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Peter Handke: "Das zweite Schwert"
Die Rache der Literatur

Das erste Buch von Peter Handke nach der Nobelpreisverleihung handelt von Rache. Aber um Skandale, Vorwürfe und politische Stellungnahmen geht es dabei nicht. Die Literatur siegt über den hasserfüllten Affekt.

Von Helmut Böttiger | 21.02.2020
Der Schriftsteller Peter Handke und seine Roman "Das zweite Schwert"
Nach der enormen Erregung um die Nobelpreisverleihung wurde Peter Handkes neues Buch mit Spannung erwartet. Rechnet der Autor darin mit seinen Kritikern ab? (Buchcover Suhrkamp Verlag / imago images/Jonas Ekströmer)
Ist Peter Handke jetzt wieder für einen Skandal gut? Schlägt man sein neues Buch mit solch einer Erwartungshaltung auf, scheint man gleich mit dem ersten Satz fündig zu werden: "‚Das ist also das Gesicht eines Rächers!‘ sagte ich zu mir, als ich mich an dem bewussten Morgen, bevor ich mich auf den Weg machte, im Spiegel ansah."
Es geht also um Rache, und wie es dem Klischee entspricht, drehte sich die journalistische Maschinerie sofort auf Hochtouren: Nimmt Handke jetzt Rache an seinen Kritikern? Diese Lesart wird schon dadurch ad absurdum geführt, dass Handke seinen Text im April und Mai 2019 verfasst hat, wie er am Schluss anmerkt – zu einem Zeitpunkt, als er von der Nobelpreisverleihung noch überhaupt nichts ahnen konnte. Der Untertitel verheißt eine "Maigeschichte", und sie ist erkennbar in einem Zug geschrieben und in sich geschlossen. Es ist unwahrscheinlich, dass Handke nach dem Oktober 2019 noch irgendetwas Aktualitätsheischendes hinzugefügt haben könnte. Man muss diese Maigeschichte als Maigeschichte ernst nehmen.
Handke-Lesern vertraute Orte
Aber welche Rolle spielt dabei die Rache? Warum sie erfolgen soll, wird lange nicht erklärt. Stattdessen befinden wir uns im Handke-Lesern längst vertrauten Ambiente der Wälder- und Hügellandschaft um Versailles, deren Bahnhofsvorplätze und Bars detailliert ausgeleuchtet werden – allerdings nicht in einem realistischen Sinn, sondern wie auf einer Theaterbühne, auf der die Figuren als Zeichen immer auch auf etwas Anderes zu verweisen scheinen. Wegen einiger Ferientage ist alles leerer als sonst, aber es gibt noch die alte Briefträgerin, die aus der Provinz in das Pariser Becken beordert worden war – sie ist es nämlich gewohnt, mit dem Fahrrad zu fahren, und die vermeintlichen Ebenen in der Île de France haben oft kurze, unerwartet steile Anstiege. Nicht nur an dieser Stelle befindet man sich plötzlich in einer Erzählung, die von einer Handlung wegführt und in der es um bildhafte Geschichten geht, um einen flirrenden Bereich der Phantasie, der aber auch unvermittelt mit kurzen Einsprengseln aus der vermeintlichen Realpolitik durchkreuzt werden kann. Es wäre völlig verfehlt, anhand des Geschehens eine Inhaltsangabe dieser "Maigeschichte" anzufertigen – das Wesentliche bliebe dabei außer Acht. Man kommt ihrem Kern wohl am nächsten, wenn man sich zentrale Orte vergegenwärtigt, die Handke auch hier wieder beschreibt: das ehemalige Hotel des Voyageurs etwa oder die "Bar der drei Bahnhöfe". Im Hotel sind jetzt Gestrandete, sozial Ausgegrenzte untergebracht, sie sitzen meistens auf den Stufen vor der Glastür. In Handkes Perspektive werden sie zu mythischen Figuren, die zeitlos sind und literarische Räume bevölkern:
"Life is very strange"
"Und im nächsten Moment fand ich mich zwischen den verbliebenen paar Ureinwohnern der Herberge auf einer der wie eigens für mich freigehaltenen Stufen sitzen, weder der untersten noch der obersten. Sie hatten mich mit unverständlichen Lauten – aber unnötig, die zu verstehen – , dafür weit ausholenden Gesten eingeladen, und zugleich hatte ich mich von selber zu ihnen gesellt. Eine Weinflasche, die ihnen allen gemeinsame, wurde mir – nein, nicht unter die Nase gesteckt, sondern vorgehalten, und, einmal ohne mein ewiges Zögern, schon trank ich. Der Wein, es blieb bei einem Schluck, trank sich wie vielleicht gleichwelcher Wein am Morgen. Doch was mir bis zum heutigen Tag geblieben ist, das ist der Nachgeschmack des Zigarettenrauchs, den ich aus dem Flaschenhals mitschluckte. Nicht zu vergleichen mit der madeleine aus der Verlorenen und Wiedergewonnenen Zeit des Monsieur Marcel Proust, und trotzdem ein Ding, ja, Ding von Dauer, dessen ich froh war, und bin. War da nicht einmal ein Lied, in dem jemand, wer nur, sang: ‚Life is very strange, and there is no time‘? – Falsch: ‚Life is very short‘, sang John Lennon. – Aber hier soll ein ‚strange‘ stehen."
