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Paul Nizon: "Sehblitz. Almanach der modernen Kunst"
Kunst als Beatmungsgerät

Der große Schweizer Schriftsteller Paul Nizon war zunächst Kunstkritiker. Jetzt ist ein Band mit seinen Texten zur Kunst erschienen. Er zeigt, wie sehr sich Leben, literarisches Schreiben und die Auseinandersetzung mit bildender Kunst bei Nizon durchdringen.

Von Matthias Kußmann | 13.07.2018
    Buchcover: Paul Nizon: "Sehblitz. Almanach der modernen Kunst"
    Buchcover: Paul Nizon: "Sehblitz. Almanach der modernen Kunst" (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Hintergrundfoto: Gerda Bergs)
    "Er war auf dem besten Wege, an allem vorbeizutreiben. Er lebte in Erwartungen, aber er lebte teilnahmslos, begriffslos und schlimmer: blind."
    Schreibt Paul Nizon 1975 in seinem Roman "Stolz". Er erzählt von einem jungen Mann, der sich nach dem Abitur treiben lässt, von Hilfsarbeiten lebt und Affären hat – ein Außenseiter. Zufällig gerät er in eine Ausstellung des Malers Chaim Soutine. Dessen Bilder so genannter kleiner Leute bewegen ihn.
    "Er müsste sehen lernen, dachte er unklar, und plötzlich sehnte er sich ganz stark danach, etwas, gleichgültig was, in aller Stille zu betrachten, zu bedenken und zu begreifen."
    Stolz studiert Kunstgeschichte, obwohl er Akademiker hasst, und findet zu van Gogh, auch der war ein Außenseiter. Spätestens hier wird klar, wie viel die Romanfigur mit dem Autor gemein hat. Der Schweizer Paul Nizon, Jahrgang 1929, studiert ebenfalls nach ziellosen Jahren Kunstgeschichte. Die Begegnung mit van Gogh ist für ihn eine Erweckung. Er wird Museumsassistent, dann Kritiker bei der Neuen Zürcher Zeitung; er schreibt über Kunst und schärft so den Blick, der ihn später als Autor auszeichnet. Jetzt ist unter dem Titel "Sehblitz" eine Auswahl seiner Texte zur Kunst erschienen. Im Vorwort notiert er über die Anfänge als Kritiker:
    "Die damalige Moderne stand unterm Zeichen der abstrakten Nachkriegskunst, der so genannten Ecole de Paris und des amerikanischen 'action painting'. Mit beiden Strömungen verband mich das Gefühl einer Zugehörigkeit, doch wie waren die mich erregenden künstlerischen Vorgänge in Sprache zu fassen? Natürlich nur mit literarischen Mitteln. So sind denn diese frühen Arbeiten zur Kunst als Teil meines literarischen Werdegangs anzusehen."
    Kenntnisreich, aber unakademisch
    Der Band enthält Texte von den 1950er bis in die 2010er Jahre, vor allem Ausstellungskritiken, Katalogbeiträge, Künstlerporträts und Atelierbesuche. Es geht um Vorläufer der Moderne wie Goya und Turner, moderne Klassiker wie Matisse und Miró, und um Zeitgenossen von Nizon – vor allem Schweizer Landsleute, etwa Walter Vögeli. Die Texte sind sehr kenntnisreich, aber unakademisch; lebendig geschrieben, manchmal fast rauschhaft, man spürt Nizons Leidenschaft. Der Band zeigt ihn als originellen Kunstkritiker, eine wenig bekannte Seite des Autors. Noch interessanter aber ist, wie tief die Beschäftigung mit Kunst in seine Literatur hineinragt. Ein Bild von Jackson Pollock nennt er eine…
    "…oberflächlich an Sternkarte oder Milchstraßengeschehen erinnernde Farbtafel großen Ausmaßes, die keinen Anhaltspunkt für Geschichtenbedürftige liefert, weder Zentrum noch dominierende Blickpunkte besitzt…"
    …was auch für seine Poetik gilt. Auch er will keine Geschichten erzählen, sondern Momente gelebten Lebens in Sprache festhalten und noch einmal lebendig werden lassen. Über Pollock heißt es weiter:
    "Man merkt bald, dass da eine Originalkraft, eine Naturkraft des Angstausstehens am Werk ist, unberührt von ästhetischem Wissen."
