Dienstag, 23. April 2024

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"Parsifal" von Richard Wagner im Schiller Theater
Weihfestspiel für Berlin

Eine so radikale Religionskritik wie sie Dmitri Tscherniakov jetzt auf die Staatsopernbühne im Schiller Theater gebracht hat, ist im "Parsifal" lange nicht mehr zu sehen gewesen. Mit heftigen Buhrufen protestieren die Premierenbesucher am Ende dagegen, das "Bühnenweihspiel" kurz vor Ostern schonungslos entweiht serviert zu bekommen.

Von Julia Spinola | 29.03.2015
    Dabei wirkt Tscherniakovs Inszenierung auf den ersten Blick alles andere als umstürzlerisch. Im Gegenteil: Statt mit modernen Regietheatereinfällen um sich zu werfen, greift Tscherniakov in die Mottenkiste der uralten Bayreuther Aufführungstradition. Die halbrunde Gralsburg, die er als sein eigener Bühnenbildner entworfen hat, zitiert mit ihren Säulen und Torbögen die Kulisse der Uraufführung, die noch bis in die Kreissymbolik von Wolfgang Wagners Inszenierung hinein nachwirkte. Und wenn René Pape als stimmmächtiger Gurnemanz dem Gralsritternachwuchs eine Schulstunde über den Gründungsmythos des Ordens hält, dann wird daraus ein Diavortrag mit den Bühnenentwürfen von 1882.
    Barenboim zelebriert Wagners Musik im quälenden Zeitlupentempo
    Aber was für ein grausiges Folterritual liefert den Gralsrittern bei Tscherniakov das heilige Blut! Titurel erscheint als Vampir-Urahn in langem Ledermantel, der sich wie Graf Dracula in einen Sarg legt. Seinen Sohn Amfortas hat er zum Opfer auserkoren, das stets aufs Neue bei lebendigem Leib ausgeweidet wird. Die Wunde hat er ihm womöglich selbst zugefügt, zumindest sorgt die Rotte hungriger Ritter dafür, dass sie sich nicht schließen kann. Wolfgang Koch nimmt man die Versehrungen dieser Figur bis in die raue Tongebung hinein ab. Grob wird er entkleidet, gierig reißt man ihm die Verbände ab, um neues Blut aus einer riesigen Bauchwunde zu quetschen. Widerlicher als in dieser Aufführung kam einem das Blutvergötzungs-Ritual noch selten vor. Und dieser Eindruck legt sich auch wie ein Albdruck aufs Musikalische. Denn Daniel Barenboim zelebriert Wagners Musik in einem quälenden Zeitlupentempo, dem alle erhöhenden, emporzeigenden und utopischen Momente, die in dieser Partitur doch auch stecken, geopfert werden. Wagners Beziehungszauber, dieses weitverzweigte Motivgeflecht, das ein Klanggespinst aus Erinnerungen und Ahnungen webt, zerfällt zu dumpf brütenden Einzelmomenten. Die harmonischen Spannungen bleiben unaufgelöst. Es gibt kein Entrinnen aus der Gralskirche.
    Pädophiler Greis in Strickjacke und Filzpantoffeln
    Im zweiten Aufzug, der in Klingsors Zaubergarten spielt, wechselt die Kulisse nur die Farbe. Alles erscheint jetzt in klinischem Weiß, passend zur Zwangsneurose von Klingsor. Tómas Tómasson mimt ihn als pädophilen Greis in Strickjacke und Filzpantoffeln, der eine Schar kleiner Mädchen in Blümchenkleidern kommandiert. Tscherniakov weist sie allesamt als Töchter Klingsors aus und lässt so keinen Zweifel daran, dass diese weibliche Gegensekte letztlich nach den gleichen Prinzipien funktioniert wie die der Männer. Beide basieren auf einem Opfermythos, in beiden herrschen Inzest, Irrsinn und Gewalt. In diese kranken Welten hinein stolpert Parsifal als jugendlicher Rucksack-Tourist mit kurzen Hosen und T-Shirt. Auch er hat seine Neurosen und sexuellen Traumata, kann sie jedoch in einer Art Kurzzeit-Psychoanalyse mit Kundry überwinden. Kundry darf sich im dritten Akt an seiner Schulter ausweinen. Der aus der Folter gerettete Amfortas findet seine Seelenruhe wiederum in Kundrys Armen, und fast scheint es, als könne die Menschheit sich nun vom Joch religiöser Zwangsgemeinschaften befreien. Im letzten Moment aber rammt der machtbewusste Gurnemanz Kundry ein Messer in den Leib, Amfortas bricht zusammen und Parsifal reist weiter.
    Tscherniakov hat eine drastische Kritik an jenem zur Religion erhobenen Wundenwühlen inszeniert, das im "Parsifal" steckt. Darüber hinaus liefert seine Inszenierung jedoch keinerlei weiterführende Perspektiven auf das Werk. So bleibt vom "einzigen Wunderwerk", das Alban Berg im "Parsifal" sah, kaum mehr übrig, als ein paar schöne Sängerleistungen. René Pape ist ein nach wie vor unübertroffen prägnanter und textverständlicher Gurnemanz. Andreas Schlager gab sein vielversprechendes Debüt als jugendlicher Parsifal. Und Anja Kampe vermittelte trotz einer ernsthaften Indisposition sehr tapfer weit mehr als nur eine Ahnung von den Schönheiten ihres Soprans. Bis zuletzt hatte man gebangt, ob sie überhaupt singen würde am Premierenabend.