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Per Fernbedienung mitentscheiden
Netflix versucht sich an interaktivem Fernsehen

Der Streamingdienst Netflix verspricht mit dem Kinderfilm "Der gestiefelte Kater und das magische Buch" eine neue Art des Fernsehens: Zuschauer können mit der Fernbedienung in den Verlauf der Geschichte eingreifen. Aber ist das wirklich so neu -und will man das überhaupt?

Von Kai Löffler | 26.06.2017
    Ein Netflix-Button auf einer TV-Fernbedienung.
    Ein Netflix-Button auf einer TV-Fernbedienung. (imago/wolterfoto)
    Egal wie oft man William Shakespeares Romeo und Julia liest, guckt oder hört - jedes Mal bringt sich Romeo um, nur Augenblicke, bevor seine tot geglaubte Julia aufwacht. Aber was wenn das nicht so sein müsste? Was wenn der Zuschauer entscheiden könnte, die beiden zu retten?
    In einem neuen Special des Streaming-Anbieters Netflix kann er das jetzt. Nein, Romeo und Julia sind und bleiben tot - dafür darf man in "Der gestiefelte Kater und das magische Buch" über das Schicksal des pelzigen kleinen Latin Lovers aus dem Film Shrek entscheiden. An mehreren Stellen ist der Zuschauer gefragt und soll mit seiner Fernbedienung links oder rechts drücken - aber schnell, sonst wählt Netflix.
    "Puss in Book", so der Originaltitel, ist für Netflix gleichzeitig Experiment und Startschuss, das erste einer Reihe von geplanten interaktiven Projekten. Die Umsetzung allerdings ist ausbaufähig, sagt Carolyn Handler Miller, TV- und Videospiel-Autorin und Verfasserin des Buchs "Digital Storytelling":
    "Das ist eine sehr, sehr alte und schwache Form von Interaktivität. Das gab es schon in Büchern, und auch Youtube hatte eine Version davon. Das wird immer wieder probiert, aber besonders mitreißend ist es nicht."
    Das Konzept ist weniger neu, als man meinen würde
    Interaktivität ist im Moment ein "Buzzword", ein großes Thema - und doch ist das Konzept weniger neu, als man meinen würde. Seine Wurzeln reichen bis in die Anfangszeit der Zivilisation zurück:
    "... wenn ein Geschichtenerzähler vor dem Lagerfeuer saß. Und mitten in der Geschichte fragt jemand zum Beispiel: 'Aber was war mit dem Geist?' Und dann nimmt die Geschichte eine andere Wendung."
    Diese einfache Form der Interaktivität gibt es in Büchern, in Spielen, auf Youtube, und in einem Kinofilm, in dem Zuschauer per App den Handlungsverlauf bestimmen. Außerdem ist sie schon lange Teil unserer Fernsehkultur. In Casting-Shows bestimmen Woche für Woche die Zuschauer per Anruf, wer rausfliegt und wer bleibt. Und im TV-Gerichtsdrama "Terror - Ihr Urteil" nach dem Theaterstück von Ferndinand von Schirach, durfte letztes Jahr das Publikum entscheiden, ob der Angeklagte schuldig ist oder frei kommt.
    "Terror - Ihr Urteil" war allerdings vor allem als gesellschaftliches Experiment interessant – die Interaktivität ist dagegen begrenzt. Anders als in vielen Videogames. In Sandbox-Spielen beispielsweise erkundet der Spieler eine gewaltige Welt, entscheidet selbst, was er tut und mit wem er spricht.
    Noch meilenweit von Videogames entfernt
    Im Spiel Heavy Rain, einem Entführungsthriller mit mehreren Protagonisten, gibt es kein herkömmliches "Game Over". Die Handlung geht auch dann weiter, wenn durch Entscheidungen des Spielers einer oder mehrere der Protagonisten sterben. All diese Ausgänge sind zwar von den Entwicklern vorhergesehen und ebenso bewusst konstruiert wie eine lineare Geschichte - sie bieten dem Spieler aber eine perfekte Illusion, ein beeindruckendes Gefühl von Freiheit.
    Davon sind interaktive Fernsehsendungen wie "Puss in Book" noch weit entfernt. Immerhin ist die Geschichte um den Kater, der in einem Märchenbuch gefangen ist, charmant und spielt selbstironisch - und kindgerecht - mit den Einschränkungen des Formats.
    Für Netflix ist es keine einmalige Spielerei; man hat sich vorgenommen, das Format weiterzuentwickeln und so das Medium Fernsehen voranzutreiben.
    Carolyn Miller: "Das ist ein recht neuer Schauplatz, und Autoren überlegen noch immer, was sie damit tun können. Das Schwierige ist, den kreativen Teil, also das Schreiben, mit der Technologie zu verbinden. Die Techniker verfolgen manchmal andere Ziele als die Autoren, ihnen geht es mehr um die Technologie als darum, Geschichten zu erzählen. Aber je mehr sich diese beiden Welten annähern, desto besser werden die Geschichten, die wir erzählen können."
    Ob und wie diese Interaktivität auch bei ernstem Drama sinnvoll ist, muss sich zeigen. Gerade die Tragödie lebt von der Unausweichlichkeit ihres Ausgangs - davon also, dass Romeo und Julia jedes Mal am Ende tot sind.