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Paritätische Wohlfahrtsverband
Armut in Deutschland

Im Februar wird der Paritätische Wohlfahrtsverband seinen neuen Armutsbericht vorstellen. Verbandschef Ulrich Schneider wird dann vermutlich wieder einen neuen Armutsrekord für die Bundesrepublik verkünden. Im vergangenen Jahr gab es um den Bericht und Schneider einen Streit. Vor dem Erscheinen des neuen Berichts schlägt Schneider zurück: Er hat vier bekannte Armuts- und Sozialforscher gebeten aufzuschreiben, was sie von der Debatte halten. "Kampf um die Armut" heißt das Buch.

Von Ulrike Winkelmann | 25.01.2016
    Ulrich Schneider besteht darauf: Es gibt Armut in Deutschland. Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands will sich von saturierten Hauptstadt-Journalisten und Lehrstuhl-Inhabern die Armut nicht zerreden lassen.
    "Armut ist ungeheuer facettenreich. Man bräuchte viel mehr Begriffe. Man darf zugleich auf diesen Armutsbegriff aber auch nicht verzichten. Das ist es. Denn wo der Armutsbegriff wegdefiniert wird, wird auch in der Regel jegliche Verpflichtung zum Handeln und zum Teilen auch wegdefiniert. Das ist häufig auch Absicht."
    "Neoliberal" nennt Schneider die Sozial- und Wirtschaftsredakteure, die im vergangenen Februar über den jährlichen Armutsbericht des "Paritätischen" herfielen und erklärten: Die Armut, von der dieser Schneider immer redet, ist ein Konstrukt; der Mann will sich bloß seinen Wohlfahrtsverbandsposten erhalten.
    Um den Streit zu verstehen, muss man die Definition von Armut kennen, die der "Paritätische" verwendet. Maßgeblich für die hiesige Armutsdebatte ist die seit 30 Jahren etablierte Armutsrisikoquote der EU, sie liegt bei 60 Prozent des mittleren Durchschnittseinkommens. Die Bundesregierung allerdings spricht hier konsequent entweder von "Armutsrisiko" oder "Einkommensarmut". Der Paritätische dagegen nennt diejenigen, die weniger als die 60 Prozent vom Durchschnitt haben, eben "arm", und den Zustand nennt er "Armut". Dem Verband wie allen Fachleuten auf dem Gebiet ist dabei klar, dass es nicht um absolute Armut geht - bei Fusel und Brot unter Brücken vegetieren - sondern dass relative Armut gemeint ist.
    Eine böse, teils höhnische Widerrede
    Dieser Begriff aber macht das Szenario denkbar, dass dort, wo alle superreich sind, die bloß Reichen eben auch als arm gelten: Wer mit seinem Segelboot neben der Monster-Yacht eines Oligarchen anlegt, ist arm im Yachthafen - um ein Beispiel zu nennen, das bei Kritikern des Begriffs relativer Armut sehr beliebt ist.
    In dem Buch "Kampf um die Armut" holen Schneider und vier Gleichgesinnte nun zu einer bösen, teils höhnischen, und doch auch sehr lehrreichen Widerrede aus. Die 60-Prozent-Schwelle tauge sehr wohl zur Beschreibung der Armut in der Europäischen Union. Denn diese Definition erkenne an,…
    "… dass Armut in Tschechien anders aussehen kann als in Norwegen oder Deutschland, und dass es immer auf das jeweilige allgemeine Wohlstandsniveau und die dadurch beeinflusste Lebensweise in den einzelnen Staaten ankommt, ab wann man von Armut sprechen kann und wann nicht."
    Deshalb kann es auch im wirtschaftlich boomenden Deutschland eben den "Höchststand" der Armut geben, den Schneider und sein Verband zuletzt verkündet haben: Obwohl die Arbeitslosigkeit auf Rekord-Niedrigständen ist, erreichen 12,5 Millionen Menschen in Deutschland die 60-Prozent-Schwelle nicht, die zuletzt bei 892 Euro für einen Single lag. Dafür, dass Positiv-Rekorde und Negativ-Rekorde im Kopf vieler Journalisten nicht zusammenpassen, könne er nichts, sagt Schneider:
    "Was will man denn machen, wenn man es mit einem Superlativ zu tun hat? Wenn es tatsächlich so ist, dass eine Armutsquote seit der Vereinigung noch nie höher war, dann ist das ein historischer Höchststand. So Leid es mir tut, und wenn ich damit Menschen wehtue oder wenn ich damit Menschen empöre oder ihnen Angst mache, es ist so. Es hat überhaupt keinen Sinn, Dinge zu beschönigen, wenn das nicht in die wirtschaftsliberale Gemengelage passt, das hat keinen Sinn."
