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Palästina ohne Perspektive

Mehr als 60 Jahre nachdem der Konflikt mit der Gründung Israels 1948 begann und 16 Jahre nach dem Osloer Abkommen von 1993, mit dem der damals viel versprechende Friedensprozess nach dem Prinzip "Land für Frieden" anfing, sind Israelis und Palästinenser einem friedlichen Nebeneinander nicht näher gekommen.

Von Birgit Kaspar | 18.12.2009
    Der Traum von der alten Heimat, als ein Paradies von Orangenhainen, Olivenbäumen und plätschernden Bächen verklärt, wird nicht sterben. Ihn besingen die Jüngsten im Kindergarten des palästinensischen Flüchtlingslagers Bourj el Barajneh bei Beirut. Teenager schauen sich auf Google Earth an, wo ihre Eltern und Großeltern gelebt haben.

    "Unser Leben ist hart, es ist voller Bitterkeit,"

    … sagt Um Saleh. Die 73jährige sitzt in einem geblümten Kleid und mit weißem Kopftuch, auf einem abgenutzten Sessel in ihrem kleinen, düsteren Wohnzimmer im Bourj el Barajneh-Camp.

    "Ich würde zu Fuß nach Hause gehen, durch den ganzen Libanon. Ich liebe mein Land."

    Um Saleh gehört zu jenen Palästinensern, die nach der Gründung Israels oder dem 1967-er Krieg in die Diaspora geflohen sind. Viele der heute rund 4,5 Millionen Flüchtlinge wollen nur eines: Zurück in die Heimat, um dort in Frieden und Würde zu leben. Die 3,5 Millionen Palästinenser in der Westbank, in Ost-Jerusalem und im Gazastreifen sehnen sich nach Normalität, Bewegungsfreiheit und Sicherheit in einem eigenen, wirtschaftlich lebensfähigen Staat. Doch mehr als 60 Jahre nachdem der Konflikt mit der Gründung Israels 1948 begann und 16 Jahre nach dem Osloer Abkommen von 1993, mit dem der damals viel versprechende Friedensprozess nach dem Prinzip "Land für Frieden" anfing, sind Israelis und Palästinenser einem friedlichen Nebeneinander nicht näher gekommen. Kaum jemand glaubt, dass der sogenannte Friedensprozess zurzeit wieder belebt werden kann. Alastair Crooke, Leiter des Conflicts-Forums und ehemaliger nahostpolitischer Berater der EU, spricht deshalb vom Beginn einer neuen Ära im Nahost-Konflikt:

    "Eine Abfolge von Ereignissen hat dazu geführt, dass man heute nicht mehr einfach auf den Prinzipien des Osloer Prozesses bestehen kann, denn die Realitäten heute entsprechen nicht mehr denen von 2003 oder noch davor."

    Im Jahr 2003 hatte das sogenannte Nahost-Quartett, bestehend aus Vertretern der USA, Russlands, der EU und der UN, die Road Map als Rahmen und Fahrplan für einen Nahost-Frieden bis zum Jahr 2005 festgeschrieben. Doch selbst die erste Phase dieser Road Map, die ein Ende palästinensischer Gewalt parallel zu einem israelischen Siedlungsstopp vorsah, wurde nie erfüllt. Dennoch ist die Road Map, die ebenso wie der Osloer Prozess auf dem Prinzip "Land für Frieden" basiert, bis heute Grundlage des Friedensprozesses geblieben. Dass die internationale Gemeinschaft, aber auch die Palästinenserführung unter Präsident Mahmoud Abbas, daran weiter festhalten, zeige, wie sehr sie sich gegenüber veränderten Realitäten verschlössen, so Alastair Crooke:

    "Wir alle kennen dieses Mantra: 'Im Prinzip wissen wir, wie die Lösung des Konfliktes aussieht, es fehlt nur der politische Wille dazu'. Ich meine, das stimmt nicht mehr. Ich glaube nicht, dass wir wissen wie die Lösung aussieht, denn wir befinden uns in einer völlig neuen Phase."

    Diese neue Phase wollte eigentlich US-Präsident Barack Obama mit seiner Grundsatzrede im Juni 2009 in Kairo einleiten:

    "So let there be no doubt: The situation for the Palestinian people is intolerable. America will not turn our back on the legitimate Palestinian aspirations for dignity ... ” "

    Es dürfe keinen Zweifel geben, erklärte Obama: Die Amerikaner würden die Palästinenser mit ihrem Streben für ein Leben in Würde und in einem eigenen Staat nicht im Stich lassen.
    Die einzige Lösung für die Bestrebungen beider Seiten bestehe in zwei Staaten, wo jeweils Israelis und Palästinenser in Frieden und Sicherheit lebten.

