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Péter Nádas: "Aufleuchtende Details"
Die Radikalität der Wahrheitssuche

Der Schriftsteller und Fotograf Péter Nádas beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der bewegten Geschichte Ungarns. In seinem neuen 1.300-Seiten-Werk "Aufleuchtende Details" zeigt Nádas die enge Verflechtung der Historie mit seiner eigenen Familiengeschichte - und gibt erschütternde persönliche Einsichten und Befindlichkeiten preis.

Von Angela Gutzeit | 04.02.2018
    Buchcover: Péter Nádas: „Aufleuchtende Details“
    Den Memoirenband des ungarischen Schriftstellers Péter Nádas durchzieht ein tiefer Geschichtspessimismus - doch gleichzeitig ist die Radikalität der Wahrheitssuche ein einziger Widerspruch zur behaupteten Sinnlosigkeit des Existierens (Buchcover: Rowohlt Verlag, Foto: imago/ZUMA Press)
    Am Anfang seiner Erinnerung, da war dieses grelle Licht, dieser Druck und dieses schwindelerregende Gefühl des Fliegens. Es muss das Jahr 1944 gewesen sein. Budapest, von deutschen Truppen belagert und von sowjetischen Kampfflugzeugen bombardiert, versank in Chaos und Zerstörung. Auch das Elternhaus in der Damjanich-Straße des damals gerade zweijährigen Péter Nádas erhielt einen Treffer und begrub seine Mutter und ihn unter Trümmern, denen sie wohl nur knapp unversehrt entkamen.
    "Das wohl erste oft wiederkehrende Erinnerungsbild meines Lebens ist ein im Dunkel eines Budapester Mietshauses aufleuchtender Sprengsatz während wir gegen eine kalt aufflammende Wand fliegen, hineinstürzen. (…) Wir fliegen durch die Luft. Wahrscheinlich drehe ich auch den Kopf hin und her, ein nervöses Vögelchen, Gefahr, alles im Auge behalten, aber ein Gefühl für Gefahren habe ich nicht, mein Grundgefühl ist Sicherheit, genauer, ebendieses Grundgefühl wird vom Gefühl des Ausnahmezustands, der Unberechenbarkeit überraschend durchkreuzt. (…) Das Nacheinander der Bilder verklebt sich, die Reihenfolge ist nicht mehr zu ändern. Dann ist da kein kaltes Flammen mehr, kein Fallen, kein Oben, kein Unten. Da ist nur Einsturz."
    Kann es so gewesen sein? Sind die Erinnerungsbilder eines Zweijährigen zuverlässig? Wie destilliert man Realität aus dem wabernden Dunst der Wahrscheinlichkeit? Ihn interessiere nichts mehr, so Nádas, als diese Unterscheidungsmöglichkeit zwischen Schein und Wirklichkeit, auch wenn und gerade weil die Übergänge oft gleitend seien. Etwa nach hundert Seiten, tief im Textgespinst versteckt, wiederholt sich dieses bildlich festgemachte Empfinden in einem ganz anderen Kontext:
    "Erst ein gutes Jahr später, im November 1956 um genau zu sein, konnte ich das Erlebnis festmachen, diesen Luftdruck, der dich stößt, dir den Atem nimmt, es war alles wieder da."
    Das eigene Erleben der in die Menge feuernden Sowjet-Truppen während des Ungarnaufstandes dient dem Autor zur Verifizierung seines Kindheitserlebnisses - im Sinne von: Meine Erinnerung trügt also doch nicht. So habe ich es schon einmal erlebt! Ein ständig wiederkehrendes Muster in diesem Buch - die Erforschung subjektiver Erinnerung bis zurück in die früheste Kindheit, das Prüfen von vermeintlichen Fakten, Dokumenten und überlieferten Erzählungen. Mit diesem Hinweis auf die Ereignisse in Ungarn 1956 markiert Nádas aber auch den zeitlichen Rahmen seines Buches. Es ist die Zeit zwischen der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges und der Katastrophe der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes, einer kurzen hoffnungsvollen Episode, wie Nádas schreibt, in der es nicht um bürgerliche Emanzipation und individuelle Freiheit gegangen sei, sondern um die nationale Unabhängigkeit.
