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Parlamentswahl in Estland
Erstarken der Rechtspopulisten erwartet

Die Esten haben am Sonntag über ein neues Parlament entschieden. Viele wünschen sich eine große Koalition - für mehr Zusammenhalt im Land. Aber wie groß die werden kann, ist fraglich. Umfragen sahen die rechtskonservative Ekre zuletzt bei 20 Prozent, sie wäre damit drittstärkste Kraft im neuen Parlament.

Von Florian Kellermann | 03.03.2019
Eine Frau mit einem Kind auf dem Arm wirft in Tallinn ihren Wahlzettel in eine Urne.
In Estland wurde ein neues Parlament gewählt - und einfach werden die erwarteten Koalitionsverhandlungen wahrscheinlich nicht (dpa / AP / Raul Mee)
Die meisten Esten nehmen die Wahl nicht als Schicksalswahl wahr. Denn mit großer Wahrscheinlichkeit wird wieder eine der beiden liberalen Parteien stärkste Kraft - die Reformpartei oder die Zentrumspartei. Der 19-jährige Karl Vimm, der zum ersten Mal an Parlamentswahlen teilnehmen darf, war bis kurz vor Stimmabgabe unentschlossen.
"Ich denke nicht, dass sich nach der Wahl viel ändern wird in Estland. Uns geht es ganz gut, und das wird auch so bleiben, denke ich. Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann, dass die Beziehungen zwischen den Esten und der russischen Minderheit besser werden. Die sind immer noch nicht ganz in Ordnung."
Die Reformpartei war viele Jahre an der Regierung und hat das Land stark geprägt. Sie schreibt sich das wirtschaftsliberale Profil von Estland auf die Fahnen. Ein möglichst ausgeglichener Haushalt und möglichst niedrige Steuern sind ihr Credo.
"Zu große Ungleichheit"
Die Zentrumspartei kam vor zwei Jahren durch ein Misstrauensvotum im Parlament an die Macht. Sie hat das Steuersystem seitdem zaghaft verändert. Der Steuersatz auf Einkommen liegt immer noch einheitlich bei 20 Prozent. Doch nun gibt es einen Steuerfreibetrag, der nach Einkommen gestaffelt ist.
Diese Politik möchte Ministepräsident Jüri Ratas fortsetzen. Im Wahlkampf sagte er:
"Keine Regierung kann sich die Errungenschaften des Landes alleine anrechnen. Die gesamte Gesellschaft hat das geschafft. Aber die Erfolgsgeschichte von Estland hatte auch einen Preis: eine zu große Ungleichheit und Sozialleistungen, für die wir uns schämen müssen."
Die Zentrumspartei von Ratas steht auch für einen Ausgleich mit der russischen Minderheit. Sie will, dass es an den Schulen auch weiterhin russischsprachigen Unterricht gibt.
Rechtspopulisten mit Fackeln
Für am meisten Aufregung im Wahlkampf sorgte allerdings eine andere Partei: die rechtskonservative "Ekre". Sie will das Gesetz rückgängig machen, das eingetragene Partnerschaften für gleichgeschlechtliche Paaren ermöglicht. Sie stellt sich gegen Immigration und gibt sich EU-kritisch.
Am vergangenen Wochenende lud sie ihre Anhänger zu einem Fackelmarsch in die Innenstadt von Tallinn.
"Wir haben sicherlich von der EU profitiert", sagt Kadri Vilba von der rechtskonservativen estnischen Ekre, warnt aber vor einem "europäischen Förderalstaat".
"Wir haben sicherlich von der EU profitiert", sagt Kadri Vilba von der rechtskonservativen estnischen Ekre, warnt aber vor einem "europäischen Förderalstaat". (Deutschlandradio / Florian Kellermann)
Ekre fordere keinen Austritt aus der EU, so Kadri Vilba, die sich zum ersten Mal für das Parlament bewirbt:
"Wir haben sicherlich von der EU profitiert. Durch sie konnten wir viel in die Infrastruktur investieren. Es ist sehr bequem, dass Menschen frei reisen können. Wir als Partei sind auch nicht gegen die EU, obwohl uns das immer nachgesagt wird. Wir sind nur gegen einen europäischen Föderalstaat."
Aber zu ihren Anhängern sprechen Ekre-Politiker häufig deutlich radikaler. So der Parteivorsitzende Mart Helme am vergangenen Wochenende. Er sprach von EU-Imperialismus, gegen den sich Estland wehren müsse.
Ekre könnte drittstärkste Kraft werden
Umfragen sahen Ekre zuletzt als drittstärkste Kraft im neuen Parlament, die Rechtskonservativen können mit bis zu 20 Prozent der Stimmen rechnen. Das könnte Auswirkungen auf die Bildung einer Koalition haben. Eventuell werden die Reform- und die Zentrumspartei gemeinsam eine große Koalition bilden müssen, wenn sie Ekre nicht an der Regierung beteiligen wollen.
Mari-Liis Jakobson, Politikwissenschaftlerin an der Universität Tallinn:
"Die meisten Wähler wünschen sich in der Tat eine große Koalition. Denn das würde die Gesellschaft zusammenhalten, denken viele. Eine Umfrage hat ergeben, dass die größte Furcht der Wähler darin besteht, radikale Politiker könnten an die Macht kommen."
Einfach dürften die Koalitionsverhandlungen allerdings nicht werden, das ist schon jetzt abzusehen.