    Der neue Ton in Obamas Rede, in der er zugleich die unverbrüchliche amerikanisch-israelische Freundschaft beschwor, brachte dem US-Präsidenten in der arabischen Welt Anerkennung. Als Obama kurz darauf einen vollständigen israelischen Siedlungsstopp im besetzten Westjordanland forderte, kam Hoffnung auf, dass sich unter seiner Führung wirklich etwas bewegen könnte. Doch schon ein halbes Jahr später scheint die Obama-Mission vorerst gescheitert, meint Rami Khoury, Leiter des Issam Fares Instituts an der Amerikanischen Universität Beirut:

    ""Dass Obama ein absolutes Einfrieren der Siedlungen forderte, war eine einschneidende Veränderung der US-Politik. Aber seine Unfähigkeit, die Forderung auch durchzusetzen, war enttäuschend. Vielleicht haben wir noch nicht das letzte Wort von Obama gehört. Aber die ersten neun Monate sehen nicht gut aus – die Amerikaner haben zu einer Party eingeladen, aber niemand kam."

    Als der israelische Premier Benjamin Netanjahu stattdessen einen partiellen und auf zehn Monate begrenzten Baustopp anbot, knickte Washington ein. George Mitchell, der US-Sondergesandte für den Nahen Osten, erklärte:

    "Obwohl es kein komplettes Einfrieren ist, glauben wir, dass die von Netanjahu angekündigten Schritte spürbare Folgen haben werden. Es ist das erste Mal überhaupt, dass eine israelische Regierung die Genehmigung neuer Häuser stoppt."

    Das bedeute nicht, dass Washington die Legitimität neu errichteter israelischer Siedlungen anerkenne, auch in der Jerusalem-Frage habe sich die US-Politik nicht verändert, der Status Jerusalems müsse in Verhandlungen geklärt werden, betonte Mitchell.

    Doch wird die Enteignung und Besiedlung besetzten Landes nach Angaben der israelischen Friedensbewegung "Peace Now" trotz des zehnmonatigen Moratoriums praktisch fortgesetzt. Das hat einschneidende Konsequenzen für die Vision einer Zwei-Staaten-Lösung. Für den ehemaligen jordanischen Außenminister Taher al-Masri ist die Botschaft der Siedlungen klar:

    "Die Israelis wollen das ganze Land, davon ist man in der arabischen Welt überzeugt. Sie verleiben es sich langsam über die Jahre ein, jetzt haben wir rund eine halbe Million Siedler in den besetzten Gebieten und ihre Zahl steigt. Wie wollen die Israelis uns vor diesem Hintergrund davon überzeugen, dass sie wirklich Frieden wollen?"

    Das Westjordanland gleicht schon heute einem Flickenteppich, wo die palästinensische Autonomiebehörde ein paar nicht zusammenhängende Flecken kontrolliert, während die restlichen 60 Prozent des Gebiets der israelischen Armee unterstehen. Die Palästinenser lebten abgetrennt voneinander durch mehr als 500 israelische Checkpoints und Straßenblockaden, erklärt Karen Abu Zaid, die Leiterin der UN-Hilfsorganisation für palästinensische Flüchtlinge UNRWA:

    "Die Palästinenser leben in einem Mosaik von Enklaven. Bewegungsfreiheit für Menschen oder Güter gibt es nicht, jedenfalls nicht im Sinne von Menschenrechtsgeboten. Das soziale und wirtschaftliche Leben der Palästinenser wird erstickt. Armut, Arbeitslosigkeit und Würdelosigkeit sind die Fixpunkte einer freudlosen Existenz."

    Im Gazastreifen, der seit dem israelischen Rückzug 2005 weitgehend abgeriegelt ist, seit dem Gazakrieg im Januar 2009 in verschärfter Form, sieht die Lage noch düsterer aus. Rund 80 Prozent der 1,5 Millionen Palästinenser leben dort nach UN-Angaben in tiefer Armut. Die Verbindungen zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland sind nicht nur geografisch sondern auch politisch gekappt: Die radikal-islamische Hamas kontrolliert seit Juni 2007 den dicht besiedelten Küstenstreifen, die Fatah-Bewegung unter dem vom Westen unterstützten Präsidenten Mahmoud Abbas, herrscht über rund zwei Millionen Palästinenser im Westjordanland. Während Abbas einen Verhandlungsfrieden mit Israel sucht, setzt die Hamas auf den bewaffneten Widerstand zur Befreiung des besetzten Landes. Für Palästinenserpräsident Abbas sind die 1967-Grenzen als Verhandlungsgrundlage sowie ein Ende des israelischen Siedlungsbaus Voraussetzung für eine Wiederaufnahme von Friedensgesprächen.

