Dienstag, 19. März 2024

Archiv


Papst aus Rom vertrieben

In der italienischen Hauptstadt Rom beginnt die Via Venti Settembre, die Straße des 20. September, am Stadttor der Porta Pia und läuft von hier bis ins Zentrum. Denn heute vor 135 Jahren schlugen piemontesische Truppen bei dieser Porta Pia eine Bresche in die Mauer der bis dahin noch vom Papst regierten Stadt und besetzten sie. Mit der Eroberung Roms wurde der Einigungsprozess des zehn Jahre zuvor entstandenen italienischen Nationalstaates vorerst abgeschlossen.

Von Henning Klüver | 20.09.2005
    Die Bersaglieri, eine von General Lamarmora Mitte des 19. Jahrhunderts gegründete italienische Kampfeinheit, gelten als eine der ersten beweglichen Einsatztruppen der modernen Militärgeschichte. Als Giuseppe Garibaldi 1860 den Süden des Landes für den neuen italienischen Einheitsstaat unter dem Savoyerkönig Viktor Emanuel II. eroberte, zogen ihm aus dem Norden Bersaglieri an der Spitze der piemontesischen Einheiten entgegen und besetzten weite Teile des zentral gelegenen Kirchenstaates. Bis auf Rom. Hier verteidigte eine französische Garnison noch zehn Jahre lang die letzte Bastion der weltlichen Macht des Papsttums. Pius IX. verkündigte derweil im Frühjahr 1870 das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes. Über das erdrückende intellektuelle Klima in den Mauern der Stadt schreibt Ferdinand Gregorovius damals in sein Tagebuch:

    "Das Mittelalter kommt wieder frank und frei in den Bullen des Papstes hervor, so in jener, worin er alle Artikel zusammenstellt, welche eo ipso die Exkommunikation nach sich ziehen: Raub von Kirchengut, Lesen verbotener Schriften, Nichtachtung der Erlasse der Inquisition, Ketzerei und dergleichen mehr."

    Diese päpstliche Enklave in der Mitte des neuen Einheitsstaates geht schließlich unter, als Paris während des deutsch-französischen Krieges 1870 seine Garnison aus Rom abzieht. Piemontesische Truppen kreisen auf Befehl des Ministerpräsidenten Graf Cavour die Stadt ein und besetzten sie, nachdem sie am 20. September 1870 bei der Porta Pia eine Bresche in die Stadtmauer geschlagen hatten.

    In den Anlagen des Stadttores ist heute ein Bersaglieri-Museum untergebracht. Tenente Colonello Alessandrini, Offizier und Museumsleiter, führt durch die Räume der Porta Pia und beschreibt den Hergang der Eroberung Roms:

    "20. September 1870. Das piemontesische Heer lagert hier bei der Villa Torlonia. Cavour entscheidet sich, bei der Porta Pia anzugreifen. Das heißt nicht genau am Stadttor. Der Angriff findet seitlich versetzt vor der Via Alessandria statt. Von hier aus werden am Morgen ab 6 Uhr 30 878 Kanonenschüsse auf die Mauer abgegeben, die ein Loch von 12 Metern Breite reißen. Dann rücken die Bersaglieri nach und in dem Moment wird einer von ihnen hinterrücks erschossen. Es kommt zu Kämpfen bei denen 42 Piemontesen und 18 Päpstliche fallen."

    Mit diesen Scharmützeln war der Prozess der Bildung eines italienischen Einheitsstaates vorerst abgeschlossen. Der Papst zog sich ganz in den Vatikan zurück, und betrachtete sich als einen Gefangenen des italienischen Königshauses. Der König wiederum versuchte das Papsttum so weit wie möglich zu ignorieren. Rom wurde Hauptstadt des neuen Staates. In der Stadt brach ein Bauboom ohnegleichen aus. Neue Viertel entstanden, zum Beispiel in Prati ganz in der Nähe des Vatikans. Dass der Konflikt zwischen Nation und Papsttum sogar Auswirkungen in der Urbanistik hatte, beschreibt der deutsche Soziologe Peter Kammerer, der heute in Prati wohnt, mit Blick von seiner Dachterrasse:

    "Als Rom Hauptstadt Italiens wurde, nach der Porta Pia, war Prati eigentlich eine große Exerzierwiese. Das waren Wiesen in der Nähe des Vatikans. Und dann wurde dieses Viertel angelegt für kleine, mittlere Beamte, im piemontesischen Stil, das heißt Platanenalleen, große Mietskasernen, und die Straßenführung, und das ist das Interessante, wurde so gelegt, dass man nirgends den Vatikan sieht, nirgends die Fluchtlinie auf die Peterskuppel hat, die ja eigentlich das schönste ist an Rom, an dieser Gegend, aber die sieht man nirgends."

    Erst die Lateranverträge von 1929 stellen die Beziehungen zwischen Rom und dem Vatikan endlich auf eine vertraglich geregelte Grundlage. Heute hat der Vatikan mit seiner religiösen und moralischen Macht vielleicht mehr Einfluss in Italien, als es die weltliche Macht des Papstes je haben konnte. Der 20. September, nach dem in Italien viele Straßen benannt sind, bleibt jedoch bis heute ein Symboltag für die nationale Einheit des Landes.