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Peter Burke über: Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen

Hat man einmal die Gelegenheit, im Arbeitszimmer eines Historikers oder in der universitären Arbeitsumgebung eines historischen Seminars sich umzusehen, stößt man vorwiegend auf Papier, auf schriftliche Dokumente und Bücher, in denen das Material für die Analysen gesammelt aufbewahrt wird. Bilder findet man eher selten dort. Der britische Kulturhistoriker Peter Burke hat sich über das Ignorieren visuellen Quellenmaterials Gedanken gemacht und ein Plädoyer für die Augenzeugenschaft geschrieben.

Hans Martin Lohmann | 18.08.2003
    Zu den Gemeinplätzen der Gegenwart gehört die beliebte Feststellung, wir lebten, anders als vor 3o, 4o Jahren, als noch die Schriftkultur blühte, in einer "visuellen Kultur". Und in der Tat: Erst die bildliche Repräsentation eines Ereignisses oder einer Person – etwa eines Politikers oder eines Popstars – im Fernsehen oder in einer illustrierten Zeitung verschafft ihnen jene Aura von Authentizität und Echtheit, ohne welche sie gleichsam nichts wären. Als kürzlich die Nachricht vom gewaltsamen Tod der lange gesuchten Söhne Saddam Husseins über den Ticker ging, reichte dies im Sinne der "Echtheit" bzw. Glaubwürdigkeit der Meldung nicht aus. Es mussten erst die Leichen der beiden Männer photographisch ausgestellt werden, um die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass es sich nicht um einen Propagandatrick der Amerikaner, sondern um die Wahrheit handelt.

    Der Vorgang zeigt freilich die ganze Zweideutigkeit des angeblich Eindeutigen. Denn die Bilder der Getöteten waren, wie man inzwischen weiß, keineswegs "authentisch", sondern sorgfältig gestellt. Der Weltpresse wurden wohlpräparierte Körper vorgeführt, die zuvor von Experten "behandelt" worden waren, ehe man sie für präsentabel hielt. Dass Bilder nicht lügen, wurde hier zwar nicht einfach widerlegt – denn offenbar sah man wirklich die Leichen der Hussein-Söhne –, aber doch stark relativiert. Kein Bild, und wirke es noch so echt auf den Betrachter, repräsentiert schlicht und ergreifend die Realität.

    So gesehen mag man die Vorbehalte teilen, mit denen sich viele Historiker bildlichen Darstellungen als Quellenmaterial nähern. Aus der Geschichte der politischen Photographie etwa ist hinlänglich bekannt, dass Bilder, deren Inhalt man lange Zeit für unumstößlich authentisch einstufte, mehr oder minder gefälscht waren. In seinem neuen Buch mit dem deutschen Titel Augenzeugenschaft führt der in Cambridge lehrende Kulturhistoriker Peter Burke eine Reihe von Beispielen an, die den Sachverhalt illustrieren. Die "Leichen", die auf Photographien aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg zu sehen sind, waren offensichtlich lebende Soldaten, die bereitwillig für die Kamera posierten. Und auch bei dem wohl berühmtesten Photo aus dem Spanischen Bürgerkrieg – Robert Capas "Tod eines Milizionärs" –, wurden immer wieder Zweifel laut, ob das Bild wirklich echt sei.

    Nichtsdestotrotz macht sich Burke dafür stark, das reiche Erbe bildlicher Überlieferungen für die Arbeit des Historikers fruchtbar zu machen. Statt weiterhin als "visuelle Analphabeten" zu gelten, die dem "Vorfernsehzeitalter" verhaftet sind, so die selbstironische Formulierung des Sozialhistorikers Raphael Samuel, sollten die Historiker ihre verständliche Scheu gegenüber dem Bild ablegen und es stattdessen als eine, wie Burke schreibt, "wichtige Form historischen Quellenmaterials" zur Kenntnis nehmen – als eine genauso wichtige Form wie Texte und mündliche Zeugnisse. Die bildlichen Zeugnisse, wenn sie denn als solche zu Rate gezogen werden, dürfen laut Burke nun freilich nicht naiv, sondern müssen methodisch und mit Sachverstand benutzt werden, um historisch aussagekräftig zu sein, und Burkes Buch leistet im Grunde nichts anderes, als einen Leitfaden dafür zu liefern, wie Bilder "richtig" zu lesen seien. Man muss, mit anderen Worten, beim Gebrauch von Bildern ebenso quellenkritisch verfahren wie im Falle schriftlicher Dokumente – denn nichts versteht sich von selbst.

