Mittwoch, 24. April 2024

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Peter Harry Carstensen (CDU) über Bauchgefühle in der Politik
"Passt mal auf, Jungs, ich trete heute an"

Etwas plötzlich wurde Peter Harry Carstensen (CDU) 2005 Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. Mit den milliardenschweren Bürgschaften für die HSH Nordbank, gibt er heute zu, habe die Landesregierung Fehler gemacht: "Wir sind guten Willens gewesen und hätten trotzdem andere Entscheidungen treffen müssen."

Peter Harry Carstensen im Gespräch mit Rainer Burchardt | 26.07.2018
    Der ehemalige schleswig-holsteinische Ministerpräsident Peter Harry Carstensen sitzt am 28.02.2017 in seinem Haus in Wrohe (Schleswig-Holstein)
    Der ehemalige schleswig-holsteinische Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (dpa / Carsten Rehder)
    "Deutschlands knuffigster Ministerpräsident", so nannte ihn einmal eine größere Tageszeitung. Kaum ein Porträt kam je ohne ausführliche Beschreibung seiner Zugänglichkeit, seiner Bodenständigkeit und guten Laune aus. Peter Harry Carstensen, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein von 2005 bis 2012. Man kann nicht sagen, dass ihm dieses Amt in die Wiege gelegt wurde. Geboren wurde er 1947 in einer Bauernfamilie auf der Halbinsel Nordstrand bei Husum als jüngstes von fünf Kindern. Er studierte in Kiel und wurde Diplom-Agraringenieur, dann Landwirtschaftslehrer an einer Landwirtschaftsschule mit Aufstieg zum Oberlandwirtschaftsrat.
    Der Einstieg bei der CDU dagegen war beinahe etwas zufällig. Carstensens Bruder, ein Kommunalpolitiker, zog ihn in die Partei. Seit 1983 saß Carstensen mit Schwerpunkt Landwirtschaft im Bundestag. 2002 wurde er relativ plötzlich Landesvorsitzender der CDU im hohen Norden, nachdem der bisherige Landeschef, der seit der Barschel-Affäre sehr gebeutelten CDU, sich in Machtkämpfen verrannt hatte. Vielleicht ist das etwas Absichtslose des Nordfriesen sein politisches Markenzeichen. Selbst seine Wahl zum Ministerpräsidenten 2005 konnte nur stattfinden, weil die SPD-Kandidatin Heide Simonis vollkommen überraschend an einem parteiinternen Feind scheiterte.
    Was kühles Kalkül jedoch nicht ausschließt. In schwerem Fahrwasser durch die Milliarden teure Krise der HSH Nordbank ließ Carstensen die schwarz-rote Koalition platzen und konnte nach Neuwahlen 2009 komfortabler mit der FDP regieren. Selbst Kanzlerin Angela Merkel konnte ihn dann jedoch nicht überreden, zu bleiben. Zur Landtagswahl 2012 zog Carstensen sich aus der Politik zurück.
    Peter Harry Carstensen: "Wir haben das gar nicht begriffen, wie gut es uns auf den Höfen ging. Wir hatten das Haus voller Flüchtlinge seinerzeit, das war eine spannende Erfahrung, die man heute noch mal einbringen kann."
    Manchmal brauchen Bauern Wetterzulagen und mehr Respekt
    Rainer Burchardt: Herr Carstensen, in diesen Zeiten reden alle vom Wetter, wir müssen es zwangsläufig auch tun, damit unser Gespräch beginnen. Im Norden im Augenblick die Dürre, Januar, Februar hat es wirklich Katzen geregnet hier oben. Die Landwirte waren erst sauer, weil ihre Äcker waren wirklich durchnässt. Jetzt sind sie sauer, weil die Dürre herrscht und die Ernte dementsprechend auch kaputt geht. Es gibt jetzt aus der Lobby der Landwirtschaft die Forderungen, einen Sonderplan, Notstandsplan für die Landwirtschaft in Deutschland einzurichten. Im Süden, man weiß es, herrscht ja im Wesentlichen Wasserflut. Was halten Sie von solchen Vorschlägen?
    Peter Harry Carstensen: Erst einmal geht es denen wirklich dreckig, und ich kann mir vorstellen, dass sie außerordentlich nervös sind, denn sie haben im letzten Herbst – das ist ja nicht erst im Frühjahr angefangen, sondern im letzten Herbst – auch schon schlecht ernten können. Es gab viele Felder in Schleswig-Holstein, die gar nicht abgeerntet wurden, weil das so klatschnass ist. Und wenn man Landwirt ist, weiß man, dass man auch im Herbst noch einsäen muss das Wintergetreide, das an sich jetzt geerntet werden soll. Und in einen nassen Boden geht das nicht ordentlich rein. Viele haben gar nicht säen können im Herbst, und viele haben schlecht eingesät, weil der Boden verschlämmt, das heißt also, die Saat gar nicht richtig aufgekommen ist. Und Wetter hat immer zwei Seiten. Der Tourismus freut sich, die sind begeistert auf Sylt und auf Amrum und auf Föhr und an der Ostseeküste. Und bei den Bauern fehlt dieses Wasser. Im Frühjahr klatschnass, und jetzt kein ordentliches Wachstum und eine schlechte Ernte.
    Burchardt: Aber hält das her für einen nationalen Notstand?
    Carstensen: Na, ich weiß nicht, was darunter zu verstehen ist, unter einem nationalen Notstand. Ich weiß aber, dass viele Bauern ihre Ernte brauchen, um wieder Liquidität zu bekommen. Wenn einer Ackerbauer ist, dann hat er nur einmal im Jahr etwas zu verkaufen, und wenn dieses nicht verkauft werden kann, dann merkt er das sofort auf seinem Bankkonto, das wahrscheinlich dann auch noch überzogen ist, um Dünger zu kaufen, um seine Maschinen zu finanzieren und viele andere Dinge zu machen. Insofern kann ich mir das schon vorstellen, dass man darüber spricht, eine Liquiditätshilfe zu bringen und dafür zu beten, dass die nächsten Jahre wieder gut werden. Wir sind ja auch gesegnet gewesen mit guten Ernten hier in Schleswig-Holstein.
    Burchardt: So ein Wetter ist ja nun nicht nur in Deutschland oder speziell Schleswig-Holstein, sondern auch in ganz Mitteleuropa feststellbar. Ist es dann eine Sache für Brüssel eventuell?
