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Pestizide und Artensterben
"Bei der Risikobewertung gibt es fundamentale Fehler"

Der Umweltwissenschaftler Carsten Brühl fordert ein Umdenken bei der Zulassung von Pestiziden. Weil ein ganzheitlicher Ansatz bei der Risikobewertung fehle, würden Pestizide als sicher eingestuft, die aber tatsächlich schädliche Auswirkungen auf das ganze Ökosystem hätten, sagte Brühl im Dlf.

Carsten Brühl im Gespräch mit Uli Blumenthal | 31.10.2019
Blick auf einen LKW, von dem aus Apfelbäume mit Pestiziden besprüht werden.
In einer Apfelplantage in Deutschland werden bis zu 31 Mal Pestizide angewendet, sagte der Umweltwissenschaftler Carsten Brühl im Dlf (imago stock&people / C. Kaiser)
Uli Blumenthal: Pflanzenschutzmittel, wie sie in der Landwirtschaft eingesetzt werden, sind nicht immer so sicher wie oftmals behauptet und sind daher auch für den Rückgang von Insekten und Vögeln in der Agrarlandschaft verantwortlich. Trotz eines enormen Aufwands bei der Prüfung der Umweltauswirkungen von Pestiziden für die Zulassung werden dabei die Praxisbedingungen nicht berücksichtigt. Dies schreibt Doktor Carsten Brühl vom Institut für Umweltwissenschaften der Universität Koblenz-Landau in einem Artikel der Fachzeitschrift "Frontiers in Environmental Science". Ich habe ihn heute Mittag telefonisch gefragt, warum für ihn die Beurteilung der Wirkung von Pestizide bei Zulassungsverfahren unzureichend ist.
Carsten Brühl: Nun, das System der Zulassung beruht auf einer Risikobewertung für die Umwelt, und in dieser Risikobewertung, da gibt es – so denken wir, mein Kollege Herr Zaller von der BoKu und ich – drei fundamentale Fehler in diesem System einfach. Aufgrund dessen können diese Pestizide, die ja auch sehr aufwendig untersucht werden, da fließen Millionen in Untersuchungen, in Umweltuntersuchungen, und spätestens sind Behörden und auf europäischer und nationaler Ebene mit der Zulassung beschäftigt. Trotz dieses großen Aufwands sind dann diese Pestizide eben nicht sicher.
Wechselwirkungen werden nicht untersucht
Blumenthal: Sie sprechen von drei fundamentalen Fehlern. Lassen Sie es uns aufdröseln. Fehler eins, wo sehen Sie den?
Brühl: Fehler eins ist: Diese Pestizide werden immer einzeln zugelassen, das heißt, jedes einzelne Pestizid in seiner Wirkung auf die Umwelt. Tatsache ist aber, dass nachher auf dem Feld oder in einer Obstbaumplantage, zum Beispiel in einer Apfelplantage, in Deutschland bis zu 31 mal Pestizide angewendet werden. Das ist natürlich was völlig anderes. Man kennt das aus dem menschlichen Aspekt. Wenn wir uns überlegen, dass wir 31 Medikamente einnehmen müssten, wären da sicherlich irgendwelche Wechselwirkungen da, die wir mit unserem Arzt und unserem Apotheker besprechen müssten.
Ganzheitlicher Ansatz des Nahrungsnetzes fehlt
Blumenthal: Fehler Nummer zwei, wo sehen Sie den, was wird da im Rahmen der Zulassung nicht ausreichend berücksichtigt?
Brühl: Die Risikobewertung, die basiert eigentlich immer auf einer Betrachtung einzelner Organismengruppen, die allerdings natürlich in einem Zusammenhang stehen in einem Nahrungsnetz. Das heißt, zum Beispiel wird ein Herbizid getestet auf seine Auswirkungen auf Pflanzen, auf Insekten und auf Vögel. Jetzt nehmen wir an, dieses Herbizid ist nicht toxisch für einen Vogel, dann wird diese Passage des Risks, dieser Risikobewertung bestanden. Allerdings ist es nachher natürlich schon so, dass wenn die Pflanzen fehlen, womöglich die Insekten zurückgehen, weil da einfach weniger Nahrungspflanzen da sind und das wiederum Konsequenzen für Vögel hat. Dieser, sagen wir mal, holistische Ansatz eines Nahrungsnetzes, der fehlt einfach auch komplett in dieser Risikobewertung.
Risikobewertung auf der Agrarfläche selbst fehlt
Blumenthal: Machen wir das Triple vollständig: Der dritte fundamentale Fehler, wie würden Sie den beschreiben?
Brühl: Auch der ist relativ einfach zu erklären. Wir betrachten bei der Umwelt-Risikobewertung eigentlich die aquatische Umwelt sowieso, aber im terrestrischen Fall sind es Strukturen wie Feldsäume oder Hecken, einfach Sachen, die außerhalb des Ackers, des Feldes oder der Plantage liegen. Tatsächlich auf dem Feld selbst, auf der Agrarfläche selbst ist diese Risikobewertung eigentlich kaum da. Das heißt zum Beispiel, wenn wir bei unserem Herbizid bleiben, das Herbizid darf natürlich auf dieser Ackerfläche alle, in dem Fall Unkräuter, vernichten. Dadurch wäre es natürlich ein hervorragendes Herbizid. Dass das allerdings Umweltauswirkungen hat, wenn wir davon ausgehen und uns auch klar darüber sind, dass wir 30 Prozent Agrarfläche in Deutschland haben, dann müsste da auch die Risikobewertung diesen Fall berücksichtigen.