    Autofiktion in eigener literarischer Sprache
    Die Grunderfahrung von Angst und Verlorenheit prägt auch Nizons Prosa, beeinflusst vom Existentialismus. Sie kreist vor allem um eine Figur: ihn selbst. Seine Romane und Erzählungen seit den 70er Jahren sind das, was heute als "Autofiktion" der letzte Schrei ist – nur besser, weil er seine Erfahrungen nicht nur abschildert, sondern eine eigene literarische Sprache hat. Schreibt er über Künstler, interessiert ihn ihre Biografie. Je schwieriger ihr Leben, desto näher ist es am eigenen. Über van Gogh schreibt er 1977:
    "Vincent ist zur Kunst gekommen, weil 'Kunst' oder eine ähnliche Betätigung an einem bestimmten Tiefpunkt seines Lebens sich als die einzig verbliebene Möglichkeit zur menschlichen Partizipation anbot. Tödlich gefährdet in seiner extremen Isolation, schloss er sich an die Kunst an wie an ein Beatmungsgerät."
    Damit spricht Nizon zunächst von van Gogh; dann aber auch von sich, der sein Schreiben als existentiell notwendig sieht; und nicht zuletzt von "Stolz", der Figur aus dem Roman, der zwei Jahre vor dem van Gogh-Essay erschien. Andererseits übernimmt er die Romanpassage über Chaim Soutine in "Stolz" fast wörtlich aus einer Kritik, die er zuvor für die Zürcher "Weltwoche" schrieb. Auch sie steht in dem "Sehblitz"-Band. So wird deutlich, wie sehr sich Leben, Schreiben und ästhetische Erfahrung bei Nizon durchdringen. Seine Prosa, Kunstkritiken und Essays bilden ein Spiegelkabinett der Verweise.
    "Gehe ich zu weit, wenn ich behaupte, ich sei als Schriftsteller bei der Kunst der Moderne zur Schule gegangen?"
    Der Kunstmarkt als Geldmaschine
    Paul Nizon wurde manchmal vorgeworfen, er interessiere sich nur für seine schwierige Biografie, sein Schreib- und Liebesleben; vor allem in den Jahren nach 1968, als "engagierte" Literatur gefordert wurde. Es stimmt, Gesellschaftskritik gibt es in seiner Prosa kaum. Aber verblüffenderweise in den Texten zur Kunst. Gerade in der Zeit um '68 schlägt er kritische Töne an, geißelt den Kunstbetrieb als das, was er heute noch mehr ist: eine Geldmaschine. Er spricht vom …
    "…alles dominierenden Warencharakter des Daseins."
    Und man denkt, oha, der vermeintlich unpolitische Nizon hat Adorno gelesen. Er schreibt über Pop Art, die nicht "seine" Kunst ist, weil sie Bilder nicht mehr als ästhetische Objekte sieht. Dennoch versteht er es, wenn sie Werke zur "Demonstration und Aktion" nutzt.
    "Und geschehe es auch nur in der trügerischen Hoffnung, einem Kunst- und Kulturbetrieb zu entgehen, der jedes Werk, welchen Standort immer es einnehme und welche geistige Sprengkraft es auch enthalte, letzten Endes als Ware verpackt und auf der Kunstmesse entschärft zu integrieren droht."
    Da spricht, so richtig es ist, auch der damalige Zeitgeist. In seinem großartigen literarischen Werk hat sich Nizon dann wieder ganz auf sich, sein Denken und seine Sprache konzentriert.
    Paul Nizon: "Sehblitz. Almanach der modernen Kunst"
    Hrsg. und mit einem Nachwort von Pino Dietiker und Konrad Tobler
    Suhrkamp Verlag, Berlin. 304 Seiten, 20 Euro.