    Carstensen: Sehen Sie, wir leben ja nun gerade im landwirtschaftlichen Bereich in einem Weltmarkt. Wenn in Europa oder in Deutschland in wenigen Zonen dort eine schlechte Ernte ist und woanders gute Ernten kommen werden – ob aus der Ukraine, ob aus Russland, wo auch immer her, ob aus Amerika, dann hat das natürlich einen Einfluss auf die Preise. Und wenn Sie dann eine schlechte Ernte kriegen und dann auch noch schlechte Preise haben, dann wird es dramatisch. Und bei einigen Bauern, das muss man ganz klar sagen, ist es dramatisch.
    Burchardt: Kommt auf die Verbraucher dann eine Preiswelle zu?
    Carstensen: Preiswelle – es mag sein, dass manche darüber sprechen werden. Wissen Sie, wie viele Brötchen man machen kann aus einem Doppelzentner Weizen?
    Burchardt: Nein.
    Carstensen: 2.000 Brötchen. Und dann können Sie sich ja vorstellen, wenn der Weizenpreis ein bisschen steigt, dann hat das einen sehr niedrigen Einfluss. Aber wir müssen auch auf der anderen Seite mal daran denken, dass unsere Landwirtschaft uns ernährt. Bei allen Schwierigkeiten und allen Diskussionen über die Landwirtschaft, wenn Sie sich die Bevölkerungsentwicklung ansehen der letzten 70 Jahre – 1950 hatten wir etwas über zwei Milliarden Menschen auf dieser Erde, und es hungerten damals schon 800 Millionen. Heute haben wir 7,7 Milliarden Menschen auf dieser Erde, und es hungern immer noch 800 Millionen, viel zu viel.
    Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) schneidet am  bei der offiziellen Eröffnung der 25. Dithmarscher Kohltage 2011 in Belmhusen einen Kohl ab.
    Ein Händchen für den Kohl: Peter Harry Carstensen ist gelernter Diplom-Agraringenieur (dpa / Carsten Rehder)
    Aber diese Landwirtschaft, diese moderne Landwirtschaft, nicht nur bei uns, sondern auch woanders in der Welt, ist in der Lage gewesen, in den letzten Jahrzehnten über fünf Milliarden Menschen zusätzlich zu ernähren. Wir leben in einem so satten Land, dass wir diese Diskussion gar nicht führen. Dass es uns so selbstverständlich ist, dass wir alles haben, alles kaufen können und vor allen Dingen noch, wenn ich das noch sagen darf, zu einem ausgesprochen niedrigen Preis. Wir geben nur noch zehn Prozent für Nahrungsmittel aus, für das Wichtigste, was wir eigentlich haben.
    Burchardt: Und es muss immer ganz billig sein.
    Carstensen: Und es muss immer alles ganz billig sein, ja.
    Aufwachsen konnte man nach dem Krieg auf einem nordfriesischen Hof ganz wunderbar
    Burchardt: Herr Carstensen, Sie sind Nordfriese, anno '47 sind Sie geboren, und eine landwirtschaftliche Gegend. Ihr Vater war, glaube ich, auch Landwirt. Lag das in der Familie? Denn Sie sind dann nachher ja, nach dem Studium, während des Studiums oder durch das Studium sind Sie dann ja auch Diplom-Agraringenieur geworden.
    Carstensen: Da ist ein bisschen Druck gewesen von zu Hause, das nachher noch mal zu machen. Ich wollte an sich nie studieren. Ich wollte zur See fahren, zur Bundesmarine und dann zur Handelsmarine. Die Bundesmarine hat mal irgendwann einen großen Fehler gemacht, sie hat mich nicht genommen. Das hat sie vielleicht erst später gemerkt, aber ganz gleich, das wurde nichts. Ich hatte mir die Knie beim Handballspielen zerdeppert und bin dann ins Studium gegangen, habe im ersten Semester Chemie und Jura, eine eigenartige Kombination – …
    Burchardt: Das ist aber wirklich wahr.
    Carstensen: Ja, das hatte auch – Chemie hatte ich Lust zu und Jura machten alle, also insofern war das die Kombination. Und irgendwann hat mein Vater gesagt, du musst noch Betriebsfähigkeit nachweisen, damit ich den Hof erben kann. Und dann bin ich in die landwirtschaftliche Lehre gegangen und hab dann Landwirtschaft studiert und freue mich über das Studium.
    Burchardt: Wie war denn das Leben damals so als kleiner Junge in der Nachkriegszeit, in der Wiederaufbauzeit? Irgendwann in den Fünfzigern kam dann ja das sogenannte Wirtschaftswunder. Aber ich vermute mal, Sie haben nicht unbedingt hungern müssen in dieser landwirtschaftlichen Gegend von damals?
    Carstensen: Wissen Sie, wir haben das gar nicht begriffen, wie gut es uns auf den Höfen ging damals. Wir hatten das Haus voller Flüchtlinge seinerzeit, eine spannende Erfahrung, die man heute noch mal einbringen kann. Und ich kann mich noch erinnern, dass in der Schule, da saß ich in meiner Grundschule dort, wahrscheinlich in der ersten Klasse, mit über 40 Kindern in einem Klassenraum, mit einem Lehrer. Und da gab es Care-Pakete, und ich – manche Sachen, die setzen sich ja fest. Und ich bin nach Hause gekommen und hab mal zu meiner Mutter gesagt, die andere haben alle Trockenmilch gekriegt, warum ich nicht? Warum muss ich hier diese frische Milch dort trinken.
    Ich hab gar nicht gewusst und gemerkt, wie gut es uns ging. Ja, mir ging es fantastisch, ich bin behütet worden. Ich bin auch deswegen behütet worden … Mein Vater war ja Jahrgang 1896 und war 18, als der Erste Weltkrieg ausbrach, ist dann im Krieg gewesen, ist bei den Franzosen gewesen, ist irgendwann 1918 nach Hause gekommen, verwundet, hat 1920 geheiratet. Mein ältester Bruder Harry – daher habe ich meinen Namen – ist dann geboren und ist 1944 im November bei Riga gefallen. Das ist eine Generation gewesen, die unwahrscheinlich mitgemacht hat. Und ich gehöre zur ersten Generation in Deutschland, die 71 Jahre alt werden konnte, wie ich bin – man kann das im Radio leider nicht sehen, man sieht mir das kaum an.
    Burchardt: Nein, man sieht Ihnen das nicht an, ist doch klar.
    Carstensen: Aber die erste Generation, die keinen Krieg erleben musste. Und ich finde, das erfüllt mich mit riesengroßer Dankbarkeit. Das hat was mit politischen Dingen zu tun. Das war die Westorientierung von Adenauer, das war die Ostpolitik von Willy Brandt, das war die Europapolitik und Wiedervereinigungspolitik von Helmut Kohl. Und das gibt mir heute eine unwahrscheinliche Dankbarkeit, dass Politik auch was bewirken kann.
