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Pauline und Claudine

Nicht ungefährlich, der Weg zu Virginie Despentes: Ein brennendes Auto steht auf der Kreuzung. Dicker Qualm mischt sich mit der Hitze dieses Tages im Mai. Eine verschleierte Frau stolpert in einen Müllhaufen. Schreie. Winken. Die Stimmung ist krawallig. In Barbes, dem Schwarzen-Viertel von Paris, schieben sich heute nur wenige Weiße durch den Pulk. Und die haben ausnahmslos schwer geladen: Schnaps, Pillen, Heroin, Crack. Gescheiterte Existenzen, wie die ausgemergelte junge Frau mit Kinderwagen, die in einem Straßencafé sitzt und mit ihrem Kopf immer wieder auf den Bistrotisch knallt.

Brigitte Neumann | 23.08.2001
    Eine Szene, wie sie auch in Virginie Despentes neuem Roman "Pauline und Claudine" vorkommen könnte. In dem Buch geht es um Zwillingsschwestern, die sich zu Feindinnen entwickelt haben. Claudine ist die schöne, aber berechnende. Pauline die kluge, integre, aber hässliche. Die Karten können jederzeit neu gemischt werden.

    Claudine sieht aus wie eine lebende Barbie-Puppe, ausgestattet mit dem richtigen sexy-Klamotten-Kit, das die Männer um den Verstand bringt. Die Zwanzigjährige hat´s nicht auf Liebe abgesehen: sie will Pop-Star werden. Pauline hingegen hat so ziemlich jeden Mann, der sich einmal für sie interessierte, an Claudine verloren. Sie ist schroff, hasst Verlogenheit und im Gegensatz zu ihrer Schwester, kann sie singen. Taugt aber nicht für die Bühne, breitfüßig und plump wie sie daherkommt.

    Eines Tages bittet die verzweifelte Claudine ihre Schwester, sie bei einem Auftrittstermin zu vertreten. Pauline willigt ein - ein Moment tiefster Depression für Claudine. Sie stürzt sich aus dem Fenster und wird als namenlose Tote von der Feuerwehr abtransportiert. Im Pariser Ghettoviertel Barbes sind Selbstmorde an der Tagesordnung.

    Pauline sieht ihre Stunde gekommen, schlüpft unerkannt in die Haut ihrer Zwillingsschwester. Und wird Pop-Star.

    "Pauline und Claudine", der neue Roman von Virginie Despentes könnte als ‚Krieg der Frauen' interpretiert werden. Aber die 31-jährige Französin will ihr Buch ganz anders verstanden wissen:

    Es geht da nicht um ein Ding zwischen den Frauen. Es geht da um diese Zwillinge. Und die sind Facetten von mir, die ich nicht übereinbrachte. Wie eine Debatte, die in einer Person stattfindet. Für mich sind Pauline und Claudine ein und die gleiche Person. Und es ist wie eine Axe, die nicht funktioniert. Es hat nichts mit Konkurrenz zwischen Frauen zu tun. Ich finde es sehr schwierig, als Frau zu leben. Zwischen den sozialen Anforderungen, dem persönlichen Verlangen. Nicht nur auf der Ebene der Weiblichkeit, denn in den jolies choses geht es ja auch um Geld verdienen und Erfolg haben und nicht allzu schmutzig dabei zu werden. Geld verdienen kostet einen immer ne ganze Menge.

    Auch Virginie Despentes ist nicht immer mit heiler Haut aus ihren Geschäften herausgekommen. Die Tochter zweier Postbeamter aus Nancy brach mit 17 von zuhause aus, ging nach Lyon und schloss sich einer Gruppe von Punks an. Mit Bands, die ‚Brigade' und ‚Jingo de Lunch' hießen, tourte sie durch Deutschland. Man gab sogar Konzerte für die politischen Gefangenen der RAF.

    Zurück in Lyon arbeitete Virginie Despentes in Plattenläden oder in der Fotoabteilung eines Supermarktes. Dann: ihr Einstieg in die Prostitution:

    Ich war Gelegenheitsprostituierte, aber nicht auf der Straße oder so, sondern über Minitel (vergleichbar mit dem deutschen BTX). Ich hab das gemacht, damit ich das Geld hatte, in Konzerte zu gehen. Und in Lyon ging das Geschäft auch gut. Aber als ich nach Paris kam, lief's überhaupt nicht mehr. Zu viel Konkurrenz. Und dann bin ich auf einen Schlag unheimlich superarm geworden. Das war richtig scheiße.

