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Panorama des Großkapitals

Mit dem "Fall der Götter" hat Regisseurin Karin Henkel den Stoff aus Luchino Viscontis großartigem Film "Die Verdammten" auf die Bühne gebracht. Es geht um die Krupp-Familie im Bann von Kapital und Macht während der 30er Jahre. Damit hat Henkel eine Geschichte inszeniert, die in Düsseldorf noch nachlebt: Das Thyssen-Hochhaus steht direkt neben dem Düsseldorfer Schauspiel.

Von Dorothea Marcus | 20.09.2008
    Es ist der 27. Februar 1933, die Nacht des Reichstagsbrands. Der Patriarch und Stahlwerksbesitzer Joachim von Essenbeck feiert seinen 70. Geburtstag. Ein schönes Familienfest hat Regisseurin Karin Henkel da auf die Bühne gebracht: Die weiße Tafel steht in einem Becken voller Blut, die jüngste Tochter lässt Schiffchen darin schwimmen. Es plantscht und spritzt, die vordersten drei Reihen haben vom Theater Regencapes erhalten.

    Das rote Wasser kriecht die Beinkleider der blütenreinen Anzüge und Abendkleider der Familie von Essenbeck hoch und färben sie rosa. Aber selbst so sehen sie noch gut aus - denn in Deutschland sind Zeiten ausgebrochen, in der blutbesprenkelte Westen ausgehfähig sind. Und die Familie der von Essenbecks - die Ähnlichkeiten mit der Essener Industriellenfamilie Krupp sind gewollt - besudelt sich reichlich mit Blut.

    Im Grunde schon von Anfang an tot ist das Familienoberhaupt: Als lebensgroße, gespenstische Puppe sitzt der Patriarch am Kopf des Tisches, bevor er vom Emporkömmling Friedrich Bruckmann, Liebhaber seiner Schwiegertochter, aus reiner Machtgier in den Tod geschickt wird wie König Duncan von Macbeth und seiner Lady:

    "Ach Gott, wenn Joachim doch endlich sterben würde!
    Also. Was wirst Du tun? Geh zum Äußersten! Es juckt Dich, Du solltest Dich kratzen.
    Hast Du Angst?
    Ich habe keine Angst! Ich habe keine Angst!"

    Nun geht das Morden erst richtig los. Bruckmann, von Sophie immer weitergetrieben, bringt auch den zur Strecke, der eigentlich als Erbe des Imperiums vorgesehen war. Doch er hat nicht mit Sophies Sohn Martin gerechnet, der eigentlichen Hauptfigur. Sie ist auf der Bühne verdoppelt: Ein greiser Erzähler mit einer Maske ohne Haare und Augen erzählt den Niedergang der Familie im Rückblick, während der junge Martin langsam seinen Aufstieg vollzieht.

    In Düsseldorf wird er von einer Frau dargestellt. Nadine Geyersbach zeigt, dass Machtgier keine Männersache sein muss: Schmal, kalt und herb, mit Hitlerjungen-Frisur, ist sie zunächst ein pädophiler, dauergeiler Tunichtgut, der am Tisch masturbiert, jüdische Nachbarsmädchen in den Selbstmord treibt oder von Sex mit Mutter und Schwester träumt. Dann schwingt er sich auf und schickt schließlich seine Mutter und deren Liebhaber bei einer gespenstischen Hochzeit in den Gifttod.

    Martin ist es, der letztendlich die Macht im Konzern zu übernimmt - und sich endgültig den Nazis ausliefert. Die sind ständig am Familientisch präsent in Gestalt des SS-Offiziers Aschenbach. Letztlich ist er es, der alle Fäden zieht. Die anderen Nazis tauchen nur in Form von nackten lebensgroßen Puppen auf - gesichts- und willenlose Massen mit roten Hitlerbinden und riesigen Geschlechtsteilen.

    Zu Beginn hängen sie an Garderobenhaken. Dann werden mit ihnen sexuelle SM-Rituale vollzogen, sie werden beim Rhönputsch nacheinander erst von hinten penetriert und dann erschossen, sie treiben als Leichen im Blutbad oder bilden Menschenhaufen - die ebenso an die Leichenberge von Auschwitz erinnern wie an Swingerclub-Begegnungen.

    Es sind krasse, gewalttätige und sehr plakative Bilder. Sie erzählen von einer sich selbst zerfleischenden Familie, die immer mehr mit dem Teufel paktiert, um den Profit zu sichern. Und sie erzählen, ähnlich wie Pasolinis 100 Tage von Sodom, dass der Faschismus seine Wurzel in sexueller Perversion hat.

    Nur manchmal wird das Grauen vom dünnen Stimmchen der monströsen Baronin Sophie bemäntelt. Oder es wird ironisch gebrochen, wenn etwa beiläufig ein Gummistiefel voller Blutwasser ausgeleert wird oder sich der alte Martin mal kurz übergeben muss, ehe er die Geschichte weitererzählen kann.

    Viscontis Analyse des Faschismus wurde vorgeworfen, ästhetisiert und letztlich harmlos zu sein. Karin Henkel spitzt sie drastisch zu: in einem dramaturgisch großen Bogen erzählt sie die konkrete Geschichte einer Familie zwischen 1933 und 35 - und zeigt zugleich exemplarisch, wie tief die Elite Deutschlands fiel und im Nationalsozialismus sexuelle Gewalt, Machtgier, politischer Opportunismus, Tod und Kapitalismus Hand in Hand gingen. Durch das Spiel mit Puppen und Menschen erhält das eine zusätzliche unheimliche und archaische Komponente.

    Zum Schluss bleibt Martin alleine in der Gegenwart übrig, ein korrupter Greis auf der Drehbühne am Klavier, der einen Haufen Leichen hinter sich herzieht. Aber er verkauft immer noch erfolgreich Waffen. Vielleicht ist das der Grund, warum man diese Geschichte immer wieder erzählen muss: um vor Augen zu führen, wohin die Hemmungslosigkeit des Kapitalismus führen kann. Und dass man das ja eigentlich nicht erst seit dieser Börsenwoche weiß.