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Perle des Baltikums

Der Küstenort Jūrmala erstreckt sich nordwestlich der lettischen Hauptstadt Riga über 40 km am Ostseeufer. Vor dem Krieg war Jūrmala ein mondänes Seebad. Die sowjetischen Machthaber verstaatlichten jedoch die alten Hotels und bauten neue Tourismusburgen aus Beton. Heute bietet die Stadt eine Mischung aus verrotteten Betonburgen, modernen Luxushotels, protzigen Millionärsvillen, hochmodern sanierten Ferienhäusern und bescheidenen alten Holzhäuschen.

Von Friederike Schulz und Berthold Forssmann | 12.10.2008
    Wer am Hauptbahnhof von Riga in den Zug nach Jūrmala steigen will, muss sich beeilen. An warmen Tagen drängeln sich Tagesausflügler auf dem Bahnsteig, stürmen in die Waggons. Dicht an dicht sitzen dann die Fahrgäste auf den engen Plastik-Sitzen, die meisten Züge aus der Sowjetzeit sind nur notdürftig aufgemöbelt. Doch eine halbe Stunde später ist die erste von sieben Haltestellen Jūrmalas erreicht. An jeder steigen ein paar Passagiere aus, die Menge verteilt sich.

    Ein schmaler Fußweg führt durch lichten Kiefernwald in den Ort. Zu beiden Seiten: Villen aus Holz mit kunstvollen Türmchen und Erkern auf großen Grundstücken. Manche sind frisch saniert, von hohen Zäunen umgeben, teure Geländewägen stehen vor der Tür. Direkt daneben stehen Häuser, die so aussehen, als würden sie jeden Moment in sich zusammenfallen. Auf der Fassade eines besonders baufälligen Objekts prangt ein Schild: "Pārdod" - "zu verkaufen". Die meisten der alten Villen stehen unter Denkmalschutz, schließlich zeugen sie von der ersten Blütezeit der Stadt, die zur Zarenzeit "Riga-Strand" hieß. Der Ort war damals vor allem in russischen Adelskreisen ein beliebtes Sommerdomizil, berichtet Inga Sarma, die in Jūrmala geboren ist. Sie kommt jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit hier vorbei. Sie ist Dokumentarin im Stadtmuseum und hat die Geschichte der Häuser recherchiert.

    "Die Seebäder-Architektur Jūrmalas entwickelte sich Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts. Es kamen sehr viele wohlhabende Urlauber, und sie suchten natürlich Unterkünfte. Allerdings waren sie nicht zufrieden mit den einfachen Fischerhäusern, die hier standen. Deswegen begannen die Fischer, ihre Hütten aufzumöbeln. Man baute offene Veranden und Küchen an, und Ende des 19. Jahrhunderts wurden dann erste mondäne Sommerhäuser errichtet, die nur Erholungszwecken dienen sollten."

    Nach einem kurzen Fußmarsch ist die Düne erreicht. Vorbei am Haus der Lebensrettungsgesellschaft, aus dem russische Popmusik dröhnt, gelangt man zum breiten Strand. Der Sand ist fein, zwischen den nackten Zehen fühlt er sich wie Mehl an. Für gestresste Rigaer ein beliebtes Ausflugsziel, sagt ein älterer Herr, der barfuss durch das seichte Wasser läuft.

    "Uns gefällt die frische Luft, die Sonne, das Wasser, so oft wie es geht kommen wir hierher, so oft es unsere Zeit erlaubt, wenn wir nicht arbeiten, dann fahren wir nach Jūrmala."

    Zwischen den Liegeplätzen ist reichlich Platz, selbst an Sonntagen in der Ferienzeit verteilen sich die Badegäste an dem 40 Kilometer langen Strand. Zu Sowjetzeiten war das anders. Damals kamen bis zu drei Millionen Touristen pro Jahr, und auf dem Sand war jeder Quadratmeter mit Handtüchern belegt, erinnert sich Inga Sarma.

    "Damals gehörte fast jedem russischen Ministerium oder Großunternehmen in Jūrmala ein Ferienheim. Der Ort war unglaublich beliebt, in Russland galt als es prestigeträchtig, hier Urlaub zu machen. Denn das ganze Baltikum wurde von den Russen als Teil des Westens empfunden, irgendwie ein bisschen anders, so als fahre man ins Ausland. Da es nur ein Hotel gab, vermieteten die Einheimischen, obwohl es verboten war, alle verfügbaren Zimmer an Feriengäste. Ich hatte Nachbarn, die haben sogar ihre Garage vermietet."

    Nach der Wende kam die Krise. Die russischen Badegäste blieben aus, da sie nach der Unabhängigkeit Lettlands ein Visum brauchten. In Westeuropa hatte sich Riga dagegen noch nicht als Urlaubsziel herumgesprochen. Hinzu kamen die Umweltprobleme. Denn die Zellulosefabrik von Jūrmala hatte jahrelang ihre Abwässer ungeklärt in den Fluss Lielupe geleitet, der wiederum oberhalb der Badebucht direkt ins Meer mündet.

    "Es formierten sich Umweltgruppen, die zunächst einmal um das Recht auf Information kämpften, wie schmutzig das Wasser wirklich war. Darüber war zuvor überhaupt nicht berichtet worden. Wir organisierten Demos gegen die Fabrik. Schließlich wurde dann eine Umweltbehörde eingerichtet und wir erfuhren, wie schädlich die Abwässer wirklich waren. Daraufhin wurde eine Zeitlang sogar das Baden verboten. Das Wasser in der Bucht war sehr stark verschmutzt, auch der Fluss war verseucht."

    Mittlerweile gibt es eine Kläranlage, der Fluss führt wieder sauberes Wasser, in der Bucht kann man unbedenklich baden. Das alte Hotel aus Sowjetzeiten ist renoviert. "Jūrmala Spa" prangt jetzt an dem klotzigen Betongebäude mitten im Ort. Im Sommer ist es komplett ausgebucht, russische Popstars und Politiker zählen zu den Stammgästen.

    Die Promenade in der Innenstadt ist gut besucht, ein Souvenirladen reiht sich an den anderen. Die Krise ist überwunden, berichtet Svetlana Orlova die Managerin des "Jūrmala Spa".

    "Nach der Sowjetzeit war zunächst kaum Geld in die Entwicklung der Stadt investiert worden, aber jetzt haben wir einen neuen Park. Viele Straßen sind neu gepflastert, die Infrastruktur wurde ausgebaut, und die Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung ist hervorragend."

    Mittlerweile gilt Jūrmala wieder als teuerster Ort Lettlands, selbst die baufälligsten Holzvillen kosten Millionen. Hotelzimmer sind deutlich teurer als in der nahe gelegenen Hauptstadt. So nimmt man von dort aus am besten morgens den ersten Zug nach Jūrmala, um den Tag an einem der schönsten Strände der Ostsee zu verbringen.