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Parlamentswahl im Irak
Nahost-Experte: Es wird Jahre dauern, dieses Land nach vorne zu bringen

Im Irak stehen die Anhänger des schiitischen Geistlichen Muktada al-Sadr vor einem deutlichen Sieg bei der vorgezogenen Parlamentswahl. Ob al-Sadr jedoch die verschiedenen Parteien im Land zu wirklichen Reformen bewegen könne, dürfe man bezweifeln, sagte Nahost-Experte Michael Lüders sagte im Dlf.

Michael Lüders im Gespräch mit Dirk Müller | 12.10.2021
Anhänger des irakischen schiitischen Geistlichen Moqtada al-Sadr feiern auf den Straßen das Ergebnis der Parlamentswahlen im Irak.
Anhänger des irakischen schiitischen Geistlichen Moqtada al-Sadr feiern auf den Straßen das Ergebnis der Parlamentswahlen im Irak. (dpa / picture alliance / Ayman Yaqoob )
Bei der vorgezogenen Parlamentswahl im Irak stehen die Anhänger des schiitischen Geistlichen Muktada al-Sadr vor einem deutlichen Sieg. Die islamistische Bewegung war schon bei der Parlamentswahl 2018 stärkste Kraft geworden. In einer Fernsehansprache warnte Sadr andere Staaten, sich in die Regierungsbildung einzumischen. Er erklärte sich bereits zum Sieger und kündigte der Korruption den Kampf an. Sadr selbst war nicht zur Wahl angetreten. Der 47-Jährige gilt als kontroverse Figur. Nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein bekämpften seine Milizen die US-Truppen. Heute stellt er sich als gemäßigt dar und tritt in einer Mischung aus Nationalist und Populist auf.
Müller: Herr Lüders, spielt es eine Rolle, wer im Irak die Wahlen gewinnt?
Lüders: Na ja, ja und nein. Natürlich wäre es gut, eine Führungspersönlichkeit zu haben, die in der Lage wäre, den Zentralstaat wiederherzustellen, denn es gibt diesen Zentralstaat eigentlich nur noch auf dem Papier. Im Wesentlichen ist es so, dass die verschiedenen Parteien, die fast ausschließlich sich entlang religiöser oder ethnischer Kriterien ausrichten, die Bereicherung ihrer eigenen Klientel betreiben.
Der Zentralstaat, die Zentralregierung ist schwach, und sie sieht von daher ihre Aufgabe vor allem darin, Pfründe für die eigenen Anhänger zu verteilen, und setzt damit zunehmend auch Mittel der Repression ein. Seit 2019 gibt es daher massive Proteste in diesem Land, die zu diesen vorgezogenen Neuwahlen geführt haben, aber der Wunsch, vor allem vieler junger Iraker, für neue Verhältnisse zu sorgen, der ließ sich offenbar politisch nicht umsetzen.
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"Er ist der Hoffnungsträger, der Heilige fast"

Müller: Muqtada al-Sadr, er soll die Wahl gewonnen haben dahingehend, dass er die stärkste Fraktion, die stärkste Gruppe im Parlament führen wird, ein schiitischer Geistlicher. Meine Frage an Sie: Ist al-Sadr jemand, der die Wogen glätten könnte?
Lüders: Al-Sadr ist auf jeden Fall ein gewiefter Taktiker, der genau weiß, wie das Spiel gespielt wird. Seit 2005 ist er eigentlich aus der irakischen Politik nicht mehr wegzudenken. Er hat sich mal mit den USA verbündet, mal gegen die USA gekämpft, war mal pro-iranisch, dann wieder etwas distanzierter zu Teheran.
Sein großer Einfluss gründet weniger auf seinen politischen Vorstellungen, die nicht sehr konkret sind, als vielmehr darauf, dass er der Sohn ist von Mohammed al-Sadr, der in den 1990ern von Saddam Hussein ermordet wurde. Unter den armen Schiiten, vor allem in Bagdad, genießt Muqtada al-Sadr eine wirkliche Heldenverehrung. Er ist der Hoffnungsträger, der Heilige fast, aus Sicht der armen Schiiten, die kaum noch Hoffnung haben auf ein besseres Leben, dass sie ihr Los mindern möchte, und dieser kultgleiche Status erklärt, warum er so viel Rückhalt hat. Aber ob dieser Rückhalt nun ausreichen wird, die übrigen Parteien im Land zu einer wirklichen Reform zu bewegen, also zu einer Hinführung in Richtung Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, das darf man bezweifeln.
Man muss sich vor Augen führen, dass dieser Staat Irak komplett zertrümmert worden ist durch den Krieg zum Sturz Saddam Husseins 2003, der nachfolgenden Besatzung und den Verheerungen, die sich dann mit dem Islamischen Staat ergeben haben, der im Irak seine Hochburg hatte.