    Doch die Grenzen von 1967 sind für die Netanjahu-Regierung tabu. Ihre Planspiele sehen vor, dass Jerusalem die ungeteilte Hauptstadt Israels ist, zumindest die großen Siedlungsblöcke einverleibt werden und dass die Grenze zu Jordanien und damit das Jordantal weiterhin von Israel kontrolliert werden. Dennoch spricht Premier Netanjahu von einer Zwei-Staaten-Lösung, wenn auch mit Zurückhaltung:

    "So tief wir mit unserem Heimatland verbunden sind, so erkennen wir doch, dass dort auch Palästinenser leben. Und sie wünschen sich ein eigenes Zuhause. Wir wollen Seite an Seite mit ihnen leben. Zwei freie Völker, die in Frieden, Prosperität und Würde leben."

    Zuvor müssten die Palästinenser Israel allerdings als jüdischen Staat anerkennen, so Netanjahu. Eine Bedingung, die bei den Palästinensern die Frage aufwirft, ob dies die Ausbürgerung von mehr als einer Million palästinensischer Israelis bedeute.

    Die Fronten zwischen Israelis und Palästinensern haben sich in den letzten Jahren verhärtet. Beide Seiten machten aus ihrer Sicht die Erfahrung, dass der Osloer Friedensprozess sie ihrem jeweiligen Ziel nicht näher brachte. Das habe zu politischen Veränderungen in Israel wie bei den Palästinensern geführt, unterstreicht Alastair Crooke vom Conflicts-Forum:

    "Die Israelis scheinen im Prinzip 'Land für Frieden' keine Lösung ihrer Sicherheitsprobleme mehr zu sehen. Ich denke, nach dem israelischen Abzug aus dem Libanon sowie dem Rückzug aus dem Gazastreifen zweifeln sie daran, dass die Rückgabe von besetztem Gebiet ihnen die gewünschte Sicherheit bringt. Aus ihrer Sicht führte sie zur Bedrohung durch Raketen. Das ist eine bedeutende Veränderung. Die israelische Bevölkerung sucht heute nach neuen Garantien für ihre Sicherheit."

    Auf palästinensischer Seite sei etwas ganz Ähnliches passiert, meint Crooke:

    Die Palästinenser hätten erlebt, dass der israelische Rückzug aus Gaza letztlich die Rationierung von Benzin, Strom, Wasser und allem möglichen bedeute. Ihrem eigenen Staat seien sie keinen Schritt näher gekommen. Rückzug unter den Bedingungen israelischer Sicherheitsauflagen, wie Netanjahu sie definiere, sei nicht viel anders als Besatzung, so Crooke. Es bedeute weder einen Staat, noch Souveränität, es sei Besatzung unter neuen Bedingungen.

    "Ich denke, wir befinden uns in einer neuen Ära und es kann keine Rede mehr davon sein, den alten Friedensprozess einfach wieder aufs Gleis zu setzen. Wir müssen eine neue Herangehensweise finden. Wird das geschehen? Die Chancen sind nicht groß, denn bis jetzt sehen wir nur, wie die Europäer und Amerikaner mit Entsetzen auf den Gedanken reagieren, dass die alten Strukturen nicht mehr angemessen sein könnten. Sie wollen am Bekannten festhalten. Aber diese Haltung wird die Dinge langfristig noch schwieriger gestalten."

    In der Region herrsche weitgehende Einigkeit, dass man mit den alten Rezepten nicht weiterkomme, betont der jordanische Ex-Außenminister al-Masri:

    "Auch die Palästinenser müssen sich etwas anderes überlegen als nur Verhandlungen zu fordern. Das heißt nicht, dass sie in den Krieg ziehen sollten. Aber die Zeiten, in denen sie sich auf die guten Absichten der Amerikaner oder Europäer verlassen haben, oder auf eine positive Antwort aus Israel, die Zeiten sind jetzt vorbei."

