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"Partei ist in der tiefsten Existenzkrise ihrer Geschichte"

Für die Krise der FDP macht Gerhart Rudolf Baum das Regierungshandeln seiner Partei seit 2009 verantwortlich. Die umstrittenen Steuersenkungen für Hoteliers oder die euroskeptische Haltung der Freidemokraten hätten viele Bürger verärgert. Eine Chance, die FDP aus der Krise zu führen, habe Christian Lindner.

Gerhard Rudolf Baum im Gespräch mit Dirk Müller | 27.03.2012
    Dirk Müller: Acht Prozent verloren, auf einen Schlag von 9,2 Prozent auf 1,2 Prozent, so geschehen vor zwei Tagen beim Urnengang im Saarland – eine Demontage, ein Untergang für die FDP, schon wieder brachial gescheitert bei einer Landtagswahl, zum sechsten Mal innerhalb eines Jahres. Hinterher sind es ja zumeist regionale Gründe, die für den Rausschmiss aus dem Parlament verantwortlich sind. Aber wer soll das inzwischen noch glauben? Die Rolle des Parteichefs steht zunehmend am Pranger, ebenso das gesamte Erscheinungsbild der Partei. Sind die Liberalen noch individuell, sind sie noch liberal genug, werden sie noch gebraucht? – Darüber sprechen wollen wir nun mit dem FDP-Politiker und früheren Bundesinnenminister Gerhart Rudolf Baum. Guten Morgen!

    Gerhard Rudolf Baum: Guten Morgen!

    Müller: Herr Baum, warum gab es die letzten Erfolge für die FDP unter Guido Westerwelle?

    Baum: Ja, das ist merkwürdig. Einerseits hat er Wahlerfolge eingefahren und den letzten ja bei der Bundestagswahl, andererseits ist die Partei in einen Zustand gekommen, den wir jetzt spüren. Sie ist thematisch ausgetrocknet worden und hat auch personell nicht neue Talente nach vorne gebracht, jedenfalls nicht genügend. Dann gab es das Regierungshandeln nach 2009, und das hat natürlich Anlass zu heftiger Kritik gegeben und das Erscheinungsbild der FDP ist seitdem verdüstert.

    Müller: Aber dann wäre man doch besser bei Westerwelle geblieben?

    Baum: Nein! Die Ära Westerwelle war zu Ende und er hat das auch übertrieben mit der Verengung auf die Steuersenkungspartei. Mehr Netto vom Brutto, das war nicht zu halten. Das war alles verbraucht und ich hätte mir einen besseren, überzeugenderen Neubeginn gewünscht. Der ist im letzten Jahr nicht erfolgt. Aber jetzt tut sich etwas im Lande und das können sie ablesen an der Figur von Lindner.

    Müller: Sie reden jetzt von Nordrhein-Westfalen oder von der Bundespolitik?

    Baum: Ja. Ich rede von Nordrhein-Westfalen und Nordrhein-Westfalen wird eine Wirkung auf die Bundespolitik haben, das merken sie schon jetzt.

    Müller: Und weil Lindner so gut ist, hat man Lindner vor ein paar Monaten geopfert?

    Baum: Lindner ist gegangen, weil er mit der Führung oder Teilen der Führung in Berlin nicht zurechtkam. Er konnte das, was er wollte, an Politik da nicht entfalten. Das tut er jetzt in Nordrhein-Westfalen und das tut er einigermaßen überzeugend und es gibt jetzt hier Anzeichen, auch wenn sie hier mit den Leuten in Köln reden, dass sie sagen, oh, Lindner ist eine neue Situation, das ist nicht die FDP, die wir bisher nicht wählen wollten.

    Müller: Aber warum war Christian Lindner dann nicht gut genug für die Parteiführung?