    Um dem Gerichtsvollzieher zu entgehen, wechselte sie ihren Namen und hieß fortan Virginie Despentes. Sie begann zu schreiben. Bücher, wie sie sagt, die sie gerne gelesen hätte, als sie 14 war.

    Dieser 14-jährigen möchte ich gerne was Positives sagen, nämlich dass sie kein Monster ist, dass sie nicht alleine ist, dass es normal ist, wütend zu sein. Und dass es ihr im Leben noch besser gehen wird, als sie es jetzt glaubt.

    Letztes Jahr wurde Virginie Despentes mit einem Schlag berühmt. Die Verfilmung ihres Buches "Wölfe fangen" aus dem Jahr 1996, wurde zum Skandalevent der letztjährigen Filmfestspiele in Cannes: Baise-moi. Ein feministischer Horrorstreifen, der in Frankreich wegen seiner pornographischen Szenen sofort verboten verboten wurde. Seine beiden Heldinnen, Manu und Nadine, Figuren aus dem Pariser Kleindealermilieu, drehen nach einer Gruppenvergewaltigung durch und knallen alles ab, was ihnen gegen den Strich geht. Geldsäcke, Freier, devote Frauen in einem Swingerclub, Flics, dicke Omis im Café. Es ist wie in einem dieser Guerilla-Computer-Spiele und die Amokläuferinnen fühlen sich das erste Mal befreit und ernst genommen. "Thelma und Louise mit Schockeffekt" titelte eine deutsche Frauenzeitschrift damals, aber Virginie Despentes meint:

    Nö, den Zusammenhang sehe ich nicht. Thelma und Louise, das ist ein Film für jedermann. Unserer war an ein Spezialpublikum gerichtet, wir dachten, die Horrorzuschauer zu beeindrucken.

    Ich mag sehr die Punkseite des Films. Das heißt, lass dir nix bieten. Es gibt einen typischen Punkhumor in diesem Film. Ein bisschen "Leck mich!". Ein Film, der wie der Punkfilm ‚Das Kettensägenmassaker' aus dem Jahr 1970, ein Horrorfilm ist. Wir haben überhaupt nicht daran gedacht, dass die Sache derart provozieren könnte. Wir waren glücklich, zu viert zusammenzusein. Und den Film machen zu können. Wir haben uns nicht schlecht amüsiert. Es war klasse.


    Virginie Despentes in Rosenhemdchen und Wickelrock zuhause in ihrer Pariser Einzimmerwohnung hat so gar nichts von einem Punk. Sie ist sichtlich nervös, raucht Kette, die Gesichtsmuskeln zittern leicht, während sie spricht:

    Bei allem was ich mache, ist glaube ich ganz sichtbar, dass ich Angst habe vor der wirklichen Welt, vor der Welt der Erwachsenen. In allen meinen Büchern ist es so, dass die Figuren nicht hinüberwollen in die Welt der Erwachsenen. Sie wollen Jugendliche bleiben. Ich fänd´s auch schön. deswegen bin ich auch zu den Punks nach Lyon gegangen. Da war es klasse.

    Virginie Despentes fühlt wenig Gemeinsamkeit mit den arrivierten französischen Autoren. Eher mit Charles Bukovsky, sagt sie. Aber sie hadert mit Geistern, die sie selbst gerufen hat...

    Ich komme nicht vorwärts mit dem Schreiben. Weil ich das Gefühl habe, dass das nicht zusammengeht, bekannt zu sein und gut zu schreiben.

    Es gibt ne Menge Leute, die erwarten Sex von mir. Das werde ich ihnen nicht geben. Es wäre gefährlich für mich, wenn ich mich auf diese Schiene einlassen würde. ich habe auch das Gefühl, dass es viele gibt, die Aufrichtigkeit und Echtheit von mir wollen. Aber was mir ganz und gar nicht gefällt, ist diese Erwartung eines nächsten Sex-Romans.


    Mit Michel Houellebecq, Catherine Millet, Catherine Breillat und Christine Angot ist Virginie Despentes Teil einer dynamischen französischen Literaturszene, die für ein Thema steht: Sex. Und ein Blick aus dem Fenster genügt, um zu sehen, dass das Straßenleben in Paris sexuell aufgeladener ist, als in jeder beliebigen deutschen Großstadt. Sexualität ist Identität, sagt Virginie Despentes kämpferisch. Und: In diesem Land ist es eine Verpflichtung für jede Frau, verführerisch zu sein.

    Und Frauen, die da nicht mitspielen, werden angegriffen. Und weil es Gewalt von der einen Seite gibt, ist auch die Reaktion sehr stark. Ich will dieses Weiblichkeitsdiktat zerstören, weil es mich erstickt.