompliziert.
    In der Höhle der Menschenartigen. Ahnenforschung im Süden Afrikas
    Eine Sendung von Michael Stang
    Regie: Claudia Kattanek
    Redaktion: Christiane Knoll