    Das Unglück des Überlebens
    Es sind ganz offensichtlich diese quälenden Bilder, die den Schriftsteller und Fotografen Peter Nádas antreiben, mit seinen ausufernden Büchern immer tiefere Furchen durch die Historie Ungarns und seine damit eng verbundene Familiengeschichte zu graben. Unter anderem das monströse, assoziativ verschlungene Romangebilde wie das "Buch der Erinnerung" und das dreibändige Werk "Parallelgeschichten" hat Nádas in den vergangenen drei Jahrzehnten hervorgebracht: 1.000 Seiten, dann 1.700 Seiten. Und jetzt mit dem Memoirenband "Aufleuchtende Details" immerhin auch wieder fast 1.300 Seiten, auf denen der ungarische Autor dieses Mal persönliche Einsichten und Befindlichkeiten preisgibt, die für jeden beharrlichen Leser, der nicht allein schon an der Materialfülle und an Nádas‘ exzessiver Detailversessenheit scheitert, schwer zu verkraften sind. Da ist zum Beispiel dieses Leitmotiv der im Krieg zerstörten Budapester Brücken, das Nádas als Symbol wertet für die eigene, lebenslang als bedroht empfundene Existenz:
    "Die Stümpfe der gesprengten Brücken ragen aus der Donau heraus. So ist mein Leben. Ich sehe sie als gestutzte Flügel eines zerzausten Vogels, die kaputten Brücken auf dem damals entstandenen Foto, wobei ich weder an Vögel noch an gestutzte Flügel dachte. Ich dachte nicht an Vernichtung, sie war einfach die unmissverständliche Form der Existenz."
    Und wenn dann doch einmal das Fliegen, zum Beispiel beim kindlichen Spiel mit den Eltern, als ein Moment des seltenen und unbeschwerten Glücks in seinem Leben aufscheint, so beschwert Nádas innerhalb eines Satzes diese positive Erinnerung gleich wieder mit einem düsteren Vergleich.
    "Noch siebzig Jahre später ruft die Erinnerung bei mir das Gefühl ungetrübten Glücks hervor, eines Glücks, wie es Imre Kertész in Auschwitz empfunden haben muss, das skandalöse Glück des reinen Existierens."
    Nicht nur dieses "skandalöse Glück des reinen Existierens", sondern seine Existenz überhaupt, ist bei Nádas durchweg schuldbeladen. Etwa in der Mitte des Buches über viele Seiten hinweg schließt er den Tag seiner Geburt, diesen 14. Oktober 1942, mit dem Massenmord an den Juden in einem ungarischen Talkessel kurz, bringt ihn in Verbindung mit den Erschießungen von Widerständlern, mit den Quälereien und Zerstörungen durch die deutschen Faschisten und die sie unterstützenden ungarischen Pfeilkreuzler. Nádas hat das während vieler Stunden und Tage in Archiven akribisch recherchiert. Seine Schlussfolgerungen zeigen ihn als einen Menschen, der nicht nur das eigene Überleben für verwerflich hält, ja, den Tag seiner Geburt verflucht, sondern auch den Glauben an das Gute im Menschen verloren hat und deshalb theologischer und utopischer Sinngebung vehement widerspricht.
    "Wieso blieb ich nicht im Geburtskanal stecken. Wieso verhedderte ich mich nicht in der Nabelschnur. Und warum hatte ich gezeugt werden müssen. Meine Mutter hätte doch sehen können, in was für eine Welt sie mich hinausstieß. Sie war nicht blind, nicht uninformiert, schon gar nicht unintelligent, nicht einmal unvorbereitet oder hilflos. Wieso steckte sie nicht eine Stricknadel hoch. Wieso bat sie nicht Imre Hirschler, mich wegzumachen. Jetzt mit vierundsiebzig Jahren sage ich, dass ich mich im weggemachten Zustand viel besser gefühlt hätte denn als Überlebender. (…) Auf diese sinnlosen Fragen, die ich mir noch heute stellen muss, gibt es nur dann eine sinnvolle Antwort, wenn es keine Vorsehung gibt. Falls aber ein fürsorglicher Gott doch existieren sollte, habe ich für die Beschaffenheit des Menschen keine Erklärung."
    Kampf um die Deutung historischer Ereignisse
    Das sind Sätze, die sprachlos machen. Und man könnte an dieser Stelle das Fazit ziehen: Dieses Buch ist eine Zumutung. Dieser geballte Geschichtspessimismus, diese Entwertung des eigenen Lebens bis zu den immer wiederkehrenden Bemerkungen über Selbstmordabsichten und Selbstmordversuchen, diese Erschütterung des Vertrauens in die Mitmenschen, was sich in Sätzen äußerst wie:
    "Normale, harmlos wirkende Menschen kommen von einem Augenblick zum nächsten nicht mehr ohne das Morden aus."
