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Parzival'sche Geschichte eines versehrten Kindes

Karmiina war 17 Jahre lang gefangen, und entdeckt nun zum ersten Mal die Welt. Als moderner Parzival irrt sie durch den neu gewonnenen Lebensraum und erlebt die irrwitzigsten Momente ihres neuen Daseins - doch zunächst muss sie dafür einen Mord begehen.

Von Antje Rávic Strubel | 17.04.2009
    Was als Krimi beginnt, wird zur modernen Version des Parzival
    Was als Krimi beginnt, wird zur modernen Version des Parzival (Stock.XCHNG / Nate Nolting)
    Ein Mann, hinterrücks von einem Ziegelstein am Kopf getroffen, bricht zusammen. Ein Toter liegt im Saunakeller. Vom Ziegelstein tropft Blut. Tuuve Aros Roman beginnt wie ein Krimi. Einer der am Boden liegenden ist Polizist, der Tote im Saunakeller sein Fall. Aber schnell wird klar, dass der Fall hier Nebensache ist. Karmiina, das Mädchen, das seinen Jutesack gegen die Klamotten des niedergeschlagenen Polizisten eintauscht und vom Hof verschwindet, handelte aus Notwehr. Und: Dieser Roman erzählt noch einmal und erstaunlich neu von der Erkundung der Welt. Karmiina K. hat 17 Jahre eingesperrt in einem Saunakeller dahinvegetiert, jetzt ist sie frei.

    Jetzt zieht sie los in die Stadt, die große Unbekannte. Ihr Ziehvater, ein Tischler, hatte sie als Baby gegen Bezahlung bei sich aufgenommen. Das Kind war entstellt, eine Hand verkrüppelt, ein Bein lahm. Anlass für Spott und Quälerei der Tischlerkinder, und dem Tischler eine Art Freifahrtsschein, sich an ihr zu vergehen, wann immer er wollte. Wenn er vergaß, dem Mädchen Essen hinzustellen, aß Karmiina aus purer Not auch Ratten. Als sie mit 17 ausbricht, weiß sie, wie die Dunkelheit klingt, wie die Menschen auf dem Tischlerhof riechen; die Welt kennt sie nur aus der Sprache des Tischlers, der vor seinen Freunden beim Saunagang kommunistische Reden führte; er hatte "Das Kapital" gelesen. Als sie ausbricht, weiß sie nicht, was eine Asphaltstraße ist oder ein Bus, wie gutes Brot schmeckt oder was "invalide" bedeutet. Sie weiß nur, dass die Stadt etwas großartiges sein muss. Die Tischlerkinder hatten davon geschwärmt.

    Für den Polizisten wird ihre Spur leicht zu verfolgen sein; bei jedem Schritt schleift ihr lahmes Bein nach. Tuuve Aro hat mit ihrem ersten Roman "Karmiina K: Ich bin okay" eine moderne Parzival-Geschichte geschrieben. Wie Parzival zieht Karmiina in die Welt hinaus, wie er hat sie nur einen kleinen Wissenshorizont, vor dem sich alles Unbekannte riesenhaft abhebt. Sie hat einen unvermittelten Zugang zum Gefühl, egal, ob zärtlich oder aggressiv. Als ein Mann in einem Sechzigerjahre-Schlitten anhält, ihr verspricht, sie mitzunehmen, sie aber offenbar für eine Prostituierte hält, küsst sie ihn erst, um ihn dann aus Versehen zu erdrosseln.

    Sie gerät in ein Rennen von Rollstuhlfahrerinnen und ist entzückt von den silbern glänzenden Gefährten, mit denen die Frauen so schnell vorankommen. Sie jagt einen Maulwurf auf dem Mittelstreifen der Fahrbahn, weil sie Hunger hat. Im Gegensatz zu Parzival kennt Karmiina aber ihre Mutter nicht. Sie kennt nur eine Geschichte über ihre Mutter. Die soll sie und ihre Zwillingsschwester als Säuglinge in einen Brunnen geworfen haben, um sie loszuwerden. Die moderne Parzival-Geschichte, die Tuuve Aro erfindet, erinnert an jüngste Fälle aus der Realität, in denen Mädchen von ihren Vätern oder Stiefvätern im Keller gehalten und vergewaltigt werden. Die finnische Autorin entwirft dennoch keine gebrochene Figur, sondern eine Heldin. Ähnlich wie im mittelalterlichen Roman muss Karmiina Abenteuer bestehen und Feinde besiegen. Die Abenteuer ergeben sich durch kranke Busfahrer, aggressive Hunde, eifersüchtige Bandenführer und zickige Tänzerinnen. Auch die unverbrüchliche Helden-Freundschaft spielt eine Rolle.

