Dienstag, 16. April 2024

Archiv

Peter Handke-Schenkung
"Herzstück seiner Arbeit"

30.000 handgeschriebenen Seiten: Peter Handke hat dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach weitere Tagebücher aus den Jahren 1975 bis 2015 überlassen. Diese würden noch lange interessant für die Forschung sein, sagte der Leiter des Literaturarchivs Ulrich von Bülow im Dlf.

Ulrich von Bülow im Gespräch mit Anja Reinhardt | 18.10.2017
    Ulrich von Bülow, der Leiter Handschriftenabteilung im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, zeigt ein Schwarzes Heft des Philosophen Martin Heidegger. Die Einrichtung in Marbach am Neckar bei Stuttgart archiviert und verwaltet den Nachlass Heideggers.
    Ulrich von Bülow, Leiter Handschriftenabteilung im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, erhält von Peter Handke Tagebücher aus den Jahren 1975 bis 2015. Hier hält er eine Ausgabe aus Heideggers Nachlass. ( (c) dpa)
    Ulrich von Bülow: Ja, die Zeitkapsel, das ist bei uns eine recht beliebte Veranstaltungsserie. Wir haben den Titel von Andy Warhol entliehen. Der hatte nämlich, ich weiß nicht, ich glaube, in den 60er-Jahren die Angewohnheit, alles, was er auf seinem Schreibtisch fand, in Pakete zu packen. Und diese Pakete, die sind heute in Museen und werden dort ausgepackt. Das sind die Zeitkapseln. Und viele der Dinge, die wir bekommen, sind ja auch so eine Art Zeitkapsel, und die Freude, die wir haben, wenn wir solche Pakete oder Kisten auspacken, die wollen wir mit dem Publikum teilen. Und das machen wir schon seit einer Reihe von Jahren in Form dieser Serie der Zeitkapseln.
    "Eine Forschung, die eigentlich nie abgeschlossen ist"
    Reinhardt: Diese Zeitkapsel heute Abend hat über 23.000 Seiten. So viel umfassen die Notizen, die jetzt dazu kommen. Wie lange dauert das eigentlich, bis man so eine Menge einigermaßen erforscht hat?
    von Bülow: Oh, das dauert sehr lange, und der Erforschungsprozess, der ist überhaupt nicht absehbar, weil im Bereich der Literatur natürlich eine Forschung eigentlich nie abgeschlossen ist. Die erste Aufgabe, vor der wir stehen, ist sehr viel trivialerer Art. Wir müssen nämlich die konservatorisch gut behandeln, die Notizbücher. Wir müssen die vielen Federn und Blätter und Einlagen dort rausnehmen, aber ihrerseits konservieren. Das wird der erste Schritt sein. Dann stellen wir die Tagebücher der Öffentlichkeit und der Forschung zur Verfügung, und ich bin mir ziemlich sicher, dass die Zukunft zeigen wird, dass es viele Jahrzehnte, ich will nicht von Jahrhunderten sprechen, aber lange Zeit dauern wird, dass die Tagebücher noch sehr lange interessant sind für die Forschung.
    Tagebücher als Ideenspeicher
    Reinhardt: Und Sie werfen sicherlich auch noch mal einen neuen Blick auf insgesamt das Werk von Handke, oder?
    von Bülow: Ja, denn die Tagebücher, die sind wirklich ein Herzstück seiner Arbeit. Sie müssen sich diese ungeheure Menge von insgesamt - - Wenn man von 1975 bis 2015 rechnet, dann handelt es sich um insgesamt 30.000 Seiten. Das ist eine ungeheure Textmenge. Und auch die Art, wie Handke diese Notizbücher gefüllt hat, denn er hat sie für vieles gleichzeitig benutzt. Er hat sie als Ideenspeicher benutzt, er hat sie für Sprachübungen benutzt. Aber es gibt auch die ganz normalen Tagesnotizen. Es gibt sehr viele Naturbeschreibungen. Die Bücher kann man auch immer in den Jahreszeiten situieren.
    Reinhardt: … und auch noch Kritzeleien dazu.
    von Bülow: Es gibt die Kritzeleien, genau. Das ist auch eine ganz eigentümliche Art, wie Handke das handhabt. Man würde von einem Schriftsteller wie Handke vielleicht eine sensationelle Eröffnung aus dem Intimleben in Tagebüchern erwarten. Das findet man aber so gut wie gar nicht.
    Einblick in Handkes Serbien- und Bosnien- und Slowenien-Reisen
    Reinhardt: Was man aber vielleicht findet, weil jetzt diese Tagebücher, die Sie jetzt bekommen, auch die Zeit des Jugoslawien-Krieges behandeln, sind möglicherweise neue Erkenntnisse über diese doch relativ schwierige und problematische Geschichte, das Verhältnis Handkes zu Serbien beziehungsweise sein Verhältnis zu Milosevic. Erwarten Sie sich da noch mal Aufschluss über diese doch schwierige Periode in der Handke-Rezeption?
    von Bülow: Ich erwarte von den Notizbüchern aus dieser Zeit – das ist ja eine lange Periode; das geht ja in den 90er-Jahren und auch im ersten Jahrzehnt unseres Jahrtausends. Das ist ja die Periode, wo ihn Jugoslawien sehr beschäftigt hat und Serbien. Ich habe natürlich jetzt auch die vielen Seiten nicht lesen können, aber stichprobenhalber habe ich doch festgestellt, dass es auch sehr viel zum Beispiel von seinen Serbien- und Bosnien- und Slowenien-Reisen in dieser Zeit gibt. Wie sehr die das Bild, was er in seinen Veröffentlichungen gegeben hat, verändern werden, das vermag ich nicht zu sagen.
    "Was nicht nur faktisch stimmt, sondern auch poetisch gültig ist"
    Reinhardt: Handke selber hat ja immer wieder auch gesagt, dass er nichts von Distanz hält. Ich sage das deswegen, weil ich mich frage, ob solche Tagebuchaufzeichnungen nicht immer das Problem haben, dass sie von vornherein schon für die Veröffentlichung gedacht sind, dass er doch eigentlich sehr wohl Distanz hat zu sich selbst, wenn er da schreibt?
    von Bülow: Ich kann mir gut vorstellen, dass jetzt, nachdem er schon manche Auszüge aus den Tagebüchern – das sind ja immer nur Auszüge, die veröffentlicht worden sind -, nachdem er das mehrmals gemacht hat, dass er dann schon auch sich vorstellen kann, dass auch aus den neuen Tagebüchern etwas veröffentlicht wird. Ob aber er von Anfang an die Tagebücher 1975 mit dem Ziel begonnen hat, sie zu veröffentlichen, das weiß ich nicht, denn es ist tatsächlich auffallend, dass das Private ganz weitgehend fehlt und auch das Intimleben dort nicht ausgebreitet wird. Aber das hängt, glaube ich, mit seiner Auffassung des Schriftstellerberufs zusammen. Ich glaube, dass Handke einfach den Anspruch an sich selbst hat, dass er nur so etwas in sein Tagebuch schreibt, was nicht nur faktisch stimmt, sondern auch poetisch gültig ist.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.