    Baum: Weil er gehindert wurde, diese Entfaltung an den Tag zu legen, die ihm vorgeschwebt hat, und er hat das nicht offengelegt, ich habe aber durchaus Verständnis für die Rücktrittsgründe, die er hatte in Berlin. Er wollte sich von unten wieder bewähren, hier in Nordrhein-Westfalen hat er eine starke Basis und nun ist die Situation so, dass er Landesvorsitzender wird und Fraktionsvorsitzender. Also er wird mit dem Landesverband in der künftigen FDP, ganz gleich wie die Wahl hier ausgeht, eine große Rolle spielen.

    Müller: Sie sagen, Herr Baum, "weil er gehindert wurde". Wir können versuchen, hier die Katze ein bisschen aus dem Sack zu lassen. Viele denken bei Ihren Worten natürlich sofort an Philipp Rösler. An den denken Sie auch?

    Baum: Natürlich denke ich daran auch. Der Rücktritt war ein Misstrauensvotum gegen Rösler, das habe ich nach dem Rücktritt öffentlich mehrfach gesagt, das war so.

    Müller: Also hat Philipp Rösler diesen großen Fehler gemacht?

    Baum: Philipp Rösler hat Fehler gemacht, andere haben Fehler gemacht, aber jetzt ist alles konzentriert auf die Entwicklung der FDP, wie sie jetzt in Nordrhein-Westfalen mit Ausstrahlung auf den Bund sich vollzieht, und das sind neue Töne, das ist ein neuer Politikstil, das sind neue Themen und Lindner verkörpert für mich eine FDP, wie ich sie mir eigentlich immer vorgestellt habe. Wenn ich mir vorstelle, er wäre damals, als ich Politik gemacht habe, mit im Boot gewesen, das wäre sehr gut gewesen. Er passt zu einer FDP, die wirklich konsequent liberale Werte vertritt.

    Müller: Also Christian Lindner soll ein bisschen sein, wie Sie waren oder immer noch sind: sozialliberal?

    Baum: Das ist er auch, aber er ist geprägt auch von dem Freiburger Programm, von der Verantwortung, die eine liberale Partei für die ganze Gesellschaft hat. Also nicht nur die Freiheit der Wirtschaft steht im Fokus, sondern eben auch die gesellschaftliche Verantwortung der FDP, und das macht er ja auch an Themen fest. Hier in Nordrhein-Westfalen ist es zum Beispiel die Schulpolitik. Er ist ein Mann, der Wachstum nicht definiert nur als wirtschaftliches Wachstum, sondern eben auch als Wachstum von Wissen und kulturellem Kapital. Er ist sehr viel breiter aufgestellt und hat eine intellektuelle Substanz, die andere eben vermissen lassen in der Führung.

    Müller: In der Führung – kommen wir wieder auf Philipp Rösler zurück. Warum ist Philipp Rösler so weit gekommen, wenn viele wissen, dass er es gar nicht kann?

    Baum: Das war eine Einigung, die die jungen Leute unter sich damals ausgemacht haben. Es gab ja die sogenannte Boy Group, drei Personen, Bahr, Rösler, Lindner, und da hat man entschieden, Rösler wird Parteivorsitzender. Also er ist ja nicht am Ende, er bemüht sich ja und man wird sehen, wie die beiden Wahlen jetzt ausgehen. Es gibt zwei Hoffnungsträger, neben Lindner auch Kubicki, das sind Leute, die ein eigenes Profil haben und auch sich nicht gescheut haben, die Berliner FDP, also die Bundes-FDP zu kritisieren.

    Müller: Reden wir noch mal über die Bundes-FDP. Was macht Philipp Rösler falsch?

    Baum: Also ich möchte lieber darüber reden, was Lindner jetzt richtig macht.

    Müller: Das haben Sie ja schon die ganze Zeit getan, Herr Baum!