    Aber man kann es auch anders betrachten: Diese Radikalität der Wahrheitssuche, die in diesem Buch steckt, ist ein einziger Widerspruch zur behaupteten Sinnlosigkeit des Existierens. Denn Nádas führt in seinem Werk "Aufleuchtende Details" einen verbissenen Kampf um die Deutung historischer Ereignisse und Prozesse. Es geht im Kern um die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Kommunismus in seinem Land, des Widerstands während des Zweiten Weltkrieges, um die jüdische Emanzipationsgeschichte, aber zum Beispiel auch um das Los der 40.000 inhaftierten Menschen, unter anderem ungarische Emigranten und Spanienkämpfer, im französischen Lager Le Vernet am Fuße der Pyrenäen. Und das alles gespiegelt und anschaulich gemacht durch die eigene Familiengeschichte. Die Menge der Namen, die hier aufgeführt werden, machen es dem Leser schwer, sie überhaupt noch zuordnen zu können. Und doch gibt es Menschen, denen in Nádas‘ Werk eine zentrale Bedeutung zukommt. Da sind zuallererst die Eltern, Lászlo und Klara Nádas. Dann die Schwester des Vaters, Magda Aranyossi, Journalistin und Autorin, und ihr Mann Pál, Mitbegründer der KP Ungarns und späterer Häftling in Le Vernet. Aber auch der Urgroßvater Mór Mezei und sein jüngerer Bruder Ernö Mezei, beide Politiker. Von Letzterem wird noch die Rede sein.
    Verfolg und Widerstand im belagerten Budapest
    Péter Nádas ist der Spross eines jüdisch-kommunistischen Elternhauses und einer Familiensippe, die über mehrere Generationen Intellektuelle, Journalisten, Schriftsteller, Politiker und in den 40er- und 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts hohe Parteifunktionäre der KP Ungarns hervorvorbrachte. So waren beide Eltern wie auch besagte Tante Magda an führender Stelle im kommunistischen Widerstand tätig. Sie organisierten in Budapest unter anderem die Rettung jüdischer und politisch bedrohter Menschen und bewahrten sie vor dem Zugriff der Pfeilkreuzler. Deren Partei hatte zwischen Oktober 1944 und März 1945 in den noch nicht von der Roten Armee besetzten Teilen Ungarns eine faschistische Kollaborationsregierung errichtet und dabei Zehntausende umgebracht. Peter Nádas zollt dem Mut und dem organisatorischen Talent sowie der Aufopferungsbereitschaft besonders der Frauen, Klara Nádas und Magda Aranyossi, den allergrößten Respekt. Die Unbeirrbarkeit ihres Handelns im Dienste der kommunistischen Bewegung und ihres Glaubens an den neuen besseren Menschen in einer zukünftigen Gesellschaft unter der Führung des Proletariats aber hatte eine Kehrseite, die nach dem Krieg mehr und mehr die Oberhand gewann: Blinde Anpassung, Verfolgung, Selbstverleugnung und gegenseitiger Verrat, den Nádas schließlich sogar bei seiner Tante gegenüber der Mutter, von ihr in enger Verbundenheit "Klari" genannt, feststellen konnte:
    "Die konspirativen Regeln der kommunistischen Bewegung verlangten es von ihr - und ohne diese Regeln ist weder die Bewegung verständlich noch die Moral überhaupt und auch die neueste Zeitgeschichte nicht. Um für die Bewegung integer zu bleiben, gab sie einem Druck nach, der dann aber nicht nur ihre eigene Integrität, sondern auch die der angebeteten Klari grundlegend verletzte."
    Die Mutter Klara Nádas starb 1955 an Krebs. Der Vater, in die Mühlen der kommunistischen Partei-Intrigen geraten und den Tod seiner Frau nicht verwindend, erschoss sich 1958 - zwei Jahre nach der blutigen Niederschlagung des ungarischen Unabhängigkeitsbestrebens durch die Panzer der Genossen aus Moskau. Die Söhne Péter und Pál beabsichtigte er mit in den Tod nehmen, wie er in seinem Abschiedsbrief schrieb, brachte es aber schließlich nicht über sich.
    Abgesehen von der Materialfülle, die in diesem Buch steckt, ist die Erzählweise, die ästhetische Aufbereitung dieses Materials absolut bemerkenswert. Nádas wechselt immer wieder die Perspektiven, er zitiert aus Dokumenten, lässt übergangslos im nächsten Augenblick bevorzugt Magda Aranyossi, mit der er sich als Zeitzeugin und Ziehmutter nach dem Tod der Eltern heftig auseinandersetzte, in der Ich-Form erzählen. Er wechselt absatzlos die Zeitebenen, bildet Assoziationsketten, die abbrechen und später im Buch wieder aufgenommen werden, und er führt Argumente gegeneinander oder verschränkt Geschichtsepochen ineinander. Wer hier als Leser nicht am Ball bleibt beziehungsweise Seiten zu überschlagen versucht, ist verloren!