"Landwirtschaftliche Praxis in die Zulassung mit reinnehmen"
Blumenthal: Pestizide werden ja einer strengen und eingehenden Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen. Jetzt haben Sie drei fundamentale Fehler beschrieben. Was müsste sich ändern bei der Zulassung?
Brühl: Man müsste versuchen, die landwirtschaftliche Praxis in diese Zulassung mit reinzunehmen, das heißt, komplette Spritzfolgen abzubilden, die auf dem Acker stattfinden und dann auch diese Nahrungsnetzeffekte, also das gesamte Ökosystem, wie es auf dem Acker anzutreffen ist, das müsste man berücksichtigen in einer Zulassung. Das wäre äußerst kompliziert und wäre vor allen Dingen ein völlig neuer Ansatz.
"Sicherheit der Pestizide wird suggeriert"
Blumenthal: Pestizide werden ja, wie gesagt, einer strengen Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen, und wenn das Risiko als akzeptabel erachtet wird, können sie in Verkehr gebracht werden. Sie schreiben ja jetzt, dass interessanterweise diese Formulierung "akzeptables Risiko" dazu führt, dass Pestizide dann als sicher für die Umwelt gelten.
Brühl: Ja, das findet man auf der Homepage der EFSA, der Zulassungsbehörde, am Schluss sind dadurch dann sichere Pestizide entstanden, und das ist ja eigentlich auch, sagen wir mal, das Fatale dran an den Pestiziden, weil natürlich alle Leute, die sich jetzt mit den Umwelteffekten von Pestiziden beschäftigen, und auch die Anwender, sind eigentlich in dem Glauben, dass da so ein unglaublicher Aufwand besteht, dass die sicher sein müssen, das wird suggeriert.
Einen systemischen Ansatz zu etablieren, würde zu lange dauern
Blumenthal: Aber wenn Sie jetzt sozusagen einen stärker systemisch orientierten Ansatz bei der Zulassung von Pestiziden fordern, dann wird der Aufwand bei der Zulassung auf jeden Fall erheblich größer.
Brühl: Ja, mein Hauptpunkt wäre jetzt auch, also vor allen Dingen im terrestrischen Bereich der Risikobewertung, da gibt es eigentlich einen Stau in der Entwicklung von Richtlinien. Da liegen sehr viele wissenschaftliche Gutachten auf dem Tisch, die eigentlich schon seit Jahren sagen, es muss einiges weiterentwickelt werden, zum Beispiel bei Bienen, Wildbienenbestäubern, bei Insekten, aber auch Verbesserungen bei Vögeln und Säugetieren werden da vorgeschlagen. Das heißt, das ganze System ist auch sehr träge, und wenn man eine Verbesserung, also so eine Verbesserung wie jetzt ein systemischer Ansatz, tatsächlich fahren würde, das würde sehr lange dauern, bis das dann tatsächlich etabliert wäre als Gesetz, als Umsetzung. Also ich denke im Moment, wir haben eigentlich diese Zeit nicht, darauf zu warten, bis das System umgebaut ist.
"Pestizide reduzieren und ökologischen Landbau ausbauen"
Blumenthal: Okay, dann müssten Sie jetzt einfach mal ein paar Lösungsvorschläge anbieten, was man sozusagen kurzfristig an Ansatzpunkten machen könnte. Wie sehen die aus aus Ihrer Sicht?
Brühl: Zum einen kann man Pestizide reduzieren. Da gibt es Studien aus Frankreich, die das auch mal in einem Modellansatz genauer betrachtet haben, und die kommen drauf, dass fast 50 Prozent der Pestizide zu viel eingesetzt werden. Also da würde auch die Produktion der Betriebe nicht leiden. Dann muss man sich überlegen, ob man nicht einfach diesen Ansatz des integrierten Anbaus, dass man den tatsächlich wieder so belebt, wie er eigentlich gedacht war, dass Pestizide tatsächlich am Ende eingesetzt werden, wenn man sich nicht mehr anders zu helfen weiß. Aktuell werden Pestizide schon bei der Aussaat eingesetzt. Da gibt es Saatgutbeizen mit Insektiziden, obwohl man gar nicht weiß, ob dieser Schädling tatsächlich auftreten wird. Also das sind einfach so, sagen wir mal … absolutes Umdenken wäre da gefordert, eine Rückbesinnung in der Hinsicht.
Es gibt auch die Möglichkeit, den ökologischen Landbau auszubauen. Es ist halt die Frage, ob man da Ziele wie 20 Prozent im Jahr 2030 ansetzt oder ob das nicht auch irgendwie schneller gehen kann, weil wir wirklich … Ich meine, da gab es auch gestern wieder veröffentlicht eine neue Studie dazu mit Rückgängen von Insekten. Wir wissen es ja jetzt. Also es ist klar, dass in der Agrarlandschaft Rückgänge da sind. Wir können uns jetzt überlegen, ob wir das noch genauer aufdröseln wollen und Monitoring-Projekte fordern oder sowas, aber eigentlich gibt es schon jede Menge Lösungsvorschläge und die muss man jetzt wirklich mal auf Landschaftsebene zum Einsatz bringen und dann schauen, ob sich da was verändert.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.