Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Peter Buwalda: „Otmars Söhne“
Das Große Auftrumpfen

Seit seiner Kindheit zwischen fremden Klavier-Exerzitien klafft in Ludwigs Leben die Leerstelle Vater. Soll ausgerechnet der zwielichtige CEO des Shell-Konzerns sie füllen? In seine neuen Roman mischt Peter Buwalda Familienroman, Thriller und Selbsterkundungsstory zu einem faszinierenden Amalgam.

Von Peter Henning | 22.06.2021
Hintergrund: Dunkle Holzdielen, Vordergrund (von links nach rechts): Buchcover und Foto des Autors
Nach seinem 2010 erschienenen Debütroman „Bonita Avenue“ legt der niederländische Autor Peter Buwalda nun den ersten Teil einer umfangreichen Trilogie vor. (Rowohlt Verlag / © Jelle Vermeersch )
Mit Erscheinen seines ziegelsteindicken Debütromans "Bonita Avenue" war der Anspruch klar: An den Großen seiner Zunft wollte er sich messen. Und dies nicht in Form eines schmalbrüstigen 140-Seiten-Erstlings, sondern mit einem "großen Knall", wie er selbst es damals in einem Interview vollmundig nannte. Tatsächlich trumpfte Peter Buwalda mit seinem 639-seitigen Hybrid-Roman, der sich als Familien-Zertrümmerungsgeschichte im Gewand eines Liebes-und-Porno-Epos präsentierte, mächtig auf. Er entlarvte eine Familie als mörderisches Teufelsgeflecht aus Lüge, Hintertreibung, unkontrollierter sexueller Gier und dem ungebremsten Willen zur Macht – um es anschließend ebenso genüsslich wie unbarmherzig in seine Einzelteile zu zerlegen.

Die Mechanismen des Scheiterns

Auch in Buwaldas neuem Roman "Otmars Söhne" nehmen die auf 621 episodensatten Seiten mit cineastischer Bildkraft ausgebreiteten Ereignisse ihren Ursprung im Schoß einer Familie. Der Autor dekonstruiert sie wie ein Pathologe, der den geborgenen Körper eines namenlosen Unfallopfers seziert, um hinter seine Todesumstände zu kommen. War es in "Bonita Avenue" die Familie eines landesweit bekannten Politikers, an deren Beispiel Buwalda uns die Mechanismen des Scheiterns offenbarte, so ist es nun die seines Protagonisten Ludwig Smit. Nachdem sein Vater die Familie noch vor seiner Geburt verlassen hat, wächst Ludwig in der seines Stiefvaters Otmar auf. Hier sucht er neben zwei musikalisch frühreifen, auf eine Karriere als Klassik-Virtuosen getrimmten Geschöpfen namens Dolf und Tosca erfolglos seinen Platz.
"Jeden zweiten Tag erteilte sein Stiefvater Tosca und Dölfchen am Vormittag Unterricht, auch an den Wochenenden, dann waren die laut werdenden Stimmen, das gelegentliche Türenschlagen zu hören und während des Mittagsessens schreckte Otmar nicht davor zurück, seiner Tochter oder seinem Sohn die Wahrheit zu sagen: "Schlecht gearbeitet, Tosca, sehr, sehr schlecht – so fliegst Du beim Wettbewerb schon in der ersten Runde raus, gleich einpacken, hasta, nichts wie weg."

Die große Leerstelle Vater

Anekdotenreich enthüllt uns Buwalda das tägliche Miteinander der ganz im Zeichen klassischer Musik agierenden Familie in Form wiederkehrender Rückblenden. Sie überführen uns nach und nach in jene Erzähl-Gegenwart, in der Ludwig Smit, inzwischen erwachsen, als Angestellter des Shell-Konzerns für die Vermessung und Erschließung neuer Ölfelder mit Dynamit zuständig ist. Er hat eine Frau, die ihn bloß noch nervt, und ein Kind, das er viel zu selten sieht. Die große Leerstelle "Vater" hat sich nie für ihn geschlossen. Doch als er dann im Zuge seiner Arbeit dem CEO der Firma, Hans Tromp, begegnet, verdichten sich bald die Hinweise darauf, dass der Mann sein leiblicher Vater ist - und Buwaldas Roman nimmt Fahrt auf.
"Der CEO streckte seine lange Hand, an deren Finger große Ringe funkelten; der dünn behaarte Handrücken war nach oben gewandt, sodass Ludwig seine geöffnete Handfläche wie ein Bettler darunter schieben musste - er spürte abwärts gerichteten tyrannischen Druck - und Erleichterung."

Höllenfahrts-Kommando "Familie"

Schließlich trifft Ludwig im fernen Sibirien, wo er in einem Schneesturm festsitzt, auf seine frühere Mitbewohnerin Isabelle Orthel. Sie hat sich einen Namen als Investigativ-Journalistin gemacht hat - und arbeitet an einer Geschichte über Tromps angeblich dunkle Machenschaften. Und genau hier erhält Buwaldas Roman seinen entscheidenden Twist, indem er Vergangenheit und Erzählgegenwart mit Hilfe diverser Cliffhanger Spannung erzeugend mit einander verlinkt.
Buwalda breitet seinen Stoff, der den Auftakt zu einer auf knapp zweitausend Seiten geplanten Trilogie über das Höllenfahrts-Kommando "Familie" bildet, in kaum nacherzählbarer Fülle aus. Unterschiedliche Zeitebenen und Erzählstränge erzeugen das Gefühl, das hier einer buchstäblich "alles" will und riskiert. Und so balanciert sein Roman denn auch immer wieder furchtlos am Rande des Kitsch, indem sein Verfasser mit Metaphern arbeitet, die man - positiv ausgedrückt - als "gewagt" bezeichnen darf. Das Erzähltempo, das er dabei geht, ist bis zum Schluss atemberaubend - Verschnaufpausen gönnt dieser Prosa-Raser seinen Lesern nicht.
Mit "Bonita Avenue" hatte Buwalda einen Roman vorgelegt, der gerade durch das bewusste Weiterdrehen des Erzählens und Nachdenkens über Familie ins Groteske und Irrationale tieferliegende Wahrheiten ans Tageslicht holte, an die mit traditionellen Erzähltechniken nicht heranzukommen war. In seinem neuen Wurf nun geht er noch einen Schritt weiter – und fabuliert drauflos, als gäbe es kein Morgen. "Avenue Bonita" lesen hieß, in die verglimmende Asche des Familienromans zu starren. In "Otmars Söhne" nun löscht Buwalda unerschrocken auch die letzten Funken aus.
Peter Buwalda, "Otmars Söhne"
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Rowohlt Verlag, Hamburg. 621 Seiten, 24 Euro