"Komplette Anarchie im Land"

Müller: Das hört sich so an, Herr Lüders, wenn ich Sie da richtig verstanden habe, dass es so gut wie unmöglich ist, nahezu ausgeschlossen ist, dass sich produktive Mehrheiten finden in diesem neuen Parlament.
Lüders: Nichts ist unmöglich, aber es wird dauern, dass sich diese Kräfte sortieren, ähnlich wie auch im Libanon, wo man eine politische Kaste hat, die alles überlagert. Die Menschen im Irak sind vielfach reifer und wollen mehr als ihre politische Führung, aber es ist schwierig, die Machtbalance zu wahren.
Die Schiiten stellen die Mehrheit der Bevölkerung. Sie können das politische Geschehen bestimmen, denn die Schiiten wählen eine schiitische Partei, die Sunniten eine sunnitische, die Kurden eine kurdische, und innerhalb der Schiiten gibt es zwei Ausrichtungen – die eine ist pro-iranisch, die andere eher neutralistisch, so wie die von al-Sadr. Und wer sich da nun durchsetzt in dieser komplexen Gemengelage – Irak ist ja nicht im Vakuum bestehend im Nahen Osten, sondern Teil der Gemengelage, wo es vor allem darum geht, den Iran einzudämmen aus westlicher Sicht –, das alles macht es sehr, sehr schwierig.
Hinzu kommen die komplette Anarchie im Land, die fehlende Rechtssicherheit und die unglaubliche Korruption der Eliten. Das alles sind Rahmenbedingungen, die wahrscheinlich noch für Jahre dafür sorgen werden, dass es dauern wird, dieses Land nach vorne zu bringen, und es erklärt auch, warum radikale islamistische Bewegungen in einem Land wie dem Irak immer wieder großen Rückhalt finden.
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"Das Land war ja komplett kriegszerstört"

Müller: Reden wir noch einmal über diese ethnische Aufteilung, die Sie gerade erwähnt haben. Die Sunniten wählen die Sunniten, die Schiiten die Schiiten, haben Sie gesagt, und die Kurden die Kurden. Nach vielen Jahren inzwischen der Demokratisierung, wie auch immer, der Parlamentarisierung auch des Iraks, warum ist das immer noch so?
Lüders: Weil die demokratischen Strukturen oder diejenigen politischen Strukturen, die die USA und ihre Verbündeten nach dem Sturz Saddam Husseins eingebracht haben, also eine formale Demokratie mit Wahlen, mit Parlament und so weiter, im Grunde genommen zu früh eingeführt worden sind, wenn man so will.
Das Land war ja komplett kriegszerstört, die sehr stark zentralistischen Strukturen, die es unter Saddam Hussein gegeben hat, die wurden quasi über Nacht zertrümmert, und das, was vielen Menschen Halt und Arbeit gegeben hat. Die Armee, die Sicherheitsdienste, das alles war weggebrochen, Anarchie und Chaos brachen aus.
Und wenn man in einer traditionalistischen, vielfach noch dreistaatlich orientierten Gesellschaft quasi von außen, von oben ein bestimmtes politisches System einrichtet, dann sorgt man natürlich vor allem dafür – zunächst jedenfalls war es so –, dass pro-amerikanische, pro-westliche Politiker an die Macht gekommen sind, die sich aber, wie etwa Nuri al-Maliki, nicht halten konnten und heute als besonders korrupt gelten. Das ist so ein bisschen das Dilemma – was die Iraker wollen, ist das eine, und die Gefechtslage in der Region, in der internationalen Politik das andere.
Müller: Da werden jetzt viele an Afghanistan denken. Ähnlich gelagert?
Lüders: Das ist durchaus ähnlich gelagert, muss man sagen. Die Verheerungen des Krieges gegen den Terror, wie sie in Afghanistan und im Irak zu beobachten sind, haben für die Menschen dort verheerende Folgen gehabt. Gewiss ist es kein Nachteil, dass Saddam Hussein, um Gottes Willen, noch immer an der Macht ist oder gewesen wäre, aber man kann Regime-Change nicht betreiben und glauben, dass die Verhältnisse danach besser werden.
In allen Ländern, in denen westliche Staaten interveniert haben, um unliebsame Regime zu stürzen, haben sich die Verhältnisse für die einheimische Bevölkerung im Nachhinein als noch viel desaströser dargestellt als in den Zeiten zuvor.

