Donnerstag, 28. März 2024

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Perthes: Mursi und Opposition müssen kompromissbereit sein

Wenn sich die politischen Entscheider in Ägypten nicht gegenseitig blockieren würden, könnte sich die Wirtschaftslage bessern und die Unzufriedenheit der Menschen abnehmen, sagt Volker Perthes. Der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik setzt auf baldige Parlamentswahlen. Er befürworte eine Koalition unter Präsident Mursi.

Volker Perthes im Gespräch mit Gerd Breker | 01.07.2013
    Gerd Breker: Nach Einschätzungen ägyptischer Militärs beteiligten sich mehrere Millionen Menschen an den Protesten gegen Präsident Mursi zum gestrigen Jahrestag seines Amtsantritts. Allein in Kairo waren Hunderttausende Menschen auf den Straßen. Die dortigen Kundgebungen verliefen weitgehend friedlich. Allerdings griffen Dutzende Demonstranten in der Nacht das Büro der Muslimbrüder mit Molotowcocktails und mit Pistolen an. Bei einer anschließenden Schießerei wurde ein 26-Jähriger offenbar tödlich getroffen.
    Telefonisch sind wir nun verbunden mit dem Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, mit Volker Perthes. Guten Tag, Herr Perthes!

    Volker Perthes: Guten Tag, Herr Breker.

    Breker: Der Rücktritt von Präsident Mursi wird gefordert. Aber das wird er nicht tun?

    Perthes: Nein. Ich glaube, das wird er nicht tun, und das ist ja auch eher unüblich, dass ein Oppositionsbündnis ein Ultimatum stellt und sagt, bis morgen, 17 Uhr, muss der Präsident zurücktreten, oder wir legen das Land lahm. Ich denke schon, dass man dies so versuchen wird, aber das Resultat wird vermutlich nicht der Rücktritt des Präsidenten sein, sondern, wenn das Land ins Chaos verfällt, eher ein Eingreifen des Militärs.

    Breker: Wie unabhängig ist eigentlich Präsident Mursi? Ist er wirklich eine eigenständige freie Persönlichkeit, oder ist er doch beeinflusst durch die Muslimbruderschaft und wird vielleicht sogar von ihr gesteuert?

    Perthes: Ja das mit der Steuerung ist ein schwieriges Wort, weil es voraussetzt, dass hier irgendwelche mechanischen Kräfte am Werke sind und irgendwo anders, also nicht in einem verbrannten Hauptquartier, sondern woanders jemand am Steuerknüppel sitzt. Richtig ist, dass Herr Mursi Teil ist, der Muslimbruderschaft und dass er sich von der Ideologie und von den Führungsstrukturen der Muslimbruderschaft auch nicht freigemacht hat. Er konsultiert die Führer der Muslimbruderschaft und man hat im letzten Jahr häufig das Gefühl gehabt – und das ist, glaube ich, auch der größte Vorwurf, den man ihm machen kann, dass er und dass auch seine Partei, die Muslimbrüder, das Gefühl gehabt haben, wir haben gewonnen, wir haben die Wahlen gewonnen mit über 50 Prozent, etwas mehr als 50 Prozent, und deshalb müssen wir jetzt auf andere Stimmen keine Rücksicht mehr nehmen, sondern wir sind jetzt die Regierung, die anderen waren es all die Jahrzehnte davor, und wenn sich das irgendwann mal wieder ändert, dann können die ja wieder regieren, aber jetzt regieren wir durch.

    Breker: Die gestrigen Demonstrationen haben gezeigt – und ein wenig klang das in Ihrer Antwort jetzt gerade auch schon heraus -, Ägypten ist irgendwo eine gespaltene Gesellschaft.