    Die verlorenen Utopien
    Das erinnert zumindest von Ferne an das dreibändige Werk "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss - wenn auch "Aufleuchtende Details" Memoiren sind mit eingeschobenen Dialogen und szenischen Passagen und die "Ästhetik des Widerstands" ein Roman ist mit dokumentarischen Anteilen. Sie ähneln sich beispielsweise in ihrer Versessenheit, auch noch dem kleinsten Detail Bedeutung zuzumessen, vor allen Dingen Protagonisten verlorener Kämpfe dem Vergessen zu entreißen. So ist, was Nádas in seiner ausführlichen Schilderung seiner Fotografenlehrzeit hervorhebt, nämlich das Restaurieren von Fotos, die Verschollene und Ermordete zeigen, also sichtbar machen, was zu verschwinden droht, beispielhaft für sein ganzes Buch.
    "Es ging um die jüngste Vergangenheit von uns allen. Ein bis dahin unbekannter Respekt war am Werk. Wir mussten Gesichter und Gestalten aus dem Chaos der Vernichtung herausheben, sie aus ihren Überresten zusammensetzen."
    Aber ein wichtiger Unterschied zu Peter Weiss ist, dass dieser in seinem 1.000-Seiten-Werk noch die Hoffnung nährt, die ästhetischen und politischen Errungenschaften seiner fiktiven Arbeiter wie ihre Erfahrungen der Widerstandszeit gegen den Faschismus könnten ein Vermächtnis sein für die Zukunft. Wogegen Nádas aus der Perspektive des Nachgeborenen die Geschichte der kommunistischen beziehungsweise der sozialen Bewegungen in Europa durch den Stalinismus als unheilbar beschädigt ansieht.
    "Angesichts dieser Verbrechen und Verbrecher wandte sich die europäische Öffentlichkeit von der mehrere hundert Jahre alten Geschichte der sozialen Bewegungen erschreckt ab, verstieß gewissermaßen die Geschichte der Arbeiterbewegungen aus ihrem historischen Bewusstsein, stempelte sie rückwirkend ab und sie wird wohl kaum eine Wende vollziehen, um diese Geschichte doch noch zu integrieren."
    Das Vermächtnis des jüdischen Liberalismus
    Aber noch ein weiterer Strang in der ungarisch-europäischen Geschichte scheint abgeschnitten. Das Judentum. Im streng "agnostisch-modernistischen" bis "rational-nihilistischen" Denken der Eltern, wie Nádas es beschreibt, hatte das Jüdische keinen Platz - wie überhaupt das Göttliche, das Metaphysische, das Mystische von ihnen negiert wurde. Aber alle ihre Erziehungsexperimente seien in dieser Hinsicht gescheitert, so Nádas. Die an der Mutter bewunderte und von ihr geerbte Neigung zum Widerstand habe sich beim ihm zum Widerstand gegen Dogmen und gegen die Verabsolutierung von Ideen und Utopien geformt. Und so ist es wohl zu erklären, dass Nádas im ersten Teil des Buches die kommunistische Widerstandsgeschichte seiner Eltern mit ihren heldenhaften Taten wie ihren tragischen Verirrungen mit einem Rückgriff ins 19. Jahrhundert unterbricht und auf seine jüdischen Vorfahren zu sprechen kommt. Eingeflochten ist unter anderem die wortwörtlich abgedruckte Rede des Urgroßvaters Ernö Mezei, der ein namhafter Publizist und Abgeordneter im ungarischen Parlament der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn war und der der Unabhängigkeitspartei angehörte. In einer denkwürdigen Rede am 15. November 1882 argumentierte Mezei gegen die immer wieder aufflammenden antisemitischen Ausschreitungen. Anlass war die Unterstellung eines Ritualmordes durch einen Juden an einem Bauernmädchen. Was diesen Vorfahren von Péter Nádas damals noch beseelte, nämlich der Glaube an Gleichberechtigung und die Verwirklichung eines liberalen ungarischen Patriotismus, habe sich als tödlicher Irrtum erwiesen.
