Freitag, 19. April 2024

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"Peinliche Blamage"

Der ehemalige Berliner Justizsenator Rupert Scholz hat den sächsischen Behörden schwere Versäumnisse beim Umgang mit dem Sexualstraftäter Mario M. vorgeworfen. Dessen Flucht auf ein Dach der Justizvollzugsanstalt in Dresden hätte von einem Sonderkommando beendet werden müssen, sagte der Juraprofessor. Aus seiner Sicht gebe es Tendenzen im deutschen Strafrecht, die dem Täterschutz ein zu hohes Gewicht geben.

Moderation: Bettina Klein | 10.11.2006
    Bettina Klein: Die Justiz hätte gewarnt sein können, meinen Beobachter. Der geständige Sexualstraftäter, der dem Mädchen Stephanie ein wochenlanges Martyrium bescherte, war bereits am Tag vor seiner Flucht auf das Dach ausfällig geworden. Er hatte randaliert und ließ sich auch im Gerichtssaal nur schwer zähmen. Dann folgte am nächsten Tag der Weg auf das Dach, wo er 20 Stunden ausharrte, weil die Behörden bei einem Zugriff einen Selbstmord befürchteten. So konnte man stundenlang im Fernsehen einen mutmaßlichen Schwerverbrecher dabei beobachten, wie er sich möglicherweise über die Justiz lustig machte. Nach der anstrengenden Nacht war Mario M. dann nicht mehr verhandlungsfähig. Der Prozess konnte zunächst nicht fortgesetzt werden.

    Drei Konsequenzen gibt es bereits. Das Opfer, das Mädchen Stephanie, hat seine Aussagebereitschaft zurückgezogen wegen mangelnder Sicherheit. Zweitens: Der Prozess ist unterbrochen, weil der Angeklagte und Geständige nicht verhandlungsfähig ist. Und die dritte Konsequenz vielleicht: Polizei und Justiz wurden von einem mutmaßlichen Schwerverbrecher vorgeführt.

    Zu all diesem will ich nun ein Gespräch führen mit Rupert Scholz, Professor für öffentliches Recht und ehemaliger Justizsenator in Berlin. Guten Morgen, Herr Scholz!

    Rupert Scholz: Schönen guten Morgen!

    Klein: Was folgt für Sie aus den Pannen in Dresden?

    Scholz: Ich glaube, dass aus diesen Pannen eine ganze Menge an notwendigen Konsequenzen folgt, denn so etwas darf sich, um es kurz zu sagen, nicht wiederholen. Es ist nicht nur eine Blamage für die Dresdner Justiz, sondern es ist auch ein im Grunde sehr tiefgreifender und sehr, sehr ernst zu nehmender Verstoß gegen die Menschenwürde des Opfers, des Mädchens Stephanie, das neu in Angst versetzt worden ist. Wenn wir unser Strafrecht und auch unser Strafprozessrecht, unser Haftrecht ernst nehmen, dann muss der Opferschutz, der Schutz des Opfers - und gerade wenn es um Jugendliche, um Kinder geht, ist der Opferschutz besonders hoch anzusetzen - wirksamer durchgesetzt werden. Hier kann man nicht argumentieren und sagen, der Täterschutz hat die gleiche oder eine vergleichbare Bedeutung. Es muss eine sehr klare Priorität betont und ausgesprochen werden zugunsten des Schutzes des Opfers.

    Klein: Also Sie sagen, wenn ich es richtig verstehe, wir brauchen keine Gesetzesänderungen, sondern der Opferschutz muss konsequenter umgesetzt werden. Wie hätte das in diesem Fall denn aussehen können?

    Scholz: Es hätte mit Sicherheit so aussehen müssen, dass man schon den randalierenden Auftritt des Täters im Strafprozess, im Gerichtssaal nicht hätte hinnehmen dürfen, sondern dass man den sehr klar mit Sanktionen hätte versehen müssen. Der Richter hätte durchaus die Möglichkeit gehabt, die Verhandlung ohne die Anwesenheit eines entsprechenden randalierenden Straftäters fortzusetzen.

    Das zweite ist natürlich die peinliche Blamage der Dresdner Justizvollzugsanstalt, dass hier 20 Stunden ein Täter, von dessen besonderer Gefährlichkeit man ja wusste, sich befreien kann und dann auf dem Dach da spazieren geht 20 Stunden und im Grunde, man könnte sagen, von seinem Opfer angefangen bis hin zum gesamten Rechtsstaat alle Organe, alle Verantwortlichen verhöhnt hat.

    Klein: Weshalb ist es nach Ihrem Eindruck dazu gekommen?

    Scholz: Ja gut, das sind mit Sicherheit, wie man so schön sagt, Pannen. Pannen können immer passieren. Das muss man auch einräumen. Aber eine Panne dieser Art ist nicht verzeihlich. Gerade weil man um die besondere Gefährlichkeit dieses Täters wusste, hätte man ihn wirklich so konsequent bewachen müssen, in Einzelhaft halten, gegebenenfalls auch in einem Hochsicherheitstrakt verwahren müssen, dass so etwas nicht passieren kann.

    Klein: Nach der Flucht, denken Sie, hätte ein Selbstmord des Täters in Kauf genommen werden müssen, denn genau so argumentiert ja die Justiz dort?