Homer als Passepartout
Es wirkt geradezu übermütig, wie Handke hier mit literarischen Anspielungen jongliert, aber auch mit seinen privaten Mythen und seiner Lust, Figuren auf eine Bühne zu stellen und imaginär werden zu lassen. In solchen Gefilden ist auch die Geschichte zu Hause, in der sein Ich-Erzähler Rache nehmen will. Die Rache ist ein uraltes Motiv, sie ist ein tragendes Element in den Epen von Homer, und es ist mehr als ein bloßer Fingerzeig, dass der Name dieses antiken Dichters an etlichen Stellen dieser "Maigeschichte" angerufen wird: Homer liefert ein Passepartout, mit dem sie gelesen werden kann. Auf einem Kinderspielplatz in der Nähe des Bahnhofs zum Beispiel kommt dem Protagonisten einmal der Ausdruck "Die fernschaukelnden Kinder" in den Sinn, und dazu assoziiert er "Homer", weil das Adjektiv in diesem Ausdruck wie eines des ersten deutschen Homer-Übersetzers Johann Heinrich Voss klingt. Der Ich-Erzähler denkt aber weder an die Ilias noch an die Odyssee, sondern an ein drittes Epos, das, wie er sagt, "es nie gegeben hatte und niemals geben würde".
Und irgendwann, mitten in den Schilderungen grüner Maibäume, gibt es beiläufig eine Erklärung für die Rache, die der Erzähler im Sinn hat. Eine Journalistin habe nämlich seine Mutter denunziert: Sie hätte den "Anschluss" Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland jubelnd begrüßt. Der Erzähler macht sich auf den Weg zu dieser Zeitungsschreiberin, die auf der anderen Seite des Pariser Beckens wohnt.
Illusionen jenseits der Tatsachen
Man sollte die hier angesprochene Mutter keineswegs mit der realen Mutter des Autors verwechseln, genauso wenig, wie man diesen Ich-Erzähler mit dem Autor gleichsetzen sollte. Er ist eine Spielfigur, die Handke probehalber mit Attributen seines eigenen Lebens ausstattet, mit der er frühere Werke und Motive zitiert, mit der er aber auch alles von einer direkten autobiografischen Lesbarkeit wieder wegrückt und romantische Versuchsanordnungen erstellt. Dass Journalisten denunziatorisch agieren, ist allerdings eines jener Versatzstücke, die Handke immer wieder zur Anfeuerung seines Schreibprozesses benötigt – bereits 1968 veröffentlichte er einen polemischen Aufsatz mit dem Titel "Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit". Der Rachefeldzug gegen die Journalistin in der neuen "Maigeschichte" bildet nur den Vorwand für eine vollkommen andere Erzählung. Sie läuft die ganze Zeit mit, und diese Anlage wird poetologisch schon am Anfang sichtbar:
"Die Tatsachen konnten der Illusion nichts anhaben. Die Einbildung war dauerhaft, nahm mit der Zeit an Räumlichkeit, Stofflichkeit, Farbigkeit – an Rhythmik noch zu. Ob wirklich oder nicht: sie wirkte."
Ein Ritter im Mai
Dieses romantische Programm wird in der "Maigeschichte" konsequent verfolgt, nimmt dabei aber verblüffende Wendungen. Auf seinem Weg in die Nähe der verleumderischen Journalistin gerät die Hauptfigur in neue Welten – sie haben etwas Entrücktes, obwohl sie eindeutig der vorgefundenen Wirklichkeit verhaftet bleiben. Die Art, wie der Ich-Erzähler wahrnimmt, bringt das Gesehene ins Leuchten und Schillern, und gegen Ende findet er sich in Port-Royal-des-Champs wieder, einem Klostergelände, in das sich der frühneuzeitliche Gelehrte Blaise Pascal zurückgezogen und theologische Grundfragen zu stellen begonnen hatte. Kreuzzüge werden beschworen und die Suche Parzivals, dazu gehört auch, dass sich der Ich-Erzähler an einem Mairitterling freut, einem der Jahreszeit entsprechenden Pilz, und sich in dessen Gefolge als ein Ritter im Mai fühlt. Das sind alles ernste, aber auch lustvolle Spiele, die mit der Reise in einem "Ersatzbus" des öffentlichen Nahverkehrs ins Surreale, zur Gaststätte der Endstation führen. Hier sieht der Held, auf dem Fernsehbildschirm in einer Talkshow, plötzlich wieder jene Journalistin, an der er sich rächen wollte. Aber sie ist nicht mehr wichtig.
"Sie, die Übeltäterin, sie und ihresgleichen gehörten nicht in die Geschichte, weder in diese noch in sonst eine! Es war darin kein Platz für sie. Und das war meine Rache. Und das genügte als Rache. Das war und ist Rache genug. Wird genug an Rache gewesen sein, amen. Nicht das Schwert aus Stahl, sondern das andere, das zweite."
Literatur statt Rache
Der kriegerisch anmutende Titel "Das zweite Schwert" geht auf diese Weise ganz und gar in der Literatur auf, und Handkes Epos schließt sich wie traumwandlerisch an die Epen Homers an. Auf so etwas war man zu Beginn der Erzählung zwar nicht gefasst, aber dennoch geht es hier keineswegs in erster Linie um eine Entwicklung, um einen Anfang oder um ein Ende. Mit dem Hallraum der antiken Epen ist für Handke die Grenze zwischen Erzählen und Religion aufgehoben. Das ist nicht als eine theologische Überzeugung zu werten, sondern als Ausdruck dessen, dass die Literatur alles umfasst. Sie ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich, doch sie spielt dabei immer auch Theater – jenseits aller Ideologien, Rollenzuweisungen und jenseits aller vordergründigen Moral.
Peter Handke: "Das zweite Schwert. Eine Maigeschichte"
Suhrkamp Verlag, Berlin, 160 Seiten, 20 Euro