    Schneiders eigener Beitrag ist in dem Sammelband der ertragreichste, weil er gut lesbar über die Konkurrenz der Statistiken berichtet - und dennoch nicht im Treibsand der Datenbanken versinkt. Denn letztlich sei natürlich jeder Versuch, Armut auf Cent und Prozent zu berechnen, willkürlich, gibt Schneider zu. Am Ende sei die Bereitschaft zur Wahrnehmung von Armut wohl abhängig von der eigenen Haltung, vom Willen zu teilen. Schneider geht dabei nicht unbedingt davon aus, dass die Gesellschaft kälter geworden ist:
    Insgesamt bearbeitet das Buch das Armutsthema nicht umfassend
    "Diese Gesellschaft ist sehr empathiefähig. Man muss diese Fähigkeit dann aber auch erwecken. Das ist bei den Flüchtlingen auch gelungen, weil man es hier mit extremster Not zu tun hat. Da gelingt es dann auch, diese Empathie auch wirklich abzurufen. Das wird sehr viel schwieriger, wenn Armut in einer reichen Gesellschaft verdeckt stattfindet. Wo Menschen tatsächlich in ihren Wohnungen verbleiben, wo Kinder aufwachsen in dem Gefühl, nicht dazuzugehören, ausgegrenzt zu sein - da ist es dann entsprechend schwieriger, die Menschen zu gewinnen, die Menschen zu erreichen und tatsächlich ihnen gelegentlich die Augen zu öffnen. Das ist ein langer Weg."
    Auf diesen Weg wollen nun alle fünf Autoren des Buches ihre Leser mitnehmen, und da sich alle über die Rezeption des Armutsberichts vom Februar 2015 aufgeregt haben, führt dies zu gewissen Wiederholungen.
    Ohne diese Redundanzen wäre vielleicht mehr Platz gewesen für neue Argumente. Der Koblenzer Sozialwissenschaftler Stefan Sell zum Beispiel greift in seinem Buchbeitrag OECD-Studien auf, wonach zunehmende Ungleichheit auch volkswirtschaftliche Risiken birgt. Demnach werden ganze 40 Prozent der Haushalte ökonomisch abgedrängt.
    "Gleichzeitig sind sie Arbeitslosigkeit wie auch den Kostensteigerungen beispielsweise bei Mieten und Strom wesentlich härter ausgesetzt als die oberen 60 Prozent. Zu den 40 Prozent gehören eben nicht nur Hartz IV-Empfänger, sondern, zugespitzt formuliert, auch die "wahren" Leistungsträger, die viele Unternehmen und Dienstleistungen am Laufen halten."
    Hier hätte etwa die Frage, wie so große Teile der Bevölkerung am deutschen Exportboom beteiligt werden können, auch wenn sie keine Ingenieure, IT-Experten oder Metallfacharbeiter sind, noch ein paar Worte verdient. Denn möglicherweise sind die Kritiker des "Paritätischen" ja nicht alle im neoliberal verengten Zeitgeist der späten 90er Jahre stecken geblieben. Sondern sie vergleichen die Lebensumstände der schlecht qualifizierten Niedriglöhner mit denen in China oder Mexiko - und kommen zu einem für Deutschland ganz guten Urteil. Schneider hat diese Art der Globalisierung bereits erkannt.
    "Wir haben heute eine globalisiertere Sichtweise auch von Armut, aber die Kehrseite daran ist: Armut wird dann nur noch ausschließlich materiell gesehen. Das heißt: Wie oft bekommen Sie in der Woche ein warmes Essen, oder haben Sie ein Auto, oder einen Fernseher; und wer dann verschiedene Dinge nicht hat, ist dann möglicherweise arm. Das ist ein grundlegend anderer Armutsbegriff als der relative Armutsbegriff, der auf europäischer Ebene seit Jahrzehnten gepflegt wird und den auch wir ihn verwenden, dass wir sagen: Arm ist, wer an ganz normalen gesellschaftlichen Vollzügen nicht mehr teilhaben kann."
    Insgesamt bearbeitet das Buch das Armutsthema nicht umfassend. Es legt eher Spuren. Als Provokation für die Kritiker des relativen Armutsbegriffs taugt der Band allemal: Nun sind sie dran, ihrerseits die Debatte von den etwas banalen Vergleichen à la "Segelboot neben Luxusyacht" auf ein anspruchsvolleres Niveau zu heben.
    Ulrich Schneider (Hg.): "Kampf um die Armut. Von echten Nöten und neoliberalen Mythen". Westend, 205 Seiten, 14, 99 Euro.