    Baum: Die Musik spielt im Moment hier in Nordrhein-Westfalen und da ist es deutlich, dass Lindner auf eine Abgrenzung setzt gegenüber anderen Parteien, die sich als liberale Parteien darstellen. Die Grünen sind keine rundum liberale Partei, ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik ist durchsetzt von Neidkomplexen, sie haben Bevormundungstendenzen. Übrigens auch die Piraten beerben die FDP nicht in Sachen Bürgerrechte. Sie sind für die Anarchie im Netz, wir sind für die Geltung der Grundrechte im Netz. Das muss jetzt deutlich gemacht werden, die Abgrenzung zu den anderen Parteien. Mit der CDU/CSU kämpfen wir im Bereich der inneren Sicherheit darum, dass wir nicht Angst unsere Entscheidungen bestimmen lassen, etwa zur Vorratsdatenspeicherung, sondern auch Risikobereitschaft zeigen in einer freien Gesellschaft. Es gibt also genügend Gründe darzustellen, warum es eine liberale Partei geben muss. Das beginnt jetzt und das beginnt eben überzeugend in Christian Lindner. Ich will ihn nicht überhöhen, aber er hat die Chance, die Chance zumindest, die FDP aus dem Tal herauszuholen.

    Müller: Herr Baum, jetzt wollten wir beide ja kein Wahlkampfinterview führen, das machen wir mit den anderen Parteien im Moment ja auch nicht. Wenn wir noch einmal über die Ursache der Krise der FDP nachdenken – das machen Sie auch seit Monaten und kommen ja meistens auch zu überzeugenden Antworten. Gehen wir noch einmal nicht nur auf Philipp Rösler, sondern auf die Situation in Berlin. Ich hatte eben gefragt, was macht er falsch. Machen wir es allgemeiner, damit es für Sie vielleicht einfacher ist zu antworten. Was hat die FDP denn in den vergangenen Monaten konkret falsch gemacht?

    Baum: Also die FDP hat in der Europapolitik eine Zeit lang ein unsicheres Bild abgegeben, und hätte sich das fortgesetzt, wäre das verhängnisvoll gewesen. Frau Merkel muss im Grunde unterstützt werden. Es gibt keine Alternative zu dieser Politik. Die FDP hat in der Art, wie sie Regierungsverantwortung wahrgenommen hat, seit 2009 die Leute verärgert. Ich hätte mir zum Beispiel gewünscht, dass diese fatale Steuerbegünstigung für Hoteliers zurückgenommen worden wäre. Ich wünsche mir jetzt zum Beispiel einen offeneren Umgang der FDP mit dem Thema Frauenquote, mehr Frauen in verantwortungsvolle Positionen. Warum hält sie sich darüber zurück? Warum sagt sie nichts zu den unanständigen Managergehältern, zu Auswüchsen der Zeitarbeit? Sie muss sich öffnen der Finanztransaktionssteuer, sie muss sich nach vorne bewegen und dann ihre liberale Duftmarke hinterlassen, aber sie darf sich nicht verweigern. Sie muss an diesen schwierigen Zukunftsthemen teilnehmen und die Umbrüche in einer immer unsicherer werdenden Welt mitgestalten und sich nicht verweigern. Das ist meine Hauptforderung an die FDP.

    Müller: Aber was Sie jetzt alles aufgeführt haben, Herr Baum – Sie stellen ja alles thematisch komplett auf den Kopf!

    Baum: Das ist nicht der Fall. Ich könnte noch was hinzufügen. Ich könnte zum Beispiel sagen, mir macht große Sorge die Demokratieentleerung in Europa. Wo sind die Bürger, wo sind die Parlamente, die an diesem Prozess mitwirken? Die Demokratieentleerung in Deutschland, die Krise der repräsentativen Demokratie, brauchen wir nicht neue Elemente der Mitwirkung, der direkten Mitwirkung der Bürger. Die FDP muss Zukunftsthemen diskutieren, auch wenn sie keine fertigen Lösungen hat. Sie muss ein überzeugendes Bild abgeben, dass sie begriffen hat, dass Liberalismus gefragt ist, und das muss täglich geschehen und es darf nicht eine Routine werden und ein Gesundbeten der Partei. Die Partei ist in der tiefsten Existenzkrise ihrer Geschichte.

    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Gerhart Rudolf Baum über die Situation der FDP. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Baum: Auf Wiederhören.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.