    Scholz: Ich glaube, dass das eine völlig falsche Betrachtungsweise ist. Wenn ich dieses Argument ernst nehme, dann dürfte ich - und ich spitze es jetzt einmal zu - überhaupt niemanden mehr verhaften, weil er ja möglicherweise, der betreffende Täter, der verhaftet worden ist im Gefängnis Selbstmord begeht. Das ist theoretisch immer möglich. Das kann immer passieren. Also kann ich nicht argumentieren und sagen, wenn jemand auf der Flucht ist oder auf einer Flucht innerhalb des Gefängnisses, ich gegen ihn nicht vorgehen kann, ihn nicht ergreifen kann, ihn zum Beispiel auch nicht betäuben kann. Das ist ja alles möglich. Wenn man ein entsprechendes Sonderkommando aufs Dach geschickt hätte, hätte man das sehr schnell zu Ende bringen können. Dass man das 20 Stunden hingenommen hat, ohne zu solchen Maßnahmen zu greifen, nur mit dem Argument, es könnte ja ein Selbstmord passieren, das halte ich für völlig unangemessen und unverhältnismäßig.

    Klein: Die Behörden sagen, sie befürchteten einen sehr spektakulären Suizid vor den vielen Kameras, die dort aufgebaut waren. Und offenbar hatte die Justiz ja selber die Befürchtung, dass sie selbst an den Pranger gestellt werden würde, wenn sie sich nicht angemessen verhielte.

    Scholz: Natürlich muss hier immer abgewogen werden. Das ist völlig klar. Das ist auch ein Stück eines Rechtsstaates. Natürlich hat auch ein Täter das Recht auf Schutz seiner Gesundheit, seiner Menschenwürde. Das ist alles ganz klar. Aber hier muss man abwägen, und die Abwägungsentscheidung hätte meines Erachtens eindeutig die sein müssen, dass solche Bilder nicht buchstäblich durch die Lande gehen, möglicherweise vom Opfer oder von seinen Eltern auch gesehen das Opfer neu in Schrecken versetzen. Alles das ist mit den wirklich notwendigen Anforderungen eines verantwortlichen Opferschutzes in gar keiner Weise zu vereinbaren gewesen, und aus diesem Grunde hätte gehandelt werden müssen.

    Klein: Halten Sie es für möglich und denkbar, dass dahinter auch eine mentale Haltung steht, die dann vielleicht doch sich stärker am Täterschutz als am Opferschutz orientiert? Kann man diesen Vorwurf wirklich erheben?

    Scholz: Ich weiß nicht, ob man es so zugespitzt formulieren darf. Aber wir haben in Deutschland seit einer ganzen Reihe von Jahren eine Diskussion, eine auch notwendige Diskussion, wie das Verhältnis von Opferschutz und Täterschutz vom Strafprozess bis zum späteren Justizvollzug zu gewichten ist. Mitunter hat es durchaus Entwicklungen oder auch Tendenzen gegeben, die dem Täterschutz ein zu hohes Gewicht aus meiner Sicht eingeräumt haben. Wenn zum Beispiel ein verurteilter Straftäter, der nach dem Strafvollzugsgesetz auch ein Recht auf resozialisierende Maßnahmen hat - und das ist auch richtig -, wenn man diese resozialisierenden Maßnahmen zum Beispiel so hoch gewichtet, dass man die Rechtssicherheit, das heißt den Schutz der Öffentlichkeit vor neuen Straftaten durch diesen Täter allzu sehr vernachlässigt, dann ist hier die Balance nicht mehr in Ordnung. Gerade so etwas haben wir ja in vielen Bundesländern in den vergangenen Jahren ja beobachten müssen, dass gelegentlich wirklich hoch gefährliche Straftäter unter dem Stichwort Resozialisierungsmaßnahmen ausgeführt worden sind, im Übermaß meine ich ausgeführt worden, oder mit ersten Freiheitslockerungen oder Freiheitsmaßnahmen versehen worden sind und diese missbraucht haben, geflohen sind und neue Straftaten begangen haben. Das ist etwas, was tendenziell zu beobachten war und ist, und das muss geändert werden.

    Klein: Abschließend, Herr Scholz, am Pranger stehen nun auch wieder die Medien, vor allen Dingen, aber nicht nur die Boulevardmedien. Der Beirat der Justizvollzugsanstalt in Dresden hat die Berichterstattung scharf kritisiert. Es sei der Eindruck erweckt worden-– und zwar von den Medien -, Justiz und Polizei seien durch den Angeklagten der Lächerlichkeit preisgegeben worden. Also ein falscher Eindruck, der nur durch die sensationslüsternen Medien erzeugt worden ist. Ist das richtig?

    Scholz: Das überzeugt mich nicht. Ich meine, man kann sich fragen, ob eine so ausführliche Berichterstattung über einen solchen Eklat notwendig war. Das ist aber eine Frage, die die Medien in eigener Verantwortung zu entscheiden haben. Man kann hier nicht plötzlich zum Sünder die Medien machen. Der Sünder ist die Justiz, sind die entsprechenden Vollzugsbehörden in Dresden und niemand anders.

    Klein: Rupert Scholz war das, Professor für öffentliches Recht und ehemaliger Justizsenator in Berlin. Danke Ihnen für das Gespräch Herr Scholz.