    Doch wie sehen die Alternativen aus? Eine binationale Ein-Staaten-Lösung, wie einige Palästinenser sie wieder diskutieren? Die alte Transfer-Lösung nach dem Motto "Jordanien ist Palästina"? Oder die institutionelle Vorbereitung auf eine einseitige Ausrufung eines Palästinenserstaates? All diese Ideen haben nach Ansicht Rami Khourys keine Chance:

    "Sie sind alle völlig unrealistisch. Es sind Überlegungen gescheiterter Führer, die verzweifelt nach einem Weg suchen, ihr Gesicht zu wahren. Meine Schlussfolgerung lautet im Augenblick: Der Stillstand wird andauern, wir werden vermutlich eine Verschärfung des israelischen Rassismus, des Militarismus und der Kolonialisierung sehen. Auf der palästinensischen Seite wird sich der zivile und militärische Widerstand neue Ausdruckformen suchen, die Spannungen werden sich verschlimmern."

    Die Menschen in Israel und in den Palästinensergebieten dürften den Preis für eine solche Entwicklung zahlen. Wobei es den Israelis nach Ansicht von Efraim Inbar, Politikwissenschaftler an der Bar-Ilan Universität in Tel Aviv, leichter falle, damit zu leben. Die Israelis bräuchten den Frieden nicht. Jedenfalls nicht, wenn sie dafür einen Preis zahlen müssten. Die Sticheleien der Hamas und der libanesischen Hisbollah seien zwar nicht angenehm, aber man könne damit umgehen, unterstreicht Inbar.

    Alastair Crooke sieht darin einen Rückzug der Israelis in ihre "Festung Israel":

    "Die Israelis bewerten heute den Ausgang des Libanonkrieges 2006 und des Gazakrieges 2008 als gar nicht so schlecht. An beiden Fronten ist es seither ziemlich ruhig. Sie sagen sich: Vielleicht reicht es ja, wenn wir in Abständen immer wieder den Vorschlaghammer rausholen – die Israelis gebrauchen die Formulierung 'regelmäßig das Gras mähen'. Und im Westjordanland üben sie so viel Kontrolle aus, dass dort nicht viel passieren kann."

    Während Israel möglicherweise in dieser Festungsmentalität eine Weile überwintern kann, stehen die Palästinenser mit dem Rücken zur Wand, denn der Leidensdruck unter den Menschen ist hoch. Für einen Teil ist der bewaffnete Widerstand die Antwort. Die anderen suchen eine politische Lösung unter einer glaubhaften politischen Führung. Die Riege um Präsident Abbas ist in den Augen vieler disqualifiziert. Rami Khoury:

    "Ich sehe nicht einen Erfolg, den Abbas vorweisen könnte, wenn wir über nationale palästinensische Ziele reden. Die Lage der Palästinenser ist heute viel schlechter als vor zehn oder 20 Jahren."

    Insofern wäre ein Rücktritt von Abbas sowie der gesamten Autonomiebehörde eine folgerichtige Konsequenz der Entwicklung.

    "Die Palästinenser benötigen eine Neugruppierung und Legitimierung ihrer politischen Führung, eine Mannschaft, die einen palästinensischen Konsens repräsentiert. Das bedeutet auch eine stärkere Einbeziehung der Flüchtlinge, die unter der Autonomiebehörde komplett marginalisiert wurden. Dabei bilden sie das Herz des palästinensischen Volkes."

    Auch die Hamas sollte in einer solchen neuen Palästinenserführung nicht fehlen. Es gibt Leute innerhalb der Fatah-Bewegung wie Marwan Barghouti, der in israelischer Haft sitzt oder Hussam Khader in Nablus, die einen solchen Weg begrüßen würden. Fraglich ist aber, in welchem Maße die sogenannte "Alte Garde" bereit ist, von ihrer beschränkten Macht zu lassen. Es dürfte ein langer, schmerzhafter Prozess werden, warnt Alastair Crooke. Das Beste, was der Westen und die arabischen Staaten jetzt tun könnten, sei deshalb den Erneuerungsprozess der Palästinenserführung zu unterstützen.

    "Wir sollten zugeben, dass wir nicht mehr wissen, wie die Lösung aussieht. Wir wissen nicht, was mit den Flüchtlingen passieren wird. Oder mit Jerusalem. Wir wissen nicht wie es ausgehen wird. Wir sollten sehr sorgfältig nachdenken, neue Ideen in Erwägung ziehen und nicht mehr die abgenutzten, alten Karten auf den Tisch legen."

    Die meisten Menschen in der Region hoffen trotz allem, dass Frieden irgendwann möglich sein wird. Doch wie der Weg dorthin aussehen könnte und wie lange es noch dauern wird, diese Fragen vermag heute niemand zu beantworten.