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Patagonien jenseits der Touristenströme

Bizarre Felstürme, riesige Gletscher und unglaublich blaue Lagunen: Viele Reisende meinen, Patagonien sei die schönste Region der Erde. Was Touristen das Paradies, ist vielen Einheimischen allerdings eher die Vorhölle.

Von Nils Naumann | 04.10.2010
    Blühende Täler, glasklare Flüsse, imposante Gletscher – in der argentinischen Folklore werden die Schönheiten Patagoniens gerne und ausgiebig besungen. Maria Sonia Cristoff geht es um etwas ganz anderes, sie zeigt in ihrem Buch die verlorenen Ecken Patagoniens:

    Wie kein anderer Ort im Süden scheint Las Heras die Charakterisierung Patagoniens als einer Region der Düsternis und des Schreckens zu verkörpern. Auf halbem Weg zwischen Meer und Gebirge, inmitten der gefürchteten Ebene, wo alles die gleiche Farbe hat, irgendetwas zwischen weiß und gelb. Jedes noch so kleine Fleckchen Grün darf hier zu Recht Wunderstatus beanspruchen.
    Die argentinische Journalistin hat sich treiben lassen, Tage, Wochen, Monate an Orten verbracht, an denen die Überlandbusse meistens vorbei fahren.

    Ich ließ mich irgendwo an einer Ecke nieder und sah den Hunden zu, die vorbeiliefen. Ich lieferte mich vollständig dem betäubungsähnlichen Zustand aus, den ein Überschuss an Licht, Wind oder Stille in einem erzeugen können.
    Cristoff besuchte Orte wie Cañadón Seco, El Caín, oder eben Las Heras. Sie nennt sie Pueblos Fantasmas – bewohnte Geisterstädte, in denen schon junge Menschen oft nur einen Ausweg sehen:

    Die jugendlichen Selbstmörder aus Las Heras erhängen sich. Sie steigen einfach eines Tages auf einen Stuhl, ein Bett, einen Küchentisch, legen sich eine Schlinge um den Hals und lassen sich fallen. Noch am Tag davor wäre niemand auf den Gedanken gekommen, dass so etwas passieren könne, und auch danach bleibt es unerklärlich.
    Seit Jahren leidet Las Heras unter einer Selbstmordserie. Allein 2003, so berichtet Cristoff, brachten sich in dem 15.000-Einwohner-Städtchen acht junge Menschen um.

    Marcos erhängte sich mit einem Plastikschlauch. Er befestigte ihn am Balken eines der Häuser einer nie zu Ende gebauten Siedlung gegenüber dem Haus seiner Familie. Marcos kam mit seinen Geschwistern und forderte sie auf, ihm zu helfen, den Schlauch dort oben an dem Balken zu befestigen – er habe sich ein neues Spiel ausgedacht; dann stieg er auf einen Stapel aus Kisten, die sie aus den umliegenden Häusern herbeigeschafft hatten, und ließ sich fallen. Die Geschwister sahen zu, wie er sich gedankenversunken im Kreis drehte, und fragten sich, was der Witz an einem Spiel sein solle, das man letztlich nur alleine spielen kann.
    Die jugendlichen Selbstmörder fliehen vor Gewalt in der Familie, Armut, Tristesse und Perspektivlosigkeit. Dabei müsste die Region eigentlich reich sein. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde hier Öl gefunden. Doch die Gewinne flossen in die Hauptstadt Buenos Aires und ins Ausland. Inzwischen sind viele Ölfelder ausgebeutet. Zurück blieben die Überreste der Ölindustrie. Wo noch heute Öl gewonnen wird, wie zum Beispiel in Las Heras, ist die Förderung weitgehend automatisiert. Viele Menschen sind arbeitslos. Maria Sonia Cristoff:

    "Die Menschen haben keine Möglichkeit, ihr Leben zu verändern. Keine wirtschaftlichen Perspektiven. Auch der Staat ist nicht präsent. Sie haben keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung oder Bildung – und wenn doch dann ist das alles sehr einfach."
    Viele der Menschen, Einwanderer aus aller Welt aber auch aus anderen Landesteilen Argentiniens, kamen nach Patagonien in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch sie wurden enttäuscht:

    "Ich glaube, dass es eine Verbindung gibt zwischen dem Patagonien, über das ich erzähle, und dem Argentinien von heute. Der Region und dem Land wird seit Langem eine große Zukunft versprochen. Dieses Versprechen wurde aber in beiden Fällen nie eingehalten."
    Auch Cristoffs Familie ist nach Patagonien eingewandert. Ihr Großvater kam aus Bulgarien. Cristoff aber ging schon mit 17 in die Hauptstadt Buenos Aires.

    "Ich wollte schon immer weg aus Patagonien. Schon mit fünf oder sechs Jahren hatte ich diesen Gedanken. Und dann habe ich die erste Möglichkeit genützt."

    Doch Patagonien hat Maria Sonia Cristoff nie losgelassen. Sie gab mehrere Sammelbände mit Geschichten über die Region heraus und reist regelmäßig in ihre alte Heimat. Cristoff und Patagonien – das scheint eine Art Hassliebe zu sein.

    Ihr Buch zeigt die düsteren Seiten der Region. Den Kampf der Menschen mit Isolation und Abgeschiedenheit. Cristoff schont den Leser nicht. Manche Stellen schmerzen. Es ist kein Werk für beschwingte Stunden. Dafür bietet es einen Einblick in das Patagonien jenseits der Touristenströme.
    Doch Maria Sonia Cristoff will die Region nicht auf ihre negativen Seiten reduzieren. Auch sie kann sich für Patagonien begeistern:

    "Der Himmel. Das besondere Licht Patagoniens. Das ist unglaublich. In Buenos Aires gibt es das nicht. Diese Ruhe, die Einsamkeit in einem positiven Sinn, wenn du willst kannst du in Patagonien tagelang für dich sein."

    "Patagonische Gespenster". Reportagen vom Ende der Welt. Das Buch ist im Berenberg Verlag erschienen, hat 288 Seiten und kostet 25 Euro, ISBN: 978-3-93783-440-5.