    Carstensen: "Ich war Stimmvieh, nichts anderes, und ich habe zu meinem Bruder gesagt, wenn du den Beitrag bezahlst, dann mach ich das."
    Lehrer, die in Stalingrad waren, und was das mit dem Verhältnis zu Russland zu tun haben könnte
    Burchardt: Vielleicht sollten wir dann mal kurz einen Blick auf das Aktuelle werfen. Vor wem haben Sie mehr Angst, vor Putin oder vor Trump?
    Carstensen: Ich bin ja nun raus aus der Politik, und vielleicht kann man deswegen auch ein bisschen freier und aus dem Bauch heraus und aus dem Herzen heraus dort sprechen. Ich halte die Politik gegenüber Russland für falsch. Erstens ist Russland ein direkter Nachbar oder fast direkter Nachbar …
    Burchardt: Die Sanktionen meinen Sie?
    Carstensen: Die Sanktionen und die Art und Weise, wie man mit den Russen umgeht. Wir wissen, dass die Krim-Annexion eine ist, die nicht sein durfte. Aber sie ist geschehen. Und das, was wir machen – ich habe gute Freunde in Russland, viele gute Freunde in Russland und merke, dass zum Beispiel die Landwirtschaft sich unwahrscheinlich entwickelt, weil wir dort mit unseren Maßnahmen dafür gesorgt haben, dass die sich wirklich selbst entwickeln, einen ganz weiten Schritt nach vorn gegangen. Ich habe manchmal mehr Angst in dieser Situation, – mehr Sorgen, will ich erst mal sagen, ich will da nicht gleich Angst reinschmeißen –, in dieser Situation, wie wir sie jetzt haben mit einem Trump auf der einen Seite und mit einem Putin auf der anderen Seite, mehr Sorgen über die Eskapaden und Unberechenbarkeiten von Trump, als bei Putin, der für mich berechenbarer ist.
    US-Präsident Trump und sein russischer Kollege Putin bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in der finnischen Hauptstadt Helsinki
    US-Präsident Trump und sein russischer Kollege Putin bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in der finnischen Hauptstadt Helsinki (dpa/ap/Alexander Zemlianichenko)
    Und ich bin schon der Meinung bei der Art und Weise, wie Trump jetzt im Moment mit Europa und mit seinen alten Freunden umgeht. Dass man sich auch mal neue Freunde suchen kann. Die Welt verändert sich, China ist nicht nur am Horizont, sondern weit über den Horizont hinweg. Und Russland ist da, und dort mal zu sehen und zu sagen, pass mal auf, Mister Trump, wir können uns auch andere Freunde suchen. Wissen Sie, ich weiß nicht mehr genau, wie er das genannt hat, aber Willy Brandt hat seinerzeit mit Egon Bahr Frieden durch Annäherung – ich weiß nicht mehr …
    Burchardt: Wandel durch Annäherung.
    Carstensen: Wandel durch Annäherung, genau. Das ist etwas, was wir heute brauchen, insbesondere in der Politik dem Osten gegenüber.
    Burchardt: Wenn wir wieder zu den 50er-Jahren oder 60er-Jahren zurückkehren, Herr Carstensen, dann ist ja mal die Frage, wie war das bei Ihnen? Ich weiß es selbst von mir zu Hause, aber auch von anderen Schulfreundinnen und -freunden, die sagten, bei uns stand immer der Iwan vor der Tür. Wie berechenbar war denn der Kalte Krieg?
    Carstensen: Das kann ich nicht sagen. Aus den 50er-, 60er-Jahren kann ich das so nicht sagen. Die Lehrer, die ich hatte, waren ja nun Lehrer, die im Krieg aktiv gewesen sind. Ehemalige Soldaten, die in Gefangenschaft gewesen sind, wo auch immer, und uns natürlich aus dieser Situation auch berichteten. Aber ich kann nicht sagen, dass man dort darüber gesprochen hat, "der Iwan steht vor der Tür", sondern ich habe mehr Vertrauen zu der Politik gehabt, die wir auch im Westen gehabt haben mit der NATO. Wobei wir ja auch einiges an strategischen Überlegungen hier haben mussten. In Schleswig-Holstein haben Atomraketen gelagert in Meyn in der Nähe von Flensburg, und an der ganzen Zonengrenze, wie wir seinerzeit sagten, haben die Atomraketen gelagert. Und diese Abschreckung und dieses Gleichgewicht hat uns diesen Frieden erhalten.
    Burchardt: Fanden Sie denn damals, Sie waren ja dann ein junger Mann in den 60er-Jahren, die Westbindungspolitik Adenauers, fanden Sie die korrekt und richtig? Die war ja sehr umstritten, insbesondere der NATO-Beitritt, Wiederaufrüstung und so weiter.
    Carstensen: Natürlich, sie war umstritten. Aber sie ist in einer Zeit geschehen, wo ich politisch nicht so gedacht hatte und auch vielleicht noch nicht denken konnte. Aber sie ist erfolgreich gewesen, und in der Politik zählt auch Erfolg. Sie hat uns den Frieden gebracht, sie hat uns Freundschaften gebracht, sie hat auch die Amerikaner gebracht mit einem Marshallplan, der uns wieder nach vorn gebracht hat. Das muss man ganz klar sehen. Wir haben den Krieg angefangen, wir haben Millionen von Toten, wir sind mit Kriegsgefangenen schlecht umgegangen und haben ein Inferno bei den Juden angerichtet. Wir haben Unanständigstes gemacht. Nicht jeder Einzelne, aber wir haben natürlich die Verantwortung dafür zu tragen, dass so etwas nicht wieder passiert. Und man hat uns trotzdem geholfen.
    Peter Harry Carstensen (CDU), Ministerpräsident Schleswig-Holsteins a.D., spricht am 19.11.2016 in Neumünster (Schleswig-Holstein) auf einem CDU Landesparteitag
    Carstensens Einstieg bei der CDU war beinahe etwas zufällig (dpa / Markus Scholz)
    Das ist ja eine Riesenleistung gewesen, die seinerzeit in den 50er-Jahren gebracht worden ist. Die Amerikaner – ich weiß nicht, ob die unbedingt so einen Aufwand hätten machen müssen, um die Berlin-Blockade zu unterbrechen, um dort die Flugzeuge jeden Tag hinzuschicken. Und Adenauer ist zu Chruschtschow gefahren. Das sind Dinge gewesen – mein Mathematiklehrer und letzter Klassenlehrer, der ist in Stalingrad gewesen und ist etliche Jahre in russischer Gefangenschaft gewesen. Das sind Leistungen gewesen, die man von uns aus gebracht hat. Sicherlich mithilfe auch der Alliierten und sicherlich mit Hilfe der Freunde, die sich in der Europäischen Union oder damals in den ersten Bündnissen dann schon gezeigt hatten.
