Freitag, 29. März 2024

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Paul Maars "Roman meiner Kindheit"
Die Kraft des tröstlichen Kinderuniversums

Paul Maar zählt zu den beliebtesten deutschen Kinderbuchautoren. Die Sams-Geschichten, weitere Kinder- und Jugendbücher, Theaterstücke und Hörspiele stammen aus seiner Feder. Nun ist der autobiografische Roman seiner Kindheit erschienen, der sich wie ein Schlüssel zu Paul Maars Schreiben liest.

Von Siggi Seuß | 19.10.2020
Der Schriftsteller Paul Maar und seine Kindheitserinnerungen
Der Schriftsteller Paul Maar und seine Kindheitserinnerungen (Cover Fischer Verlag / Portrait Paul Maar (c) Marcel Domeier)
Paul Maar beginnt seine neue Sams-Erzählung "Das Sams und der blaue Drache" mit ein paar wehmütigen Gedanken:
"Im Nachhinein habe ich es manchmal bedauert, dass die Wunschmaschine so schnell kaputtging."
Also erweckt er die Maschine zu neuem Leben. So einfach geht das in der Fantasie. Im richtigen Leben sieht das ganz anders aus. Dem jungen Paul stand nie eine Wunschmaschine zur Verfügung, die seine unendliche Lust auf Abenteuer befriedigt und gleichzeitig seinen von Angst gebändigten Drang auf Knopfdruck beseitigt hätte, aus den bedrückenden familiären Verhältnissen auszubrechen.
"Es kommt ein Bedauern und es kommt vor allen Dingen oft ein Bedauern auch nachts, wenn ich nicht schlafen kann - all die Dinge, die ich nicht getan habe, Situationen, die ich nicht begriffen, nicht ergriffen habe."
Die kindliche Abenteurerzeit
Man kann nach der Lektüre seines autobiografischen Romans ohne Bedenken behaupten: Hätte es in Paul Maars Kindertagen eine Wunschmaschine gegeben, wäre aus ihm ein ganz anderer geworden als der, der er ist. Dass er sich mehr im Milieu der kindlichen Abenteurerzeit bewegt als anderswo, ist seinen Jahren auf dem Dorf geschuldet.
"Ich glaube, dass diese fünf, sechs Jahre, die ich dort verbracht habe, dass diese mir die Kraft gegeben haben, alles andere gut durchzustehen und auszuhalten. Weil ich da so meinen ,inneren Kern' geformt und gefunden habe. Und wusste: Es gibt Freude."
Wie konnte aus dem fantasiebegabten und oft kränkelnden Jungen das werden, was er geworden ist? Obwohl ihm sein Vater immer wieder zu verstehen gab - zuerst mit Schlägen, dann mit Worten -, dass er nicht der Sohn war, den er sich wünschte.
"Nun blieb ich der ungeratene Sohn, der so gar nicht seinen Vorstellungen von einem drahtigen, sportbegeisterten Jungen entsprach, sondern mit Brille auf der Nase und krummem Rücken verweichlicht im Sessel lümmelte, ein Buch in der Hand."
Sanft, selbstironisch, selbstreflexiv
Paul Maar erzählt auf unvergleichlich sanfte, selbstironische und nun auch selbstreflexive Weise von allen Schattierungen seines Lebens als Kind und Jugendlicher. Dabei fügt er den Erinnerungen immer wieder Bezüge zur Gegenwart an - liebevolle Augenblicksskizzen seiner seit Jahren an Alzheimer leidenden Ehefrau Nele.
Die bedeutsamsten Prägungen dieser Zeit: der Tod der leiblichen Mutter, als er sechs Wochen alt war. Die Jahre mit seiner geliebten Stiefmutter bei deren Familie am Dorf. Die Rückkehr des von Krieg und Kriegsgefangenschaft schwer gezeichneten Vaters, der sich für Paul zum monströsen Schreckensmann entwickelte. Das Kennenlernen seiner späteren Gattin Nele, die ihm den Weg in eine faszinierend neue Welt – die des Theaters - öffnete.
Greifbare Bilder
Die Bilder, die sich im Kopf der Leser entwickeln, werden greifbar, als stünde man selbst als teilnehmender Beobachter neben dem Erzähler. Selbst die Gerüche in der Gastwirtschaft seines Großvaters steigen einem in die Nase. Und das Milieu, das Paul zu sich in die Mittelmäßigkeit ziehen will, ist nahezu körperlich spürbar.
"Ich hatte mir schon während der Schulzeit einen gewissen Ruf als Maler und Grafiker erworben. Mir stand eine Karriere als Provinzmaler bevor, geschätzt von der Schweinfurter feinen Gesellschaft, der die Fassaden ihrer Häuser mit einem in Putz gekratzten Sgrafitto schmücken und alle paar Jahre eine Ausstellung seiner Bilder an den Wänden der Volkshochschule zeigen durfte."
