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Panorama der Moskauer Dissidentenbewegung

Um die russische Intelligenzia vom Tod Stalins bis in die 90er-Jahre hinein kreist der Roman "Das grüne Zelt". Dabei imaginiert Ljudmila Ulitzkaja das Leben dieser Andersdenkenden nicht etwa als Heldenepos, sondern mit allen menschlichen Stärken und Schwächen, in seiner ganzen bunten Vielfalt und Zerstrittenheit.

Von Karla Hielscher | 18.10.2012
    Was wüssten wir über das Alltagsleben von Menschen einer bestimmten historischen Epoche ohne die Literatur? Und da muss man nicht nur an die unsterblichen Meisterwerke der Weltliteratur denken! Unterhaltsam geschriebene, welthaltige, realistische Darstellungen, die erlebte Zeitgeschichte im Erzählen reflektieren und bildhaft erfassen, sind eine wichtige und legitime Aufgabe der Prosa.

    Und Ljudmila Ulitzkaja ist eine Schriftstellerin, die das kann: immer wieder hat sie in ihren Büchern mit viel Fantasie, Fabulierlust und Menschenkenntnis die unterschiedlichsten Lebensgeschichten von Menschen im 20. Jahrhundert imaginiert und damit ein breites Leserpublikum angesprochen.

    In ihrem neuen, fast 600 Seiten umfassenden Roman entfaltet sie ein breit angelegtes Panorama über das Leben der russischen Intelligenzija der Sowjetzeit. Es stellt die gelebte Geschichte ihrer eigenen Generation dar, das heißt die Jahrzehnte von Stalins Tod bis in die 90er-Jahre hinein, wobei die Zeitspanne durch die erzählten Familiengeschichten oft bis weit in vorrevolutionäre Zeiten zurückreicht. Als Motto ist dem Roman ein Satz aus einem Brief Pasternaks an Warlam Schalamow vorangestellt:

    "Trösten Sie sich nicht damit, dass die Zeit im Unrecht ist. Dass sie moralisch im Unrecht ist, bedeutet noch nicht, dass wir im Recht sind, ihre Unmenschlichkeit heißt nicht, dass wir, weil wir mit ihr nicht einverstanden sind, allein dadurch schon Menschen sind."

    Es geht in diesem Buch also um die nicht Einverstandenen, die Dissidenten, es geht um das Milieu der Moskauer Intellektuellen, für deren Fühlen und Denken die offizielle Sowjetideologie überhaupt keine Rolle mehr spielt. Und das Leben dieser Andersdenkenden wird nicht etwa als Heldenepos gezeigt, sondern mit allen menschlichen Stärken und Schwächen, in seiner ganzen bunten Vielfalt und Zerstrittenheit:

    "Die einen waren für Gerechtigkeit, aber gegen die Heimat, andere waren gegen die Regierung, aber für den Kommunismus, wieder andere strebten nach einem 'wahren Christentum'; dann gab es noch die Nationalisten, die von der Unabhängigkeit ihres Litauen oder ihrer Westukraine träumten, und die Juden, die nur von Ausreise sprachen. Und es gab die große Wahrheit der Literatur."

    Den Haupterzählstrang bildet die Geschichte von drei Freunden, die schon in der Schule als Außenseiter auffallen: Das ist der fröhliche, abenteuerlustige Ilja, der unter ärmlichsten Bedingungen bei seiner allein stehenden Mutter aufwächst, und dessen schlummerndes Talent zum Künstler und Unternehmer geweckt wird, als er vom fern lebenden Vater einen Fotoapparat geschenkt bekommt. Angefangen von der Massenpanik bei der Aufbahrung Stalins fotografiert er nun alles, baut ein riesiges Archiv des gesamten dissidentischen Lebens auf und spielt später - vom KGB unter Druck gesetzt - eine durchaus zwielichtige Rolle.
    Das ist der zarte, übersensible, von Mutter und Großmutter behütete Sanja, der aus einer hoch gebildeten alten Familie stammt, zu deren Vorfahren sogar Dekabristen gehören, und in der die vorbildlichen Traditionen der russischen Intelligenzija des 19. Jahrhunderts noch ganz lebendig sind. Schon als kleiner Junge ist er ein hochbegabter Pianist und wird später in der Emigration in den USA zum bedeutenden Musikwissenschaftler.

    Und das ist Micha Melamid, das jüdische Waisenkind, der Dichter, der mit seiner übergroßen Empathie mit allen Schwachen zuerst Lehrer an einer Taubstummenschule wird, dem seine Mitarbeit in der Dissidentenszene die erhoffte Universitätskarriere in Sonderpädagogik versperrt und ihm drei Jahre Lagerhaft einträgt, und der, von infamen Machenschaften des KGB gedemütigt, schließlich den Freitod wählt.