    Ein eher ungeplanter Einstieg in die CDU
    Burchardt: Wenn man das Stichwort Erfolg mal aufgreift – Sie waren vorübergehend ja nach Ihrem Studium auch noch als Lehrer an der Landwirtschaftsschule in Bredstedt, auch in Ihrem Einzugsbereich sozusagen, tätig. Danach sind Sie dann aber doch relativ schnell in die CDU eingetreten. Warum eigentlich die CDU?
    Carstensen: Die Neigung war schon immer da. Ich bin nicht unbedingt sehr politisch gewesen. Ich bin weder in der Jungen Union gewesen noch war ich im Gemeinderat noch im Kreistag noch irgendwo anders. Es hatte – es ist an sich eine ganz eigenartige Geschichte. Mein Bruder war sehr aktiv, war im Kreistag, war Bürgermeister bei uns in der Gemeinde. Und mein Bruder hat irgendwann mal gesagt, du musst jetzt in die CDU eintreten. Und warum? Wir hatten eine Kreisreform, und aus einem Kreis, unserem Kreis, sollte der Kreisvorsitzende Kreisvorsitzender des ganzen Kreises werden. Das war Leo Späth, der nachher auch im Europaparlament war. Und dazu brauchten wir Stimmen.
    Ich war Stimmvieh, nichts anderes, und ich hab zu meinem Bruder gesagt, wenn du den Beitrag bezahlst, dann mach ich das. Und irgendwann haben wir das wahrscheinlich vergessen, dass er den Beitrag zahlen musste. Und ich habe mich weniger in der CDU engagiert als im vorpolitischen Raum. Als ich in Bredstedt war, war ich Geschäftsführer des Kreislandjugendverbandes. Ich wurde nachher Vorsitzender des Kreisjugendrings, habe also sehr viel Jugendarbeit damals gemacht, habe das erste jugendpolitische Papier für den Kreis Nordfriesland geschrieben. Ich habe einen Naturschutzverein gegründet aus den Gründen, weil ich gemerkt habe, wir müssen unsere Probleme selbst in die Hand nehmen und selbst lösen, bevor irgendwelche andere mit fremden Dialekten kommen.
    Der Bundestagsabgeordnete der CDU Peter Harry Carstensen (r) lädt Bundesministerin für Frauen und Jugend Angela Merkel (M) und Verteidigungsminister Volker Rühe (l) am 08.08.1992 zu einer Wattwanderung von der Insel Hallig Südfall zum Festland ein. Das Bild zeigt die drei Politiker, die auf einem Schiff zur Hallig Südfall fahren. 
    Seine Karriere habe er der Partei zu verdanken, sagt Peter Harry Carstensen (dpa)
    Burchardt: Das war Anfang der 70er-Jahre.
    Carstensen: Das ist Anfang der 70er-Jahre gewesen, Mitte der 70er-Jahre. Und irgendwann bin ich scheinbar aufgefallen. Irgendwann kamen mal irgendwelche Leute bei mir an, und es war der Vorsitzende vom Bauernverband und der Kreispräsident, und sie sagten, wir möchten gern ein Gespräch. Peter Harry, willst du nicht in den Bundestag? So einfach war das. Ich wusste überhaupt nicht, was das bedeutet, und habe dann aber irgendwann ja gesagt und bin dann in dieses Kandidatenkarussel mit eingestiegen.
    Carstensen: "Das zweite Schlüsselerlebnis war das mit Heide Simonis. Dies nie zu erleben, was Heide Simonis erleben musste. Und das sind so Ereignisse, wo man sagt, hoffentlich geht so etwas an die vorbei."
    Über Zufälle und Bauchgefühle in der Politik
    Burchardt: Sie gehören ja zu den wenigen Bundespolitikern, die eigentlich alle Parlamente von innen auch kennengelernt haben, das heißt also, den alten Bundestag in Bonn, dann das Wasserwerk, das Provisorium im Provisorium, und dann auch noch in Berlin zwei Stellen.
    Carstensen: Na, in Bonn zwei Stellen. Wir hatten ja noch ein Parlament nachher, einen Bundestag, der in Bonn gebaut wurde, wenn ich mich richtig erinnere. Bis auf die Volkskammer habe ich in allen Parlamenten gesessen.
    Burchardt: Da können Sie ja froh sein, dass Sie nicht in die Volkskammer gewählt worden sind. Vom Stimmvieh bis zum Ministerpräsidenten, das war ja gar nicht so ein langer Weg. Wie betrachten Sie das nachträglich eigentlich?
    Carstensen: Als ich in den Bundestag kam, wollte ich was bewegen für den Wahlkreis. Das war nicht immer ganz einfach. Ich wollte auch was bewegen für die Agrarpolitik, als ich Vorsitzender des Agrarausschusses wurde. Und wir hatten damals eine ganz schwierige Situation in der Agrarpolitik. Da waren die MacSherry-Reformen von 1992 und Preissenkungen mit Preisausgleich und vielen anderen Dingen. Das war nicht so ganz einfach zu erklären, und ich musste auch manchmal zu anderen Arbeitsgruppen, um dann mal bestimmte Dinge zu erklären. Was bedeutet dieses in der Agrarpolitik. Ja, das wollte ich.
    Aber ich bin auch Parteisoldat gewesen. Ich habe meine politische Karriere meiner Partei zu verdanken. Und für mich sitzt diese Dankbarkeit sehr tief, das ist völlig klar. Ich bin auch manchmal in kaltes Wasser geschubst worden, insbesondere, als es hier nach Schleswig-Holstein ging. Das war ja nun nicht ganz einfach. Wir hatten – seit Uwe Barschel hatte die CDU Asche auf dem Haupt, und das Wort "Barschel" musste nur irgendwo genannt werden, dann nahm jeder den Kopf runter und duckte sich. Und die CDU brauchte wieder ein gewisses Selbstbewusstsein. Wir hatten die Wahlen alle verloren, und wir hatten Streit in der CDU zwischen Fraktionsvorsitzenden und Parteivorsitzenden, und es gab ein ewiges Hin und Her. Und dieses ewige Hin und Her musste geglättet werden. Merkel war damals Parteivorsitzende, und irgendwann hat sie mal gesagt, passt mal auf, das muss einer von euch hier aus dem Bundestag machen.