    So soll und darf der Historiker des 18. Jahrhunderts beispielsweise ein Ölporträt des britischen Gouverneurs von Gibraltar aus dem Jahre 1787 nicht für bare Münze nehmen. Vielmehr habe er darauf zu achten, welche Konventionen zu jener Zeit galten, welche Accessoires im Sinne von Bildrequisiten üblich waren und welche symbolischen Attribute für spezifische soziale Rollen standen.

    "Portraits, ob photographische oder gemalte, dokumentieren nicht so sehr soziale Wirklichkeit als vielmehr soziale Illusionen, nicht normales Leben, sondern besondere Vorstellungen. Gerade deshalb sind sie für jeden, der an der Geschichte sich wandelnder Hoffnungen, Werte oder Mentalitäten interessiert ist, unschätzbare Zeugnisse."

    Ganz nebenbei weist der Autor in diesem Zusammenhang auf die enorme Bedeutung der Detailanalyse hin, auf das Gewicht auch scheinbar geringfügiger Einzelheiten, eben, in der schönen Formulierung Siegfried Kracauers, auf das "Reich der Bagatellen", das oft mehr preisgibt als der offizielle Bildsinn. Erst dieses Detailwissen, das etwa eine bestimmte künstlerische Gestaltung der Hand oder des Ohrs als Eigentümlichkeiten der Gemälde von Botticelli oder Bellini zu identifizieren vermag, setzt den Historiker instand, Bilder als historische Quellen zu nutzen.

    "Um die Botschaft [eines Bildes] entziffern zu können, muss man mit den kulturellen Codes vertraut sein."

    Das gilt für das Verständnis eines Porträts Stalins, welches ihn als gütigen Vater des großen Sowjetvolkes zeigt, ebenso wie für ein Gemälde Tizians, eine um 1515 gemalte Allegorie der himmlischen und der irdischen Liebe. Während der heutige Betrachter gleichsam spontan sagen würde, dass die nackte Frau die irdische Liebe repräsentiere, die bekleidete hingegen die himmlische, galt für Tizians Zeitgenossen gerade das Umgekehrte: Nacktheit war ein positiver, d.h. ein himmlischer Zustand, während Kleider auf das Eitle und Vergängliche der irdischen Welt hinwiesen. Anhand solcher Beispiele demonstriert Burke, wie sich im Verlauf weniger Jahrhunderte die Wahrnehmung des menschlichen Körpers wandelte.

    Überhaupt besticht Burkes Buch durch seine Anschaulichkeit und Farbigkeit, die es dem Leser leicht machen, dem Autor auf seinem Ausflug ins Reich des optischen Sinnes zu folgen – und zwar mit Vergnügen. Einmal mehr erweist sich der britische Kulturhistoriker nicht nur als stupend gelehrt, sondern auch als Meister der einfühlsam-didaktischen Einführung in ein weites und unübersichtliches Themengebiet. Ganz auf den Spuren seiner Studien über die französische Historikerschule der Annales und Baldesar Castigliones Hofmann gelingt es Burke mit erstaunlich leichter Feder, das komplexe Feld des Sehens und der Augenzeugenschaft so zu strukturieren, dass auch der bislang bildresistente oder skeptische Historiker vom Nutzen des Unternehmens überzeugt wird. Wie es Burke beispielsweise gelingt, auf wenigen Seiten das ikonographische Programm der Warburg-Schule vorzustellen, verdient schlicht Bewunderung.

    Bei einem Werk, das Bilder als historische Quellen zum Gegenstand hat, hätte man freilich erwarten dürfen, dass der Verlag größere Sorgfalt im Hinblick auf die Qualität der zahlreichen Abbildungen walten lässt, zumal diese ja gerade nicht als bloße Illustrationen des Geschriebenen, sondern als genuines Quellenmaterial dienen sollen. Leider hapert es an diesem Punkt sehr. Ist es schon bedauerlich, dass Farbbilder in Schwarz-weiß reproduziert werden, so ist es erst recht schlimm, dass, um nur zwei Beispiele zu nennen, das Plakat zu Bernardo Bertoluccis Film "Novecento" oder die Abbildung von Paul Delaroches Gemälde "Cromwell am offenen Sarg Karls I." in einer Qualität abgedruckt sind, die jede Bildnuance nivelliert. Burkes bei Aby Warburg entlehntes Programm, wonach der liebe Gott im Detail steckt, wird durch die Reproduktionspraxis des Verlags leider glatt dementiert. Schade, dass man bei einem Buch, welches man ansonsten ohne Einschränkung empfehlen möchte, auf einen so gravierenden Mangel hinweisen muss.

    Peter Burkes "Augenzeugenschaft", erschienen im Verlag Klaus Wagenbach. Übersetzt wurde das Buch von Matthias Wolf, es hat 252 Seiten und kostet 28 Euro.