    Perthes: Ja, Ägypten ist eine gespaltene Gesellschaft, aber nicht einfach in zwei Lager, wie es manchmal den Anschein hat. Wir haben ja mindestens drei, wenn Sie so wollen, organisierte Lager und dann haben wir noch die Straße, wie manchmal gesagt wird im Arabischen, also sozusagen die vielen mobilisierbaren unzufriedenen Arbeitslosen, manchmal auch hungrigen Jugendlichen, die mal für die eine, mal für die andere Seite mobilisiert werden können. Und die drei Lager, das ist auf der einen Seite – darüber haben wir gesprochen – natürlich die Muslimbruderschaft und der gewählte Präsident, der aus den Reihen der Muslimbruderschaft kommt, und seine Regierung.

    Das ist dann dieses Bündnis mit dem Namen "Tamarod", Rebellion, was zusammengesetzt ist aus einer Reihe von mehr oder weniger liberalen, mehr oder weniger säkularen Parteien. Und dann gibt es eben auch noch das, was man den alten Staat oder die alten Eliten nennen kann, die Bürokratie, das Militär, wo nicht ganz klar ist, auf welcher Seite es steht, ob es sich – das ist wohl die Hoffnung der Oppositionskräfte – letztlich für die Opposition in die Bresche werfen wird, oder – das ist sicherlich die Hoffnung des Präsidenten – ob die Armee letztlich sagt, wir verteidigen den Staat und an der Spitze des Staates steht der gewählte Präsident.

    Breker: Die Rolle des Militärs wird sehr spannend werden in Ägypten. Gestern sind ja Truppen aufgefahren, um Regierungsgebäude zu beschützen.

    Perthes: Ja das ist erst mal auch ihre Aufgabe, als eine Art Hilfspolizei oder als die eigentlich wirksame Hilfspolizei zu agieren. Und was bei uns nicht vorstellbar wäre, dass das Militär bei solchen Situationen im Innern eingesetzt wird. In Ägypten ist das an der Tagesordnung und auch eher akzeptiert als das Auftreten der Polizei, die entweder als ineffektiv oder als parteiisch gilt. Das Militär hat einen besseren Ruf bei allen Seiten noch, und deshalb lassen sich auch Demonstranten verschiedener Parteien eher vom Militär voneinander trennen als etwa von der Polizei.

    Breker: Ist es denn denkbar, Herr Perthes, dass es zu einem Militärputsch in Ägypten kommen könnte?

    Perthes: Ein Eingreifen des Militärs ist denkbar. Ich denke, es wäre nicht gut für die weitere Entwicklung Ägyptens. Und der Vorwurf, den man der Opposition machen kann, der Tamarod-Opposition, ist, dass sie offensichtlich auch damit spielt, wenn nicht darauf setzt, dass das Militär eingreift und die Ergebnisse der Wahlen vom letzten Jahr gewissermaßen ungeschehen macht.
    Das Militär hat gewarnt, relativ öffentlich über seine Facebook-Seite und andere Medien, bevor der Staat gewissermaßen in den Abgrund fällt, dass dann das Militär seiner Verantwortung gerecht würde, was immer das im Einzelnen heißt. Das muss kein Putsch sein, das kann aber auch eine Form des Ausnahmezustands oder der militärischen Kontrolle der Straßen sein, die letztlich auch nicht im Interesse einer liberalen Opposition sein kann, die unter anderem ja auch das Demonstrationsrecht verteidigen will.

    Breker: Kommen wir, Herr Perthes, auf die Rolle der Justiz in Ägypten. Die haben ja die Verfassung und auch die Wahlen teilweise für verfassungswidrig erklärt. Welche Rolle spielen die Richter in Ägypten?