    Inspiriert, bewegt und organisiert wird die Moskauer Intellektuellenszene durch den Samisdat, den Selbstverlag, die massenhafte Verbreitung von verbotener Literatur, auf zahlreichen, oft kaum lesbaren Durchschlägen abgetippt und von Hand zu Hand weitergereicht.

    "Ein unglaubliches, ganz neuartiges Phänomen. Lebendige Energie, die sich von Quelle zu Quelle weiter verbreitet, Fäden werden gesponnen, es entsteht eine Art Netz zwischen Menschen. Luftwege für Informationen in Form von Büchern, Zeitschriften, abgetippten Gedichten, ganz alten und ganz neuen, neuesten Nummern der Samisdat-Ausgabe 'Chronik'.

    In einem parallelen Erzählstrang geht es um die Schicksale von drei Schulfreundinnen: Die Übersetzerin Olga, Kind von karrierebewussten, überzeugten Parteifunktionären, die aber durch ihre Unterschrift unter einen Protestbrief für einen als Volksfeind verurteilten Dozenten ins Milieu der Dissidenten gerät; die Wissenschaftlerin Tamara, die – obwohl Jüdin - ihr Glück im orthodoxen christlichen Glauben sucht; und die etwas einfältige Galja, die für den Samisdat Manuskripte abtippt und sich ausgerechnet in den Spitzel verliebt, der auf Ilja angesetzt ist, was natürlich zu schlimmen Folgen für den gesamten Freundeskreis führt.
    Mit den ganz privaten Geschichten dieser Figuren samt denen ihrer Lehrer, Eltern, Liebhaber, die alle netzartig miteinander verknüpft sind, wird auch der historische Kontext und die geistige Atmosphäre dieser Zeit heraufbeschworen: die Weltjugendfestspiele 1957, wo es zu ersten Begegnungen mit Jugendlichen aus dem Westen kam, der 20. Parteitag mit der Geheimrede Chrustschows, das Erscheinen von Pasternaks "Doktor Schiwago", die Protestdemonstration des tapferen kleinen Häufleins auf dem Roten Platz gegen den Einmarsch in Prag 1968, die berühmte Hamletaufführung mit Wissotzky im Taganka-Theater, Solschenizyns Archipel Gulag und, und, und…

    Alle Facetten der Dissidentenbewegung werden angesprochen: die legendären nächtlichen Diskussionen in Moskauer Küchen, die beschämende Rolle der psychiatrischen Kliniken, die Abschiedsfeste der ausreisenden Juden, die neu erwachte Religiosität, aber auch die manchmal fragwürdige Rolle von Esoterik, Joga, Naturheilkunde und Mystik in diesem Milieu.

    Kompositorisch ist diese Überfülle von Personen, Ereignissen, Geschichten und Anekdoten geschickt strukturiert. In einem durch seinen Titel "Das grüne Zelt" herausgehobenen Kapitel wird die berührende Lebens- und Liebesgeschichte der Hauptprotagonisten Olga und Ilja chronologisch linear erzählt. Dadurch ist dem Leser überblicksartig ein orientierendes Zeitgerüst vorgegeben, von dem aus die allwissende Erzählergestalt frei mit Rückblicken, Vorausdeutungen und Zeitsprüngen arbeiten kann, sodass sich die vielen Mosaiksteinchen der Einzelgeschichten allmählich zu einem farbigen Gesamtbild – halb Schlüsselroman, halb Fiktion - zusammenfügen.

    Durchgehendes Thema des Romans ist die Literatur, ohne die das geistige Leben dieser Zeit nicht vorstellbar wäre:

    "So viele Gedichte! Eine solche Zeit gab es in Russland weder zuvor noch danach jemals wieder. Die Gedichte füllten den luftleeren Raum, sie wurden selbst zu Luft. Vielleicht, wie ein Dichter es ausdrückte zu 'gestohlener Luft'. Die höchste Anerkennung für einen Dichter war nicht der Nobelpreis, nein, das waren diese raschelnden, mit der Maschine oder per Hand abgeschriebenen Seiten mit Schreib- und Tippfehlern, kaum zu entziffern: Zwetajewa, Achmatowa, Mandelstam, Pasternak und schließlich Brodsky."

    Das Epilogkapitel des Romans, das mit dem Tod des Nobelpreisträgers 1996 endet, trägt den halb ironisch, halb ernst gemeinten Titel eines berühmten Gedichts von Joseph Brodsky "Das Ende einer schönen Epoche".


    Ljudmila Ulitzkaja: Das grüne Zelt.
    Roman. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
    Carl Hanser Verlag, München 2012, 592 Seiten, 24,90 Euro