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Palästina
Muriel Asseburg schreibt über ein Volk ohne Staat

Die Nahost-Expertin Muriel Asseburg erzählt die Geschichte Palästinas von der Gründung Israels 1948 bis heute. Kriege, Aufstände und Friedensinitiativen kommen ebenso vor wie palästinensische Selbstverwaltung und Kultur.

Von Matthias Bertsch | 04.10.2021
Muriel Asseburg: "Palästina und die Palästinenser. Eine Geschichte von der Nakba bis zur Gegenwart"
Über Israel als Besatzungsmacht und palästinensische Gegenwehr schreibt Muriel Asseburg (Buchcover: C.H. Beck Verlag, Hintergrund: IMAGO/Xinhua/Yin Bogu)
"Die Regierung Seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina."
In diesen Worten wird das ganze Dilemma deutlich. Ein britischer Außenminister verspricht einem britischen Zionisten den Aufbau eines Staates in einem Gebiet, in dem zu über 90 Prozent Nichtjuden leben. Die Balfour-Deklaration von 1917 ist auch für Muriel Asseburg ein zentraler Ausgangspunkt ihrer Analyse des inzwischen über 100-jährigen Streits um das Land zwischen Mittelmeer und Jordan. Mit dem Untergang des Osmanischen Reiches am Ende des Ersten Weltkrieg übernahm – aller Reden vom Selbstbestimmungsrecht der Völker zum Trotz - nicht etwa die lokale Bevölkerung das Sagen in Palästina, sondern die vom Völkerbund eingesetzte britische Mandatsmacht.
"In den Jahren 1919 – 1928 wurden von einem Netzwerk muslimisch-christlicher Gesellschaften sieben arabisch-palästinensische Kongresse organisiert. In Eingaben bei der Pariser Friedenskonferenz 1919/20, Petitionen an die Mandatsmacht und Appellen an den Völkerbund lehnten sie die Balfour-Erklärung ab und forderten eine Regierung auf Basis der Bevölkerungsmehrheit, palästinensische Unabhängigkeit sowie das Ende jüdischer Immigration und Landkäufe."

Begleitumstände der jüdischen Staatsgründung

Der jüdisch-arabische oder israelisch-palästinensische Konflikt, der im Zentrum des Buches steht, leidet von Anfang an unter einer Asymmetrie: Auf der einen Seite eine hoch motivierte und organisierte Bewegung, mit guten diplomatischen Beziehungen auf internationaler Ebene, deren Ziel ein souveräner Nationalstaat nach europäischem Vorbild ist, auf der anderen eine Bevölkerung, die zwar vor Ort verwurzelt ist, aber sich überhaupt erst in Abgrenzung zum zionistischen Projekt als Nation zu verstehen beginnt. Das ist alles nicht neu. Neu dagegen sind manche hier aufgeführte Details, die den Auf- und Ausbau des jüdischen Staates begleiteten, zum Beispiel die Plünderungen während des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1947 bis `49, in dessen Verlauf rund 750.000 Araber vertrieben wurden.
"Geplündert wurde nahezu im ganzen Land, und beteiligt waren nicht nur jüdische Guerillakämpfer und Soldaten, sondern auch ein erheblicher Teil der jüdischen Zivilbevölkerung. Vielen Plündernden war ihr unmoralisches Handeln sehr wohl bewusst. Oftmals kannten sie die Besitzer der betreffenden Häuser und es war allgemein bekannt, dass die palästinensische Bevölkerung sich großenteils nicht aktiv an den Kämpfen beteiligt hatte."
Dass sich die arabischen Nachbarstaaten mit Ausnahme Jordaniens weigerten - und dies bis heute tun -, die Flüchtlinge zu Staatsbürgern zu machen und ihnen damit eine Perspektive für eine neue Heimat zu bieten, ist aus Asseburgs Sicht legitim.
"Ein gewichtiger Grund dafür war, dass etwa im Libanon eine vollständige Integration zu Verschiebungen in der Bevölkerungszusammensetzung geführt hätte, welche das friedliche Zusammenleben zwischen den ethnischen und konfessionellen Gruppen garantieren sollte."