    Perthes: Auch hier gibt es Unterschiede. Aber wenn Sie generalisieren wollen, gehört die Justiz mit zu dem, was ich eben die dritte Partei genannt habe oder das dritte Lager, also die Eliten, die alten Eliten aus Staat und Bürokratie. Das ist das Militär, das sind die Spitzen der Administration und das ist eben auch die Justiz. Und wir haben schon gesehen, dass die Justiz im letzten Jahr versucht hat, dem gewählten Präsidenten, dessen Legalität und Legitimität sie als solche nicht bestreitet, trotzdem das Leben schwer zu machen – etwa indem eine Reihe von Dekreten des Präsidenten außer Kraft gesetzt worden sind, indem das ebenfalls gewählte Parlament für verfassungswidrig erklärt worden ist und aufgelöst worden ist, jedenfalls das Unterhaus als die eigentlich wichtige Kammer des Parlaments.
    Mit dem Ergebnis, dass ironischerweise die einzige Institution, die tatsächlich demokratisch frei und mit breiter Beteiligung gewählt ist, noch der Präsident ist, der daraufhin sagt, nun ja, wenn das Parlament nicht mehr da ist, dann bin ich eigentlich die einzige legitime Autorität. Neue Parlamentswahlen sollen stattfinden, irgendwann in diesem Jahr. Da wird sich heftig gestritten, auch zwischen Gerichten und Regierung über das angemessene Wahlgesetz, und die Opposition hat bisher erklärt, sie würde die nächsten Wahlen sowieso boykottieren, weil die könnten nicht fair sein, solange Mohammed Mursi Präsident ist. Also hier sind wir in einer Zwickmühle, aus der man, glaube ich, nur herauskommt, wenn alle bereit sind zu sagen, das wichtige ist, dass das Land wieder ins Laufen kommt, und dafür brauchen wir auch eine demokratisch legitimierte Institution wie das Parlament, die es dann möglich macht, dass man zum Beispiel bestimmte Gesetze überhaupt verabschiedet.

    Breker: Fakt ist ja, Herr Perthes, dass es den Menschen in Ägypten trotz des Sturzes von Mubarak nicht besser geht, im Gegenteil. Welche soziale Komponente hat dieser Protest nun gegen Präsident Mursi?

    Perthes: Nun ja, Revolutionen kommen nicht umsonst und das hat in den ersten Monaten nach der Revolution von 2011 zuerst mal dazu geführt, dass die wirtschaftliche Leistung zurückgegangen ist. Das ist auch kein großes Wunder. Dass es zwei Jahre anhält oder mehr als zwei Jahre anhält und die Wirtschaft nicht wieder richtig in Fahrt kommt, das liegt an dieser Blockadesituation, die wir seit mindestens einem Jahr haben.

    Niemand kann richtig Entscheidungen treffen, die Entscheidungen, die getroffen werden, werden von jeweils anderen Teilen des politischen Spektrums nicht anerkannt, werden für illegitim erklärt oder sogar von Gerichten außer Kraft gesetzt. Es gibt derzeit kein frei gewähltes Parlament, was tatsächlich Gesetze machen könnte, es gibt keine Regierung, die sich legitim genug fühlt, um etwa mit dem Internationalen Währungsfonds notwendige Abkommen abzuschließen, die es möglich machen würden, bestimmte Reformen durchzusetzen und der Wirtschaft damit auch wieder einen echten Push zu geben. Hier blockiert sich das System selber. Ich glaube, man wird nur herauskommen, wenn es eine Art von Einigung gibt auf Parlamentswahlen, möglichst bald. Empfehlenswert wäre sicherlich auch eine breitere Koalitionsregierung unter dem gewählten Präsidenten Mursi. Aber das würde sehr viel Kompromissbereitschaft sowohl bei Mursi und seinen Anhängern als auch bei der Opposition verlangen.

    Breker: Und dafür gibt es derzeit keine Anzeichen?

    Perthes: Dafür gibt es keine Anzeichen und in dieser Zeit der Blockade geschieht das, was wir gestern gesehen haben, und Sie haben angesprochen die breiten Massen, die arbeitslosen Jugendlichen, diejenigen, die keine Arbeit haben, denen es wirtschaftlich nicht besser geht. Die sagen mittlerweile natürlich, man hat uns die Revolution gestohlen, und sind bereit, sich relativ leicht mobilisieren zu lassen von der einen oder von der anderen Partei, und diese Mobilisierungen oder Demonstrationen gehen dann, wie wir heute Morgen gesehen haben, auch sehr, sehr leicht in Gewalt über.

    Breker: Der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, Volker Perthes, im Deutschlandfunk. Herr Perthes, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

    Perthes: Ich danke auch!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.