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Panorama zeitgenössischer Theaterarbeit

Staunen, Rührung und Genuss – so fasst der niederländische Regisseur und Komponist Paul Koek zusammen, was er mit Theater erreichen will. Mit dessen Leidener "Veenfabrik" ist das Schauspiel Bochum eine mehrjährige Kooperation eingegangen.

Von Karin Fischer | 27.09.2010
    Koek und seine Truppe stehen für ein Theater, in dem Schauspiel und Musik eine neue, gleichberechtigte Verbindung eingehen. Auch für "Candide oder Der Optimismus" von Voltaire ist die Musik das im Wortsinne "tonangebende" Element. Sie liefert den permanenten Rahmen, sie strukturiert das Geschehen, unterstreicht Stimmungen, gibt oft sogar den Rhythmus der Worte vor:

    Die Musikerinnen und Musiker sind nicht nur Teil des Konzepts, sondern wirklich Teil des Schauspiels, das sich optisch dem naiven Gestus des Kindertheaters verschrieben hat. Ein Sperrholz-Guckkasten auf der großen Bühne wird von der Seite aus mit illusionistisch bemalten Elementen bestückt, wie Meereswogen oder die hohen Felsen von Lissabon, oder dient als "idealer Ort" El Dorado, in dem die Eingeborenen in struppigen Perücken und Puschelfelllendenschurz zufrieden leben. Da viele der ziemlich grausamen Geschichten auf Musik erzählt anstatt gespielt werden, ist Candides Suche nach der "besten aller Welten" hier kein zynisch-satirischer Diskurs wie bei Voltaire, sondern ein häufig auch zäh fließendes Stationendrama der Enttäuschungen, im Grunde eine Peer-Gynt-Geschichte. Statt historischer Zuordnung gibt es jede Menge ulkiger, verschrobener Charaktere. Candide und Kunigunde tauchen als junges und altes Paar auf, wobei der junge Candide des freundlichen Joep van der Geest eine Mischung aus staunendem Weichei und törichtem Optimisten darstellt.

    Den Horror der erzählten Wirklichkeit verpackt Paul Koek in ein traumseliges Märchen, das sich manchmal zur Groteske steigert, aber vor allem eine Botschaft hat: wie erzählte Geschichten über das Leid triumphieren können.

    Der Coupé-Décalé ist der derzeit angesagteste Musik- und Tanzstil Afrikas, Rausch, Lebensgefühl und Rhythmus in einem. Besser ist nur Geld. Geschichten von der Cote d'Ivoire handeln viel von Geld. Wer viel davon hat, ist fast wie Gott. Wer Geld unter die Leute bringt, ist hoch angesehen und kriegt Frauen mit möglichst weißer Haut. In Abidjan sollen solche Menschen, "Brutteure" genannt, gefeierte Stars wie im Showbiz sein. Geld kann natürlich auch vom "Feticheur" kommen, dem afrikanischen Zauberer, dann ist es ein Pakt mit dem Bösen und die Geschichte geht schnell mal schlecht aus, wie im Fall des reichen Mannes, der sich in einen Hund verwandelte.

    In ihrem neuen Stück für Bochum, "Eleganz ist kein Verbrechen" arbeitet das Regie-Duo Gintersdorfer/Klaßen mit leicht veränderter ästhetischer Rezeptur wieder einmal am Brückenschlag zu Afrika. Erzählen Geschichten aus der Fremde und sprechen doch auch vom Westen, von Gegensätzen und Vorurteilen. Zwei schwarze und ein weißer Tänzer und eine Schauspielerin erzählen, skandieren, übersetzen, singen auf Musik, spielen ein Stück Afrika und ironisieren gleichzeitig das Rezeptionsverhalten der Europäer. Eine hochenergetische, witzige, undogmatische Übersetzungsleistung ist das und Theater, das über "Boropa" weit hinaus reicht.

    Der dritte Abend gehört Shakespeares "Der Sturm" und vor allem David Bösch, dessen Regie-Karriere mit Anselm Weber und in Essen ja begonnen hat. Seine Inszenierung kann man sämtlichen NRW-Schulklassen und allen Eltern empfehlen, die ihre Kinder schon mal vergeblich versuchten, ins Theater zu schleppen. Bösch macht Ariel und Caliban zu Hauptfiguren, indem er ihnen hochkomische, verspielte, halbstarke, pantomimische, zauberische Szenen gibt. Er frönt ausgiebig der Comic-Sprache, zitiert Horror-Splatter-Movies, indem er lange Raufereien zwischen Untoten mit beeindruckender Geräuschkulisse inszeniert und ersetzt große Teile des Shakespeareschen Textes kurzerhand durch ein paar eigene Themen: wie Macht und Gewalt zusammen hängen oder wie man "Liebe auf den ersten Blick" auf der Bühne zeigen kann. Oder er stellt die Frage, ob ein Militär-Mantel aus einem Monster einen Menschen machen kann oder sogar einen Mächtigen? Das alles ist sehr lustig und oft berührend, und – vorausgesetzt, man hat Shakespeare in der Schule gelesen – wirklich der Bochumer Theaterabend für die ganze Familie.

    Der vierte Abend dann bringt den Jungdramatiker Christoph Nußbaumeder und dessen Versuch eines großen deutschen Familien-Dramas ins Spiel. Angesiedelt zwischen 1945 und 2008, erzählt "Eisenstein" vom gleichnamigen Ort in Niederbayern als Nucleus einer Tragödie; davon, was eine aus Kriegswirren entstandene Lüge bis in die übernächste Generation anzurichten vermag.

    Es beginnt mit einem unehelichen Kind, das Flüchtling Erna dem Hufnagel-Josef unterschiebt; erzählt von der unmöglichen Liebe zwischen vermeintlichen Geschwistern in der nächsten Generation, von weiteren Lebenslügen und weiteren Schicksalsschlägen zwischen der Ankunft im Wirtschaftswunderland und der Wiedervereinigung. Nußbaumeders Figuren sind zwar insgesamt glaubwürdiger als der doch manchmal überrissene Plot; aber Intendant Anselm Weber inszeniert das wort- und figurenreiche Stück so einfach und so plausibel in so zurückhaltenden Bildern, dass die immer neuen dramatischen Verwicklungen nie unfreiwillig komisch wirken und selbst "Tatort"-Star Dietmar Bär sich ganz einfach ins Ensemble einfügt. Grobes Holz (die Hufnagels besitzen ein Sägewerk), überdimensionierte Jahreszahlen und Video-Collagen bieten zeitliche Orientierung; Zeitsprünge werden durch Doppelbesetzungen sinnfällig gemacht und immer wenn einer stirbt, legt er einfach ein Kleidungsstück oder Accessoire auf ein Häufchen an den Bühnenrand.

    Innerhalb des groß angelegten Panoramas zeitgenössischer Theatersprachen, das Anselm Weber zum gelungenen Auftakt seiner Intendanz entwirft, ist das hier kluges, traditionelles Theater – das leider auch eine Bochumer Schwäche deutlich werden lässt: Das Ensemble hält als Ganzes noch nicht das Niveau, das Weber für die Stadt will und braucht. Das warmherzige Bochumer Publikum hat ihm dennoch einen dankbar begeisterten Empfang bereitet.