    Maisa, eine der jungen Frauen im Rollstuhl, beginnt durch Karmiina wieder einen Sinn im Leben zu sehen; für Karmiina ist Maisa die erste, die sie freundlich behandelt. Die Leichtigkeit und der Witz, mit dem Tuuve Aro von Karmiina und ihren Abenteuern erzählt, sind die große Kunst dieses Buches. Der Witz entsteht in erster Linie durch die verkehrte Welt. In Karmiinas Blick wird das Vertraute unvertraut. Ein Rollstuhl ist nicht länger eine Last, die das Leben unerträglich macht, sondern Waffe und Lastenschlepper. Die Agitationsreden der Grünen Gefahr, einer Gruppe von Globalisierungsgegnern, entscheiden sich auf einmal nicht mehr von den Agitationsreden im Parlament, gegen die sie doch gerichtet sind. Der Modehype auf Technoparties scheint zumindest merkwürdig, wenn Karmiinas vernarbtes Gesicht für die coolste Maske, ihr Tanzstil wegen ihres gelähmten Beins für superhip gehalten und sie zur neuen Technoqueen gekürt wird.

    Tuuve Aro erzählt hier einerseits von Normierungen, von normierter Wahrnehmung und andererseits von ihrer Umkehrung; Karmiinas Anderssein wird zur Besonderheit. Als Karmiina sich mehr aus Zufall und weil sie Hunger hat, der Antiglobalisierungsgruppe anschließt, wird sie zur Rächerin der Enterbten. Die Sprache dieser Gruppe passt zur Sprache des Tischlers, "Das Kapital" kommt hier noch immer gut an, und so wird Karmiina bald zu einer zentralen Figur; mit ihr an der Spitzen stürmt die Gruppe das Parlament. Für Karmiina wird dieser Sturm aufs Parlament zu einer Abrechnung mit ihrer Kindheit.

    Der Witz und die Leichtigkeit dieses Buches sind aber auch einer heiteren, unbändigen Phantasie der Autorin geschuldet, die ihrer Heldin kein Zaumzeug anlegt, sondern ihr in die scheinbar abwegigsten Situationen folgt und sie glaubwürdig hindurchlotst. Verschiedene Perspektiven sind geschickt ineinander montiert, und dem Film- und Fernsehwissenschaftsstudium der Autorin sind die beinahe filmischen Schnitte zu verdanken, die dem Buch Spannung geben. An entscheidenden Stellen wechselt die Erzählstimme. Der Polizist kommt zu Wort, der seiner Frau nachtrauert, die ihn wegen ihrer Kinderlosigkeit verlassen hat. Maisa, die durch einen Autounfall querschnittgelähmt ist. Oder Kuisma, der Anführer der Grünen Gefahr, der verheimlicht, dass er der Sohn reicher Eltern ist und die Besetzung des Hauses, in dem sich die Grüne Gefahr einquartiert hat, nur vortäuschte; das Haus ist eigentlich sein Erbe.

    Tuuve Aro vermag etwas, das bei Autoren nicht selbstverständlich ist; sie empfindet Sympathie für ihre Figuren. Wenn der Polizist den Fall Karmiina vor allem deshalb vorantreibt, weil er sich vorstellt, seine Frau sehe ihm dabei zu, und seine Enttäuschung über die Wahrheit sich am Ende auf die Leser überträgt, oder wenn der arabischstämmige Busfahrer auf Karmiinas verkrüppelte Hand zeigt und fragt, was passiert sei, und sie ihm darauf antwortet: "Die ersten 17 Jahre so gut wie nichts. Aber die letzten zwei Tage waren proppenvoll", dann zeichnet sich die Stimmung dieses Textes ab: Tuuve Aro hat ein in all seiner Komik berührendes Buch geschrieben. In einer Sprache, die in der Übersetzung von Elina Kritzokat nichts an Treffsicherheit verliert, erzählt Aro die Geschichte eines versehrtes Kindes, die nichts anderes ist als die Geschichte der menschlichen Versehrtheit in einer Welt, die selten wirklich Sinn ergibt.

    Tuuve Aro: Karmiina K: Ich bin okay.
    Kookbooks Verlag, 216 S., 29,90 Euro.