    Der Versuch, dem Machtkampf in Schleswig-Holstein die Hässlichkeit zu nehmen
    Burchardt: War denn jemand wie Barschel vermeidbar? Er ist ja im Grunde genommen ein Ziehkind von Gerhard Stoltenberg gewesen, der damals Ministerpräsident war, und dem ja auch bis heute nachgesagt wird, dass er mit eiserner Hand regiert hat.
    Carstensen: Er hat in einer außerordentlich guten Art regiert. Er war eine Autorität im guten Sinne des Wortes.
    Burchardt: Stoltenberg?
    Carstensen: Stoltenberg, ja. Und Barschel – ich kann das nicht so sagen. Ich hab Barschel zu wenig erlebt. Ich war im Bundestag, und Barschel machte die Landespolitik hier. Aber ich glaube nicht, dass er unbedingt ein – oder Gerhard Stoltenberg begeistert immer von Uwe Barschel war. Aber das ergab sich, dass dieser junge Kerl, der dort auch Ministerämter, glaube ich, schon gehabt hatte, dass der geeignet sei, dann auch Ministerpräsident zu werden. Was dann gekommen ist, ist schlimm. Das sind so Schlüsselerlebnisse, auch für mich. Dieses ist ein Schlüsselerlebnis, nicht so Politik zu machen, nicht so zu agieren, sondern offen und ehrlich in der Politik zu sein. Und das zweite Schlüsselerlebnis war das mit Heide Simonis. Dieses nie zu erleben, was Heide Simonis erleben musste. Das sind so Ereignisse, wo man sagt, hoffentlich geht so etwas an dir vorbei.
    Ministerpräsidentin Heide Simonis (l / SPD) und Peter Harry Carstensen (CDU) während der Wahl des neuen Ministerpräsidenten in Kiel (Archivbild vom 17.03.2005). 
    Das Bild sei nach dem zweiten Wahlgang entstanden, sagt Peter Harry Carstensen. Nach Wahlgang drei und vier habe es keine Schadenfreude mehr gegeben. (dpa / action_press / Christian Langbehn)
    Burchardt: Gerade diese letzte Bemerkung von Ihnen, die ruft mir ins Gedächtnis jetzt wieder ein Bild, das im Fernsehen auch zu sehen war, als Heide Simonis nun vier Anläufe machte und jeweils die nötige Mehrheit verfehlte. Und es gibt einen, wie würde man sagen, Screenshot von Ihnen, wo Sie eigentlich, ich will mal so sagen, relativ schadenfroh ausschauen. Sie haben sich gefreut damals?
    Carstensen: In dem Moment, wo das Bild gemacht wurde, habe ich mich gefreut. Das ist nicht gemacht worden, das will ich hier noch mal sagen, das ist nicht gemacht worden nach dem vierten Wahlgang, sondern das ist gemacht worden nach dem zweiten Wahlgang. Im ersten Wahlgang fehlte mir ja auch eine Stimme.
    Burchardt: Das waren jeweils 34 zu 34.
    Carstensen: Ja. Und das haben wir ja geregelt, und dann fehlte die Stimme nur noch bei der SPD, und beim zweiten Wahlgang – natürlich johlt man und sagt, Mensch, was haben die ihren Laden nicht im Griff, wie kann so was passieren. Nach dem dritten und insbesondere nach dem vierten Wahlgang waren wir alle betroffen. Das war eine ganz eigenartige Situation. Da war nicht Schadenfreude mehr, sondern da hat Demokratie und Parlamentarismus gelitten. Und wenn Sie … Es gibt ja manchmal auch in der politischen Karriere Entscheidungen, die nicht unbedingt rational gefasst werden. Am 20. Februar 2005 war die Wahl hier in Schleswig-Holstein. Keiner hat mir überhaupt zugetraut, dass wir dort etwas erreichen könnten.
    Und plötzlich, bis 22 Uhr, hatten wir die Wahl gewonnen. Und ich war auf dem Weg nach Berlin und kriegte dann einen Anruf, nee, wir haben die Wahl nicht ganz gewonnen, eine Stimme mehr bei dem Bündnis Rot-Grün mit der Duldung des SSW. Spielt auch keine Rolle. Und da war für mich die Frage, bleibst du in Berlin, machst du weiter Agrarpolitik? Ich hatte einen guten Namen und war anerkannt dort, also insofern wäre das überhaupt nicht schwierig gewesen. Oder gehst du nach Kiel? Tust du dir das an und gehst nach Kiel? Und ich hab gesagt, nee, ich geh nach Kiel. Diese Koalition wird keinen Bestand haben können, wird schwierig werden. Und wir müssen da sein.
    Mehr zur Abstimmungsniederlage von Heide Simonis 2005:
    Heide Simonis"Frauen geben leider nach, wenn Druck kommt"
    Das Patt am Watt
    Schleswig-Holstein Der "Heide-Mörder"
    Burchardt: War das ein Bauchgefühl oder politische Rationalität?
    Carstensen: Das war viel Bauchgefühl, ein bisschen Rationalität. Und dann bin ich in Kiel geblieben, wurde Oppositionsführer. Und dann kam der 17. März, wo Heide Simonis gewählt werden sollte, und ich habe morgens in der Fraktion gesagt, passt mal auf, Jungs, ich trete heute an. Und da haben die zu mir gesagt, bist du verrückt, was soll das? Du machst dich lächerlich, das haben wir noch nie gemacht. Und dann kam irgendwann auch mal ein ganz ehrlicher Einwurf: Das verlängert alles, und wir wollen mittags zu Hause sein. Wenn ich nicht angetreten wäre, wenn ich nicht hiergeblieben wäre, wäre Heide Simonis Ministerpräsidentin geworden. Wenn ich nicht angetreten wäre, wäre Heide Simonis Ministerpräsidentin geworden. Und das waren Bauchentscheidungen, und scheinbar richtige.
    Burchardt: Wie ist das bei Ihnen persönlich? Entscheiden Sie viele Dinge nach Gefühl oder eher nach Verstand?