Und dann Nele, das Zauberwesen aus der Welt der misstrauisch, aber auch neidisch beäugten Künstler. Sie und ihr Bruder Michael Ballhaus wuchsen als Kinder in einem kleinen Privattheater in der Provinz auf, im Fränkischen Theater.
"Man saß beim Nachmittagstee und unterhielt sich über Bühnenstücke, sprach von Malern, die ich nicht kannte und von Büchern, die ich nicht gelesen hatte. Und mir wurde klar: Das ist meine Welt! Da will ich hin."
Zwei rettende Welten
Zwei Welten also retteten Paul: die für ihn heile Welt des fränkischen Dörfchens, in dem er mit seinen Freunden den Fantasien freien Lauf lassen konnte, in den Schilfhöhlen am Ufer des Mains. Und: die leibhaftige Nähe zum Theater, die ihm so viele Türen zu unbekannten Galaxien öffnete.
Doch über all den mit Humor beschriebenen Geschichten liegt Schwermut. Der Vater blieb Paul Maar ein Fremder bis über dessen Tod hinaus. Die Ablehnung des Lebenswegs seines Sohnes empfand der als so verletzend, dass er glaubt, die Erniedrigungen hätten in ihm auch Eigenschaften befördert, mit denen er bis heute zu kämpfen hat: Angst und Schüchternheit. Im Buch geht Maar schonungslos offen mit seinem Verhalten um:
"Deswegen ist es so, dass ich manchmal mir an den Kopf fasse und sage: ,Warum mach ich das? - Ja, weil man Vater das wollte.' Der ist immer noch im Hinterkopf und dirigiert mich – und darüber ärgere ich mich."
Nicht einmal die zahlreichen Ehrungen und Preise, die Paul Maar im Lauf seines Lebens erhalten hat, können ihn darüber hinwegtrösten.
"Ich hab mal versucht, mich zu fragen, woher das kommt, dass ich mich eigentlich über keinen der vielen Preise jemals gefreut habe. Das ist die Prägung durch meinen Vater. Ich habe mich unwürdig gefühlt, das entgegenzunehmen."
Traumatische Präsenz des Vaters
Nicht, dass sich der erwachsene Paul nicht gegen diese traumatische Präsenz des Vaters zur Wehr gesetzt hätte. Mit welchen Folgen, beschreibt eine Passage aus seinen Erinnerungen:
"Ich suchte nach einem Foto, das ihn zeigte, vergrößerte es, legte es auf einen Lichtkasten und einen Bogen Aquarellpapier darüber, dann zeichnete ich die Konturen nach, vergaß auch nicht die charakteristische Lücke zwischen seinen oberen Schneidezähnen und bog seine Mundwinkel etwas höher als auf dem Foto, so dass sich der vage Anflug eines Lächelns auf seinem Gesicht zeigte. Anschließend colorierte ich die Zeichnung. Das alles sollte wie ein Voodoo-Zauber wirken, eine magische Beschwörung, die mir meine unsinnige, kindische Furcht nehmen würde.
Das Bild lag dann eine Weile auf meinem Arbeitstisch. Ich fühlte mich diesem gemalten Vater sogar näher als dem aus meiner Erinnerung. Nach einer Weile legte ich das Bild in die Schublade, in der ich meine Illustrationen aufbewahrte, und vergaß es.
Ein halbes Jahr später öffnete ich die Schublade auf der Suche nach einer Illustration. Urplötzlich empfand ich etwas wie einen Schlag in den Magen, eine Blutleere im Gehirn. Ich warf die Schublade so heftig zu, dass sie wieder aufsprang und noch einmal geschlossen werden musste."
Paradies und Hölle einer Kindheit
Der rätselhafte Vater – ein Schreckensmann, der wie ein Springteufel aus der Schublade fährt, gerade dann, wenn der Sohn glaubt, mit ihm Frieden geschlossen zu haben. Paul Maar hatte das Manuskript von "Wie alles kam" bereits beendet, als ihm seine Schwester einen Karton mit Briefen aus dem Nachlass der Mutter übergab. Darunter befanden sich Feldpostbriefe des Vaters an die Ehefrau zu Hause. Paul Maar fiel aus allen Wolken. Er lernte in den liebevollen und empathisch geschriebenen Zeilen einen Vater kennen, den er so nie erlebt hatte.
Damit endet der Roman seiner Kindheit mit einem Ereignis, das das Vaterbild völlig erschüttert. In einem Nachwort bewertet Paul Maar deshalb die Schuldfrage neu. Doch die Leser wissen nach dieser Zeitreise durch Paradies und Hölle einer Kindheit: Nur das allseits tröstliche Kinderuniversum, das Paul Maar im Lauf der Jahrzehnte geschaffen hat, gab ihm die Kraft, die ewige Vater-Sohn-Tragödie im Zaume zu halten.
Paul Maar: "Wie alles kam. Roman meiner Kindheit"
Verlag S. Fischer, Frankfurt a. M. 304 Seiten, 22 Euro.
Paul Maar: "Das Sams und der blaue Drache"
Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg. 185 Seiten, 13 Euro.