"Demokratie kann man grundsätzlich nicht exportieren"

Müller: Somalia, Libyen?
Lüders: Somalia, Libyen spielt hier sicherlich eine wichtige Rolle. In den jeweiligen Ländern kommen natürlich auch noch einheimische Faktoren hinzu. Aber wenn man in Stammeskulturen, Stammesstaaten, in Staaten, die von religiösen und ethnischen Gegensätzen geprägt sind, den Zentralstaat zertrümmert, dann ist Anarchie eigentlich zwangsläufig die Folge, ebenso der Staatsverfall, und man nährt und stärkt dann jene radikalen Islamisten, die man ursprünglich eigentlich bekämpfen wollte.
Müller: Da fällt uns noch der Jemen ein, da auch so?
Lüders: Im Jemen auf jeden Fall. Den Krieg, den die Saudis dort führen – gegen die jemenitische Bevölkerung, muss man sagen –, der wird maßgeblich von den USA und Großbritannien unterstützt, die nicht nur die Waffen liefern, sondern auch das militärische Know-how, um die Waffen dann ins Ziel zu bringen, und eine politische Lösung ist auch dort in weiter Ferne.
Müller: Jetzt lassen Sie uns oder viele jedenfalls, die das Interview hören, Herr Lüders, ratlos zurück. Jetzt könnte ich das, was Sie sagen, auch so interpretieren und sagen, Demokratie ja, aber bitte nicht zu früh, das heißt zur rechten Seite, und ein bisschen im Nahen Osten überall noch warten.
Lüders: Demokratie kann man grundsätzlich nicht exportieren, man kann sie nicht mit Waffengewalt Ländern und Regionen aufzwingen, die in ganz anderen kulturellen, historischen und politischen Zusammenhängen sich bewegen. Eher sollte man dafür sorgen, demokratische Strukturen zu stärken, diskret und im Hintergrund, aber nicht mit militärischer Gewalt, ansonsten ist die Gefahr groß, dass sich Dinge wie in Afghanistan wiederholen: Erst stürzt man die Taliban, und dann, 20 Jahre später, kehren sie an die Macht zurück. Die Verhältnisse für die Bevölkerung in Afghanistan aber sind eine Katastrophe, Anlass zur Selbstkritik.
Hilfe zur Selbsthilfe ist gut und vor allem den Menschen Bildung und Jobs vermitteln, das ist sehr viel billiger, als einen Krieg gegen den Terror zu führen, der in 20 Jahren mehr als acht Billionen US-Dollar gekostet hat und mehr als 900.000 Menschen das Leben.
Müller: Sollte sich der Westen zurückziehen?
Lüders: Er sollte zumindest Augenmaß obwalten lassen und sich absprechen mit den Akteuren vor Ort, welche Form der Politik man dort haben möchte. Es sind zu viel Akteure dort präsent in der Region des Nahen und Mittleren Ostens, die ihre eigenen Süppchen kochen.
Müller: Russland?
Lüders: Russland auf jeden Fall, die USA, die Türkei, der Iran, Israel, Saudi-Arabien, viele Akteure. Im Idealfall würden sie sich zusammensetzen und gemeinsam den Kuchen verteilen, aber die Politik in der Region geschieht vielfach über die Köpfe der Beteiligten hinweg und wird mit brutalen Mitteln ausgetragen. Und das Ergebnis ist für die Mehrheit der Bevölkerung in der Region eine Katastrophe in menschlicher und in politischer Hinsicht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.