    Carstensen: Erstens schaltet man den Verstand ein, das ist das Erste. Aber es gibt viele Entscheidungen, die nicht 99 zu 1 sind. Es gibt viele Entscheidungen, das war auch im Bundestag so, ob die jemanden in einen Kriegseinsatz schicken – das ist nicht so einfach. Da gehen sie schon mal an Ihr eigenes Gewissen ran. Und es gibt viele Entscheidungen, die so ich sag mal 52 zu 48 sind. Und da müssen Sie natürlich auch den Bauch mit einschalten. Wie ist deine Lebenserfahrung in dieser Geschichte, und wie entscheidest du dich? Denn diese Entscheidung steht. Es gibt manchmal auch so Entscheidungsmuster. Ich habe auch häufig mal so entschieden, dass ich gesagt habe, welche Entscheidung kann ich denn wieder zurücknehmen? Und auch wenn sie falsch ist, aber wenn du sie dann zurücknehmen kannst, dann kannst du das noch berichtigen. Also insofern ist das ein Konglomerat des ganzen Körpers, vom Kopf bis hin zum Bauch, ja.
    Der CSU-Ehrenvorsitzende Edmund Stoiber auf dem CSU-Parteitag in München.
    Edmund Stoiber sei ein guter bayerischer Politiker gewesen, so Carstensen (picture alliance / dpa / Matthias Balk)
    Burchardt: Es hat ja im Jahr 2002 zur Bundestagswahl Edmund Stoiber Sie gefragt, der damalige Kanzlerkandidat der Union, ob Sie bei ihm gegebenenfalls Landwirtschaftsminister werden würden, und Sie haben ja offenbar zugesagt, auch, wenn es dann nicht geklappt hat. Was hat Sie dazu gebracht, einem Bayern das Ja-Wort zu geben, gerade als durch und durch Schleswig-Holsteiner?
    Carstensen: Vielleicht hat das auch etwas damit zu tun, dass es nicht unbedingt eine bayerische Landwirtschaftspolitik in Deutschland geben muss. Ich habe ein ausgesprochen gutes Verhältnis zu meinen bayerischen Agrarpolitikkollegen. Aber es ist doch schon eine andere Struktur hier. Und vor allen Dingen hatten wir eine andere Struktur nach der Wiedervereinigung. Und da war unsere Struktur und unsere Philosophie von Landwirtschaft doch ein bisschen näher als manche dort in Bayern. Ich habe das mit großer Begeisterung gemacht. Ich bin auch stolz gewesen, stolz wie Hulle, sagt man, glaube ich, immer. Zuerst habe ich immer gedacht, wenn du Minister wirst, dann darfst du die Grüne Woche eröffnen …
    Burchardt: Da gibt es gut zu essen.
    Carstensen: Da gibt es gut zu essen und zu trinken, aber ganz gleich – nein, ich hab das gern gemacht und ich schätzte und schätze immer noch den Edmund Stoiber. Das war einer der guten bayerischen Politiker. Und ich glaube, die Bayern würden sich manchmal sehr freuen, wenn sie ihn jetzt noch an anderer Stelle hätten.
    Carstensen: "Und dann sagt der, und dann bist du auch noch Vorsitzender des Aufsichtsrats von der HSH Nordbank. Und da habe ich gesagt, nein, auf keinen Fall mache ich das."
    Pleiten, Pech und Paradise Papers
    Burchardt: Herr Carstensen, wir kommen um zwei unbequeme Themen nicht herum. Das eine Thema heißt HSH Nordbank, und das andere Thema – auch das ist nicht ganz ohne, heißt Panama Papers. Natürlich haben Sie hier die Gelegenheit, auch dann zu sagen, wie Sie das einfach sehen. Der große Aufreger dieser Tage ist in der Tat der Verkauf der HSH Nordbank zu einem relativ geringen Preis, aber mindestens zehn Milliarden Bürgschaft stehen da, die der Steuerzahler abfangen muss. Sie haben das seinerzeit mit Ole von Beust, dem damaligen Hamburger Bürgermeister, auf den Weg gebracht. Wie sehen Sie das aus heutiger Perspektive?
    Carstensen: Ja, wir haben die Bürgschaft auf den Weg gebracht, um die HSH zu retten. Was vielleicht im Nachhinein ein Fehler gewesen ist oder was besser gewesen wäre, so will ich das mal sagen, wäre das, was Wolfgang Kubicki immer gesagt hat, verkauft die HSH.
    Burchardt: Damals?
    Carstensen: Damals. Dann wären wir sie los gewesen, dann hätte ein anderer den Ärger gehabt, und dann wäre es kein Problem gewesen.
    Burchardt: War die überhaupt verkäuflich damals, mit den Werten?
    Carstensen: Ich gehe davon aus, schon, ja. Die Anfangsproblematik, da kann man auch nicht von einem Fehler reden – ein Fehler hat ja immer einen Verursacher –, ist gewesen, wir hatten ja bis Anfang des 21. Jahrhunderts, ich weiß nicht genau, wann das aufgehoben wurde, von der EU die Gewährsträgerhaftung. Das heißt, man konnte Darlehen geben und sagen, wenn das in die Hose geht, dann haftet das Land. Und da ist natürlich auch Gebrauch gemacht worden von dieser Geschichte. Die zweite Geschichte ist, man hat einen Zusammenschluss gemacht, um dort eine Größe zu kriegen, Hamburg und Schleswig-Holsteinische Landesbank zusammenzupacken. Der dritte, für mich immer ein Fehler, ist gewesen, die Politiker haben sich zu viel in die Aktivitäten dort mit eingeschaltet, auch beim Aufsichtsrat oder wo auch immer. Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich im Jahr 2005, ein paar Wochen nach meiner Wahl, bei mir im Büro mit meinem Chef der Staatskanzlei saß und Heinz Maurus mir dann erzählte, wo ich denn kraft Amtes überall drin bin. Und dann sagt er, und dann bist du auch noch Vorsitzender des Aufsichtsrats von der HSH Nordbank. Und da habe ich gesagt, nein, auf keinen Fall mache ich das.
    Burchardt: Aber qua Amt müssen Sie es?
    Carstensen: Nein, wir haben jemanden …
    Burchardt: Sie haben es delegiert?
    Carstensen: Ich habe es delegiert, auf jeden Fall. Und ich habe nachher auch alle Politiker aus dem Aufsichtsrat herausgeholt, weil, wenn wir eine Bilanz dort prüfen, dann holen wir Deloitte oder irgendwelche große Organisationen, und hier meinen wir, das selbst zu können. Was für eine Hybris! Und das war mir immer sehr klar. Aber ganz gleich, wir haben natürlich Fehler gemacht, ohne Frage, vielleicht nicht bewusst oder sicherlich nicht bewusst. Wir sind guten Willens gewesen und hätten trotzdem andere Entscheidungen treffen müssen.
