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Permanente Locken

Lockige Haare wollten schon die Frauen in der Antike. Mit der Zeit wurden die Techniken immer ausgefeilter: Es wurde gekreppt, papilottiert, gequetscht oder onduliert. Doch nach der Haarwäsche waren die Locken immer wieder verschwunden - bis der Friseur Karl Ludwig Nessler als Charles Nestlé nach London ging und am 8. Oktober 1906 seinen Dauerwellen-Apparat vorstellte.

Von Vanessa Loewel | 08.10.2006
    "Dieser Mann hat das Gesicht der Welt verändert. Er war zwar keiner von den sonst so viel gerühmten Großen. Er war ganz einfach ein kluger und tüchtiger Mensch. Ein Friseur aus dem Schwarzwald. Ein Wohltäter der Menschheit? Jawohl, das ist er!"

    So beginnt Hans Lehmberg seine 1954 geschriebene Biographie über Karl Ludwig Nessler. Große Worte für jemanden, dem es gelang, Haare dauerhaft in Locken zu legen. Aber in der Tat erfüllte Nessler mit seiner Dauerwelle vielen Menschen einen Jahrtausende alten Wunsch.

    Schon in der Antike wickelte man sich Haarsträhnen über heiße Eisenröhren. Die Techniken wurden immer ausgefeilter: Es wurde gekreppt, papilottiert, gequetscht oder onduliert. Viel Arbeit für ein paar Locken, die nur bis zur nächsten Wäsche hielten. Doch die Mode forderte diesen Aufwand - besonders von den Frauen. Hans Lehmberg:

    "Er hat im wahrsten Sinne des Wortes das Gesicht der Welt verändert. Rund achtzig Prozent der Frauen aller Kulturvölker zahlen ihm ihren Tribut und tragen seine Dauerwellen. Sie tragen sie weder als Last noch mit Zwang, sondern aus freiem Willen und zu ihrer und ihrer Männer Freude."

    Der Legende nach interessierte sich der 1872 als Sohn eines Schumachers geborene Karl Ludwig Nessler schon als Kind für den natürlichen Kopfschmuck. Seine Lehr- und Wanderjahre als Friseurlehrling führten ihn nach Paris, wo er das Ondulieren lernte, das kunstvolle Wellen der Haare mit der Brennschere. Als Charles Nestlé ging Nessler nach London, wo er 1904 seinen eigenen Salon eröffnete. Da das Geschäft schleppend lief, blieb ihm Zeit für seine Studien - und eine Frage, die ihn seit langem beschäftigte: Wie konnte glattes Haar dauerhaft gelockt werden?

    Nessler erkannte, dass Hitze allein nicht ausreichte: Deshalb tränkte er eine auf einen Metallstab gewickelte Haarsträhne mit einer alkalischen Borax-Lösung und erhitzte sie mit einer glühenden Zange, um die chemische Reaktion, eine Redoxreaktion, in Gang zu setzen. Bei der Reduktion brechen Wasserstoffatome die Schwefelbrücken im Haar auf. Die Haarstruktur wird aufgelöst und die aufgedrehten Haare nehmen die Form der Wickler an. Die Oxidation entzieht die Wasserstoffatome wieder. Die Schwefelbrücken schließen sich, die Locken sind fixiert. Am 8. Oktober 1906 präsentierte Nessler sein Verfahren der Öffentlichkeit:

    "Mister Charles Nestlé gibt sich die Ehre, zur Besichtigung einer durch ein ganz neues Verfahren erzielten Ondulation aufzufordern. Diese widersteht sowohl dem Wasser wie auch jedem Einfluss der Luft."

    Die ersten Dauerwellen waren teuer, aufwendig und nicht ohne Risiko. Die schweren Eisenzangen mussten 15 Minuten nur Zentimeter über dem Kopf der Kundin gehalten werden. Erlahmte der Arm des Friseurs nur für Sekunden, verbrannte er Kopfhaut und Haare. Ein Schweizer Friseur schrieb:

    "Ich begann die Arbeit morgens um acht. Als es Abend wurde, bluteten meine Hände, die Baronin trug mehrere Brandwunden davon. Aber die Arbeit war noch nicht geschafft. Erst am nächsten Morgen um vier war meine erste Dauerwelle beendet. Als die Baronin sah, dass die Krause auch nach dem Waschen hielt, war sie außer sich vor Freude."

    Doch erst in den 20er Jahren wird die Dauerwelle populär. Die Modefrisur der Zwanziger, der Bubikopf, war häufig nicht nur praktisch kurz, sondern auch gewellt. Und die neuen, elektrisch beheizbaren Dauerwellenapparate entsprachen den Bedürfnissen der modernen Frauen - ersparten sie ihnen doch das tägliche Hantieren mit dem Lockenstab.

    1928 konnte sich Nessler, der 1914 in die USA ausgewandert war, als Millionär zur Ruhe setzen. Er starb 1951 in New Jersey, vergessen. Seine Erfindung jedoch war von den Köpfen der Frauen nicht mehr wegzudenken. Die Dauerwelle, die dank neuer Chemikalien mittlerweile ohne Hitze auskam, wurde immer unkomplizierter - und immer mehr Frauen wollten sie haben, erinnert sich Dauerwellenfachfrau Roswitha Behrend von der Friseurinnung Berlin.

    "Die Hochzeit der Dauerwelle war in den 60er Jahren. Dauerwelle ohne Ende. Dann kam es auch, dass die Herren der Schöpfung stark involviert waren in die Dauerwelle, der Afro-Look kam dann auf, also bis tief in die siebziger Jahre rein, in den 80er Jahren klang das dann ab."

    Heute ist die Dauerwelle aus der Mode gekommen. In vielen Salons wird sie gar nicht mehr angeboten, so auch bei Starfriseur Udo Walz:

    "Also, ich bin ein Gegner der Dauerwelle. Bei uns existiert das Wort gar nicht, bei uns gibt es Umformungen oder Volumenwelle. Dauerwelle ist in meinem Sprachschatz gar nicht drin und bei meinen Mitarbeitern auch nicht."

    Friseurmeisterin Behrend jedoch ist von der Dauerwelle überzeugt - und auch davon, dass sie wiederkommt.

    "Überall, wo es Frauen gibt, wird es auch Dauerwellen geben, mal mehr, mal weniger."