Der Widerstand der Palästinenser

Das Argument ist insofern aufschlussreich, als Israel sich aus dem gleichen Grund so vehement gegen das für die Palästinenser zentrale Recht auf Rückkehr wendet: um jüdisch und demokratisch zu sein, darf sich die Bevölkerungszusammensetzung im jüdischen Staat nicht zu sehr zugunsten der arabischen Minderheit verschieben.
Die Sicherung und Ausweitung des jüdischen Staates auf Kosten der Palästinenser und der palästinensische Widerstand dagegen, das sind die beiden Erzählstränge, die das Buch durchziehen, egal ob es um die Gründung der PLO, den Sechs-Tage-Krieg 1967, der mit der israelischen Besetzung des Westjordanlandes endete, die erste Intifada oder das Oslo-Abkommen 1993 geht. Dass auch in den Friedensverhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern das israelische Sicherheitsbedürfnis über dem palästinensischen Wunsch nach einem souveränen Staat stand, ist im Westen lange ausgeblendet worden. Israel zog sich zwar aus den palästinensischen Städten zurück, doch die jüdischen Siedlungen im Westjordanland wuchsen weiter - und die Sicherung dieses Status Quo war plötzlich auch Aufgabe der Palästinensischen Autonomiebehörde.
"Mit der wiederholten Verschiebung der Staatsausrufung und der Verlängerung der Interimsperiode sowie mit der Fortführung der israelisch-palästinensischen Sicherheitszusammenarbeit erschien die Palästinensische Autonomiebehörde in den Augen der Bevölkerung immer stärker als Handlangerin der Besatzungsherrschaft statt als Befreierin von derselben."
Die enttäuschten Hoffnungen entluden sich 2000 in der zweiten Intifada, in der nicht mehr nur Steine geworfen, sondern Bomben gezündet wurden. Dutzende Selbstmordattentate konnten zwar die massive militärische Überlegenheit Israels nicht gefährden, aber sie hinterließen tiefe Spuren bei der Bevölkerung.
"Auf jeden Fall war die Botschaft, die bei den Israelis ankam, dass sie auch in den Grenzen von 1967 nicht sicher waren. Denn es wurden insgesamt mehr Israelis in Israel als in den palästinensischen Gebieten und mehr als doppelt so viele israelische Zivilisten wie Sicherheitskräfte getötet."

Eingeengte Perspektive

Das ist eine der wenigen Stellen, an denen die israelisch-jüdische Perspektive eine wichtige Rolle spielt. Und das ist das große Manko dieses gut recherchierten und faktenreichen Buches. Es beschränkt sich weitgehend auf das dominante palästinensische Narrativ: Israel als siedlungskolonialistisches Projekt, gegen das Widerstand legitim ist. Das ist nicht falsch, aber der jüdische Staat ist mehr. Er ist auch Rückkehr- und Zufluchtsort am Ende einer langen Geschichte, vor allem einer Verfolgungsgeschichte, für deren furchtbaren Höhepunkt nicht die Palästinenser, sondern wir Deutschen verantwortlich sind. Ohne den ergänzenden Blick, der den unbedingten Kampfes- und Überlebenswillen der jüdischen Seite mit einbezieht, wird es keine Perspektive für eine gemeinsame Zukunft beider Völker zwischen Mittelmeer und Jordan geben – egal ob Ein- oder Zweistaaten-Lösung. Doch dieser Blick entlässt Israel nicht aus seiner Verantwortung als Besatzungsmacht.
Muriel Asseburg: "Palästina und die Palästinenser. Eine Geschichte von der Nakba bis zur Gegenwart"
C.H. Beck Verlag, 365 Seiten, 16,95 Euro.