    Burchardt: Ist denn der dann, nach Ole von Beust gekommene Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz, jetzt Finanzminister, auch mit in dieser Charge der Politiker, die vielleicht nicht den Durchblick hatten?
    Carstensen: Nein. Ich habe einige Verhandlungen zusammen mit Olaf Scholz zusammen in Brüssel gemacht, bei dem Wettbewerbskommissar Almunia. Und wir haben dort sehr gut zusammengearbeitet. Wir haben dort die Reduzierung des Geschäftsvolumens bei der HSH verhandelt, und wir haben ein paar andere Dinge verhandelt, und da ist Olaf Scholz ein ausgesprochen guter und erfahrener Partner gewesen.
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    Burchardt: Ja, das war das Thema, das ich angesprochen habe. Panama Papers, da ist es ja ein bisschen unübersichtlich, weil Ihnen wurde plötzlich vorgeworfen, von natürlich nicht willfährigen Journalisten aufgebracht, dass Sie nun mit drinsteckten in dieser ganzen Steueroasengeschichte. Wie ist Ihre Position dazu? Es geht da ja um Querverbindungen mit einem Dänen, der auf Föhr ein Museum betreibt und dort auch Ausstellungen oder im Besitz von Bildern ist – und da war natürlich Peter Harry Carstensen mit im Boot.
    Carstensen: Ja. Es hat mich auch, ich gebe es zu, geärgert, wobei ich solche Geschichten einigermaßen abschütteln kann, wenn ich ein gutes Gewissen habe, denn dann kann man das auch. Erstens ist es ein Schwede, oder war ein Schwede, ist in Schweden geboren. Sein Vater ist auf Föhr geboren und hat hier in Kiel studiert und hat gegen ein Todesurteil der Nazis demonstriert und ist dann im Gefängnis gewesen, ich glaube, anderthalb Jahre, und dann geflohen, über die Schweiz nach Schweden. Zweitens ist das ein erfolgreicher Unternehmer. Drittens hat das mit Steuerparadiesen nichts zu tun. Das waren übrigens auch die Paradise Papers. Was mich geärgert hat, war die Art der Fragestellung. Wir haben ja etliche Fragen auf den Tisch bekommen und haben alle beantwortet. Und diese Fragen insistierten schon …
    Burchardt: "Wir" heißt, Sie hatten Rechtsschutz?
    Carstensen: Nein, ich hab nicht Rechtsschutz, aber ich habe natürlich Frederik Paulsen angerufen und habe gesagt, pass mal auf, ich kriege hier Fragen, und was ist da los, und ich habe dann auch gefragt, wie sollen wir das beantworten? Ich möchte gern, dass wir das sauber und richtig beantworten. Aber wenn schon insistiert wird, es ist in einem Steuerparadies was gemacht worden, dann hat natürlich jeder die Vorstellung, der hat dort Steuern hinterzogen oder wie auch immer, oder Steuern gespart, wie auch immer. Nein, diese ganzen Geschichten, die Frederik Paulsen hier in Schleswig-Holstein gemacht hat und auch immer noch macht, sind finanziert aus versteuertem Geld. Der hat ein Museum gebaut, er hat ein altes Dorf erhalten, der hat seine Bilder dort mit reingesetzt.
    Er ist einer der größten Förderer unserer Universität, und was meinen Sie wohl, wie der Präsident der Universität gezittert hat, und hat gesagt, wenn der jetzt vorgenommen wird in Schleswig-Holstein, hoffentlich kriegen wir dann von ihm noch ein bisschen was. Es gibt einen Hörsaal, einen Frederik-Paulsen-Hörsaal, und er finanziert sehr viel Forschung im medizinischen Bereich und in vielen anderen Bereichen. Also insofern war das eine Geschichte, wo auch viele Journalisten hier in Schleswig-Holstein, die mich kennen, gesagt haben, passt mal auf, darüber werden wir nicht reden.
    Carstensen: "Ohne töten kriegen sie kein Braten. Das gilt übrigens auch bei Kentucky Fried Chicken."
    Sprecher: Wildfleisch und wilde Musik. Hobbys machen froh. Und Heavy-Metal-Festivals sollen ihre Steuern zahlen.
    Burchardt: Zum Schluss unseres Gesprächs kommen wir noch mal vom Politiker Carstensen zum Menschen Carstensen. Manchmal gibt es ja Unterschiede, und bei Ihnen sind die sehr eklatant. Bei den Vorbereitungen habe ich gefunden, dass Sie Jäger sind.
    Carstensen: Begeistert, ja.
    Burchardt: Sie sind aber, im Vorgespräch haben Sie gesagt, nicht mehr, aber Sie haben lange die Imkerei betrieben, und Sie sind Dauerkartenbesitzer des Wacken-Festivals. Nacheinander: Jägerei, was reizt Sie an der Jägerei? Was hat Sie zum passionierten Nimrod gemacht?
    Carstensen: Für mich ist das die natürlichste Nutzung, die wir haben. Wir mästen keine Tiere, sondern wir jagen sie. Und für mich gibt es zwei Gesichtspunkte. Direkt bei der Jagd spielt der Tierschutz für mich eine Rolle, das heißt sauberes Schießen, sauberes Töten. Ohne Töten kriegen Sie keinen Braten. Das gilt übrigens auch bei Kentucky Fried Chicken. Und das Zweite ist ein gutes Umgehen mit dem Tier anschließend. Wenn es getötet ist, dann ist es ein Nahrungsmittel. Und für mich ist das – ich bin kein Trophäenjäger, bei mir werden Sie so gut wie keine Trophäe in der Wohnung finden. Ich habe ein paar Hirsche und ein paar Damhirsche geschossen, die hingen im Forsthaus draußen an der Wand, aber bei mir drinnen hängt das nicht. Ich bin also kein Trophäenjäger. So ähnlich wie die Schweden, die machen das. Die lassen die Gehörne im Wald liegen und nehmen das Fleisch mit nach Hause. Und für mich ist Wildfleisch ein ausgesprochen gesundes und sehr kostbares Gut.
    Burchardt: Warum haben Sie die Imkerei aufgegeben?
