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Patienten hungern lassen vor einer Operation?

Ab wann dürfen Patienten vor einer Operation nichts mehr essen? Die Meinungen der Ärzte in Deutschland gehen hier neuerdings weit auseinander. Die meisten Anästhesisten und Chirurgen sagen: Sechs Stunden vor einer Operation ist Schluss - dann darf nichts mehr gegessen und getrunken werden. Aber es gibt auch Anästhesisten, die das ganz anders sehen, die diese starre Regel für überholt halten. Im Evangelischen Krankenhaus Hattingen dürften Patienten bis zwei Stunden vor der Operation noch Wasser, Saft und auch Kaffee trinken.

Von Stephanie Kowalewski | 09.03.2004
    Patienten in Deutschland müssen nüchtern sein, wenn sie operiert werden. Sie dürfen sechs Stunden vor dem Eingriff nichts mehr essen und trinken. Um die Gefahr des Erbrechens - und damit eine Verätzung der Lunge - während der Narkose zu minimieren.

    Also das war so, am Vorabend bis 18 Uhr durftest du essen und trinken und ab da halt nichts mehr zu dir nehmen. Essen, das geht, darauf kann man verzichten sag ich mal, aber das nicht Trinken, das fand ich auf jeden Fall sehr … unangenehm.

    16-mal musste diese junge Düsseldorferin schon unter Vollnarkose operiert werden.
    Und jedes Mal hat sie dann im Durchschnitt zwischen 12 und 15 Stunden weder Speisen noch Getränke zu sich genommen.

    Das so etwas vor einer belastenden Situation nicht gut sein kann, kann sich jeder vorstellen.

    Sagt Dr. Ulrich Kampa, leitender Oberarzt und Anästhesist am Ev. Krankenhaus Hattingen. Lange Zeiten ohne Essen und Trinken schaden nicht nur dem allgemeinen Wohlbefinden des Kranken, sie schwächen auch den Darm. Ein funktionierender Darm ist jedoch wegen seiner zentralen Bedeutung im Immunsystem entscheidend für den Heilungsprozess.

    Und wenn man dem Darm etwas zu tun gibt, …nämlich Nährstoffe gibt, dann wird er ernährt, erhält seine Funktion und bleibt im Prinzip damit als wichtiges Organ im Rahmen der Immunabwehr ganz wichtig.

    Der Narkosearzt setzt daher gemeinsam mit den Chirurgen des Hauses auf eine andere Strategie: Für feste Nahrung und Milch gilt weiterhin die Karenzzeit von sechs Stunden, aber seit April vergangenen Jahres können die Hattinger Patienten bis zwei Stunden vor der Operation noch klare Flüssigkeiten trinken. Klare Flüssigkeiten, das sind Wasser, Kaffee, Tee, Fruchtsäfte ohne Fruchtfleisch und Limonaden. Für Deutschland ist das ein absolutes Novum. In anderen Ländern ist es längst gängige Praxis, sagt Ulrich Kampa.

    In Skandinavien wird seit Anfang der 90er Jahre, in England seit 1994 und in Amerika seit 1999 nach diesem Schema verfahren: zwei Stunden vorher ist völlig ausreichend.

    Denn Studien belegen, dass klare Flüssigkeiten den Magen bereits nach 90 Minuten verlassen haben und so auch nicht mehr zum gefürchteten Erbrechen führen können. Während der Narkosearzt Ulrich Kampa nur Vorteile in der verkürzten Nüchternzeit sieht, stehen die meisten seiner Kollegen dem neuen Verfahren noch sehr skeptisch gegenüber. So auch Prof. Hennig Harke, Chefanästhesist am Klinikum Krefeld.

    Es ist eine Risikoerhöhung und ich kann nach wie vor nicht einsehen, warum ich unseren Patienten eine Risikoerhöhung zumuten soll. Und ich glaube nicht, dass moderner Komfort für den Patienten mit einem Sicherheitsrisiko verbunden sein sollte. Wir wollen sicher starten und landen und dazu gehört meines Erachtens im Erwachsenenalter Flüssigkeitskarenz und auch Nahrungskarenz selbstverständlich von mindestens sechs Stunden.

    Doch ein erhöhtes Risiko gibt es gar nicht, hält Ulrich Kampa dagegen.

    Es gibt bei der Einleitung der Narkose nach diesen Untersuchungen aus Skandinavien kein erhöhtes Risiko. Wir überblicken mittlerweile etliche 1000 Patienten, denen wir es erlaubt haben, bei großen und kleinen Eingriffen, ohne dass wir ein Problem gesehen haben.

    Im Gegenteil: Bei eher kleinen Eingriffen wie Blinddarmoperationen oder Kniespiegelungen erhöht die kurze Nüchternzeit den Komfort der Kranken. Und auch Patienten mit großen Operationen und langen Narkosezeiten profitieren. In Hattingen trinken solche Patienten zwei Stunden vor der Narkoseeinleitung eine zuckerhaltige Lösung, die bewirkt, dass der Stoffwechsel während der Operation stabiler bleibt und der Darm nach der Operation schneller wieder normal arbeiten kann. Helfried Waleczek, Chefarzt der Chirurgie im Ev. Krankenhaus Hattingen, ist überzeugt, dass diese Methode den Heilungsprozess positiv beeinflusst.

    Wir nehmen wahr, dass unsere Patienten nach der Operation schneller wach sind, sich schneller konzentrieren können, sich besser bewegen können, wir nehmen wahr, dass sie sich einfach wohler fühlen…ihnen geht es einfach besser. …Wir machen unsere Patienten durch die Operation nicht mehr so krank, wie sie mit dem alten Konzept nach einer Operation waren.

    Das neue Ernährungskonzept hat sogar Auswirkungen auf Operationstechniken. Bei Dickdarmoperationen verzichtet der Chirurg neuerdings auf die für Patienten sehr unangenehme Darmspülung.

    Aber es steht das Dogma; der Darm, sozusagen die Kloake im Körper muss ganz blitzblank gespült sein, nur dann ist die Eröffnung der Leibeshülle, die Eröffnung des Darms für den Patienten so wenig gefährdet wie eben möglich. …Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass durch diese gute Spülung auf der einen Seite auf der anderen Seite Nachteile in Kauf genommen werden, die die Wundheilungspotenz einer Darmnaht negativ beeinflussen kann.

    Deshalb werden durch ein mildes Abführmittel lediglich größere Stuhlmengen aus dem Darm entfernt, erklärt der Chirurg Helfried Waleczek.

    Aber wir nehmen bewusst einen Beschlag des Darms mit Restnährstoffen in Kauf, weil wir wissen, dass ist genau das, was der Darm braucht, um in einem guten Zustand zu sein.

    Auch nach dem Eingriff sollen die Patienten möglichst schnell wieder normale Nahrung zu sich nehmen. Statt mit dem Stethoskop auf dem Bauch des Patienten nach Geräuschen für eine Darmtätigkeit zu suchen, gilt in Hattingen das Motto: Der Patient ist wach und kann etwas trinken. Nach einem Dickdarmeingriff gibt es am nächsten Morgen erstmals leichte Kost. Lucia Wanjewisch wurde vor einer Woche ein Tumor aus dem Dickdarm entfernt. Schon vier Tage nach der schweren Operation isst sie die ganz normale Krankenhauskost.

    Ist nichts passiert. - Ich esse schon fast alles. …Trinke Kaffee…Jeden Tag besser. Schmerzen hab ich auch keine, von Anfang an, hab ich keine Schmerzen gehabt.