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Paralympics
Wachstum mit Hindernissen

Am Freitag beginnen in Sotschi die elften Winter-Paralympics, mit 600 Teilnehmern aus 45 Nationen. Aus Deutschland werden 13 Athleten vertreten sein. Das Aufgebot ist klein, weil sich die Teams im Sledgehockey und Rollstuhlcurling nicht qualifizieren konnten. Von einer sportlichen Krise zu sprechen, ist jedoch übertreiben. Der deutsche Behindertensport hat andere Sorgen

Von Ronny Blaschke | 02.03.2014
    Am Freitag beginnen in Sotschi die elften Winter-Paralympics, mit 600 Teilnehmern aus 45 Nationen. Aus Deutschland werden 13 Athleten vertreten sein. Das Aufgebot ist klein, weil sich die Teams im Sledgehockey und Rollstuhlcurling nicht qualifizieren konnten. Von einer sportlichen Krise zu sprechen, ist übertreiben. Der deutsche Behindertensport hat andere Sorgen.
    Alle zwei Jahre, zu Sommer- und Winter-Paralympics, erhält Friedhelm Julius Beucher ein Zeitfenster von etwa zwei Wochen. Dann kann der Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes einer breiteren Öffentlichkeit von Sorgen berichten. Der Verband ist in den vergangenen fünf Jahren um ein Drittel gewachsen, zählt nun 650.000 Mitglieder in 6.000 Vereinen. Kann er dieses Wachstum bewältigen?
    "Zu wenig, als dass wir diese Aufgaben alle leisten können. Wir müssen manche Projekte, die wünschenswert sind, einfach ablehnen, weil wir die Manpower nicht haben. Und das ist eine Sache, die hält von sehr vielen zukunftsfähigen Arbeiten ab, sich auch darum zu bemühen. So etwas ist auch mittel- und langfristig nicht mit ehrenamtlichen Präsidien zu leisten. Mittelfristig kommt kein Verband, der international wettbewerbsfähig sein will, an hauptamtlichen Strukturen in der Leitungsebene vorbei.“
    Die Gesellschaft wird älter, daher ist die große Mehrheit der Mitglieder im Rehabilitationssport aktiv. Das Durchschnittsalter der Verbandsmitglieder liegt bei über sechzig. Der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Beucher will das Rampenlicht der Paralympics nutzen, um seine Basis zu stärken. Mit Blick auf das Ziel Inklusion, der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderung.
    "Uns fehlt ein flächendeckendes Nachwuchssichtungssystem. Wir sind hier auf die Fachlichkeit einzelner aktiver Vereine und Landesverbände angewiesen, und engagierter Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen. Aber wir haben kein durchgängiges Konzept und Prinzip, um es umsetzen zu können.“
    In Großbritannien, den Niederlanden oder Skandinavien werden behinderte und nichtbehinderte Sportler früh unter demselben Dach betreut. In Deutschland steht dieser Ansatz am Anfang: Die 41 Eliteschulen des Sports sind an Olympiastützpunkte und Paralympische Stützpunkte gebunden. Selten kommen behinderte und nichtbehinderte Jugendliche in Berührung, mit Ausnahme von wenigen Standorten, wie Leverkusen in der Leichtathletik oder Berlin im Schwimmen. Im Leistungssport wird eine Zusammenarbeit mitunter von den Sportfachverbänden gebremst, sagt Norbert Fleischmann, ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Behindertensportjugend.
    "Was wir brauchen, sind viele Gespräche auf der unteren Ebene. Kreissportverbände, dort die Vereine zusammenzuholen, und auch was ich gerade eben sagte: Wo könnt Ihr euch vorstellen, zusammenzuarbeiten? Wo gibt’s Möglichkeiten? Habt Ihr es schon mal probiert? Auch der Behindertensportverband, der muss auch die Chance nutzen und sagen: wir können uns ja auch öffnen. Wir können ja auch Angebote machen für andere, wenn wir Hallenkapazitäten haben.“
    Fast eine halbe Million Schüler haben in Deutschland einen Förderbedarf. Von ihnen sind nur 50.000 in Vereinen aktiv. Viele trauen sich Sport nicht zu, viele werden in Schulen nicht ermuntert. Um inklusiven Unterricht anzubieten, auch im Sport, müssten bundesweit 9.300 Lehrkräfte eingestellt werden, meint der Bildungsökonom Klaus Klemm. Mit dem Schulwettbewerb "Jugend trainiert für Paralympics“ will der Behindertensportverband ein Bewusstsein schaffen. Jörg Frischmann, Geschäftsführer der Behindertensportabteilung von Bayer Leverkusen, verfolgt eine ähnliche Richtung.
    "Der Sitzvolleyball war bisher Behinderten vorbehalten. Und wir haben einfach gesagt: bei Europapokal- und bei Weltpokalturnieren in den Niederlanden oder in Norwegen spielen auch Nichtbehinderte Sitzvolleyball mit. Und da haben wir gesagt zum Verband: warum nicht in Deutschland? Ein Mensch, der keine Behinderung hat, hat einen Nachteil im Sitzvolleyball. Wenn der beide Beine hat, dann muss er erstmal Position finden, der kann im Block nicht so gut ranrutschen. Und dann haben wir den Antrag gestellt an den Deutschen Behindertensportverband, wie auch vorher die Rollstuhl-Basketballer oder jetzt im Torball, dass Nichtbehinderte mitspielen dürfen. Und das ist jetzt so. Und man muss sich da einfach auch vorstellen: Wenn ich eine kleine Stadt habe von 20.000 Einwohnern, wie will ich zwölf Menschen finden mit einer Beinbehinderung in so einer Stadt, die dann auch vielleicht noch Sitzvolleyball spielen?“
    Der Behindertensportverband konzentriert sich auf die berufliche Zukunft seiner Athleten. Im paralympischen Top Team erhalten Medaillenkandidaten einen Verdienstausfall für ihre Arbeitgeber und eine Grundförderung. Zudem sind inzwischen 14 Athleten im Öffentlichen Dienst tätig, seit kurzem unterhält der Verband auch eine Kooperation mit der Bundeswehr. Karl Quade ist Vizepräsident des Behindertensportverbandes für Leistungssport und seit 1996 Chef de Mission.
    "Wo es dran hapert, ist natürlich noch die langfristige soziale Absicherung. Das Risiko, durch ein Engagement im Hochleistungssport letztlich auch auf lange Sicht benachteiligt zu werden gegenüber Konkurrenten im Berufsleben, ist immer noch groß. Und da gilt es dran zu arbeiten. Dass diese so genannte duale Karriere über die Schulen, über die Ausbildungen oder das Studium letztendlich nachwirken soll. Ich habe viel Verständnis dafür, wenn junge Menschen sich das sehr genau überlegen, wenn sie nach ihrem Jugend- und Juniorenalter wirklich auf die Karte Hochleistungssport setzen und damit wirklich langfristig Nachteile befürchten müssen.“
    Einen großen Erfolg kann der Behindertensportverband schon vor Sotschi verbuchen: Zum ersten Mal sind die Paralympier in der Prämienvergütung mit den olympischen Sportlern gleichgestellt: für Gold gibt es 20.000 Euro. Ob diese Summe auch den Nachwuchs motiviert,