    Carstensen: Wir haben uns ein Haus gekauft, und ich habe keinen ordentlichen Raum mehr, keinen sauberen Raum mehr zum Schleudern. Und wenn ich mit dem Schleudern in meine Küche gehen würde, kriege ich Ärger mit meiner Frau. Das war also ein ganz einfacher Grund. Ich hab gerne geimkert, das hat mir sehr viel Freude gemacht. Das war immer ein großer Traum früher als Kind. Mein Onkel hatte immer, der war Schmied in Hemmerwurth, der hat immer Bienen gehabt. Das hat mich fasziniert. Ein guter Freund von mir, ein Chirurg aus Husum, hat bei mir die Bienen stehen gehabt. Mich hat das fasziniert, da zu sitzen, in gehörigem Abstand, aber so zu sitzen, dass man alles dort sehen kann, das hat mich fasziniert, und das habe ich gern gemacht, das ist schon was Tolles, ja.
    Der ehemalige Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Peter Harry Carstensen (CDU), zeigt am 31.07.2014 auf dem Gelände des "Wacken Open Air" Festivals in Wacken (Schleswig-Holstein) den Metal-Gruß, die "Pommesgabel". 
    "Pommesgabel" beim Wacken Open Air 2014: Peter Harry Carstensen hat ein VIP-Ticket - bis ans Lebensende, wie er sagt. (dpa)
    Burchardt: Und wie sind Sie an die Dauerkarte von Wacken rangekommen?
    Carstensen: Ich habe mal, gleich nachdem ich Ministerpräsident wurde, die beiden Organisatoren, Holger Hübner und Thomas Jensen, mal zu mir ins Büro geholt. Und ich habe denen gesagt, passt mal auf, Jungs, ihr kriegt von mir jede Unterstützung. Das war ein Geheimtipp. Ich will von euch nur eins haben: Eure Steuern. Und kommt mir nicht noch mal, dass ihr immer in den Jahren nur 30.000 Besucher habt. Ihr müsst auch wissen, wenn ihr mehr Besucher habt, seid ihr auch mehr wert. Und im nächsten Jahr hatten sie, glaube ich, schon 60.000 dann. Ich habe einen Riesenrespekt und kann mich begeistern für solche junge Leute, die so was auf die Beine stellen. Das sind Kristallisationspunkte in Schleswig-Holstein. Nicht nur Wacken …
    Burchardt: Ja, das ist ja bundesweit oder europaweit, kann man sagen.
    Carstensen: Weltweit. Meine Frau ist ja Personalleiterin in Hamburg am Flughafen, und der Hamburger Flughafen richtet zur Wacken-Zeit einen eigenen Wacken-Schalter ein. Und wenn Sie das sehen und diese Begeisterung auch im Dorf – da sind ja nur ganz wenige, die da nicht mitmachen, die kriegen dann eine Reise auf die Kanarischen Inseln. Es ist so, ich habe eine VIP-Karte bis an mein Lebensende. Die hat er mir mal zum Geburtstag geschenkt.
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    Burchardt: Es wird auch öffentlich-privat jetzt noch mal bei einer Frage. Sie haben Ihre Frau erwähnt, das ist Ihre zweite Frau, Ihre erste ist leider an Krebs gestorben. Die "Bild"-Zeitung hat irgendwann mal, und ich weiß gar nicht, ob Sie da zugestimmt haben, öffentlich eine neue Frau für Sie gesucht. Was war das denn?
    Carstensen: Das Schlimme war ja, dass das sogar mit meinem Willen war. Ich habe aber nicht geahnt, was das für Ausmaße annehmen würde. Nein, ich hab mich nicht wohlgefühlt allein. Meine Frau ist '96 gestorben, und Alleinsein ist nicht gut. Und ich freue mich, und darf hier sagen, mir geht es so was von gut, und ich habe eine tolle Frau. Ich bin dankbar zufrieden, so wie wir jetzt leben. Wir sind ja umgezogen. Ich hab ja bis jetzt in einem Forsthaus gewohnt von Herrn Fielmann, das wir ja gemietet haben, die Diskussion kam natürlich auch wieder. Jetzt sitzt er da beim Fielmann, hat Fielmann ihm wahrscheinlich dort eine Wohnung gegeben.
    Burchardt: Ja, so sind die Journalisten.
    Carstensen: Ja, so sind die Journalisten nun mal. Aber ich bin dankbar für all das, was ich machen durfte. Ich bin dankbar für alles das, was meine Eltern mit mir gemacht haben, und ich bin dankbar, wie ich jetzt mit meiner Frau leben kann.
    Keine Zeit für Bundespräsidentenwahl: Der kranke Dackel geht vor
    Burchardt: Wir müssen zum Schluss noch über Lawrenz sprechen.
    Carstensen: Lawrenz. Ich bin dankbar über Lawrenz.
    Burchardt: Man sieht Ihnen ja an, wie gut es Ihnen geht, wie gut Sie sich fühlen. Man hört es wahrscheinlich auch. Wegen Lawrenz haben Sie sich verweigert, an der Bundesversammlung bei der Wahl des neuen Bundespräsidenten teilzunehmen, weil Ihr Lawrenz krank war – ein kleiner Dackel.
    Carstensen: Kleiner Dackel, ich weiß nicht, ob das bei einem großen Hund anders gewesen wäre. Nein, die Situation war dramatisch auch für Lawrenz. Lawrenz hatte eine sogenannte Dackellähme, und meine Frau war in der Zeit in Neuseeland, war nicht zu Hause, und ich war allein mit dem Hund und bin dann bei Tierärzten gewesen, bin in der Tierklinik in Hamburg gewesen, wo er dann infiltriert wurde. Und er musste vor allen Dingen alle drei Stunden mal rausgetragen werden. Ich habe mir dann so ein Laufgitter für Kinder gekauft, so ein Holzlaufgitter, und da hat er drin gelegen. Da habe ich ihn drin gefüttert, und dann habe ich ihn rausgetragen, wenn er mal musste. Und deswegen habe ich gesagt, Leute, ich kann leider nicht kommen. Herr Bundespräsident, ich gehe davon aus, dass Sie auch so gewählt werden. Die Mehrheiten waren gut, und das Verfahren ist ja auch so, dass man einen Vertreter hat. Und normalerweise hätte ich da gar kein Aufhebens drum gemacht, aber wieder ein Kollege von Ihnen, von den "Lübecker Nachrichten" rief bei mir an und sagt: Herr Carstensen, was werden Sie denn bei der Wahl machen? Ich sag, ich muss Sie enttäuschen, aber ich geh gar nicht hin. – Wieso das denn nicht? Ja, sag ich, so und so, mein Dackel ist krank. Und das war natürlich die Schlagzeile, Carstensen geht nicht hin, weil sein Dackel krank ist. Ich würde es immer wieder so machen.
    Burchardt: Und das sagt sehr viel über Sie aus persönlich. Herr Carstensen, herzlichen Dank für das Gespräch!
    Carstensen: Gern!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.