    "Sie wussten nicht, woher hätten sie es auch wissen sollen, dass der ungarische jüdische Patriotismus nur auf dem Boden des Unabhängigkeitskampfes, des Freisinns, der reifen liberalen Demokratie lebensfähig ist. Sie als Freisinnige und Befürworter der Unabhängigkeit konnten nicht voraussehen, dass die Tage der Gleichberechtigung gezählt waren. Ich hingegen, fast hundert Jahre danach, hätte die Lektion der Niederlage des ungarischen jüdischen Patriotismus lernen müssen. Ich habe sie aber nicht gelernt. (…) Ehrlich gesagt sehe ich noch heute nicht ein, warum mein Bedürfnis nach Gleichberechtigung und mein ungarischer Patriotismus die zwei bedeutungsschwersten Irrtümer meines Lebens sein sollten, obwohl ich doch weiß warum. Sie ihrerseits dachten, die liberalen Prinzipien würden in der europäischen Geschichte unabdingbar werden. Sie dachten falsch."
    Ungarn 1956 – Die gescheiterte Revolution
    Der Exkurs dient Nádas dazu, an ein Erbe des Urgroßvaters anzuknüpfen, an das Erbe des liberalen, unabhängigen Denkens, zu dem er sich zum Schluss bekennt - allem Pessimismus zum Trotz. Ein Erbe, das - versteht man Nádas recht - durch Faschismus, Stalinismus, Antisemitismus und Holocaust verschüttet wurde. Eine tragische Zäsur stellt dabei für ihn das Scheitern der ungarischen Revolution von 1956 dar. Auf den letzten zwanzig Seiten seines Buches greift er dieses historische Ereignis wieder auf. Die Tragik liegt für ihn in einem zweifachen Versagen, wobei das eine den innerungarischen Verhältnissen geschuldet sei, das andere dem Kalkül der Westmächte und der Großmachtpolitik während des Kalten Krieges. Als Ministerpräsident Imre Nagy in einem Verzweiflungsschritt den aufbegehrenden, überwiegend jungen Intellektuellen auf Budapests Straßen nachgab und den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt und die Neutralität des Landes verkündete, war das weder mit den Interessen von stalinistischer Parteielite und Geheimdienst des Landes vereinbar, noch mit den Interessen Moskaus und denen der westlichen Demokratien. Letztere wollten die von ihnen favorisierte bürgerliche Ordnung wie auch die kapitalistische Marktwirtschaft nicht aufs Spiel setzen mit einer Parteinahme für einen demokratisch gesinnten Reformsozialismus. Der berühmte "Eiserne Vorhang", der über Jahrzehnte Ost und Westeuropa trennen sollte, war deshalb längst beschlossene Sache.
    "Was in Europas östlichen Regionen der unabweisbare Wunsch war, die damals unterbrochenen bürgerlichen Revolutionen anständig zur Vollendung zu bringen, war in den westlichen und nördlichen Regionen Europas kein Thema mehr, war eine vollendete Tatsache, stand nirgends mehr auf dem Programm. Obwohl ihre eigenen Revolutionen ein moralisches und emotionales Erbe hinterlassen hatten, das nicht verleugnet werden konnte. (…) Die Spaltung Europas vollendete sich mit diesem Akt des Kalten Kriegs, während die ungarische Regierung noch in vier Sprachen um Hilfe bat."
    Die Tragik liegt für Nádas in der wohl unabweisbaren Tatsache, dass die Niederschlagung der ungarischen Revolution und die Spaltung Europas die Gefahr eines atomaren Schlagabtausches minderte und ein akzeptables "Minimum an friedlicher Koexistenz" ermöglichte. Für die Res publica und die Demokratie aber bedeutete das eine Niederlage, eine gesamteuropäische negative Erfahrung, die von der Oberfläche des Bewusstseins verbannt wurde, so Nádas.
    So ganz durchschaubar ist es nicht, worin für Nádas eigentlich der herausragende Stellenwert des ungarischen Aufstandes liegt. Da bleibt er etwas diffus. Es sind daher eher die Folgen des Scheiterns, die er eindrücklich hervorhebt und die zu denken geben. Der Aufstand sei einer falschen Idylle der friedlichen Koexistenz geopfert worden – obwohl, so ist zu entgegnen, er ja gerade die Unausweichlichkeit dieser Koexistenz in den Zeiten des Kalten Krieges betont hatte. Bedenkenwerter ist da seine Befürchtung, dass die gescheiterte Revolution eine Zäsur im politischen Denken für ganz Europa darstellte. Das Denken bewege sich seither in engen Zirkeln. Gesellschaftliche Utopien gebe es nicht mehr. Nur noch Gegenwart. Ohne die Tradition revolutionärer Veränderungen bleibe nur noch die Tradition des Konformismus und Opportunismus übrig. Deshalb ist für Nádas mit dem Scheitern der ungarischen Revolution auch jede Aussicht auf erneute revolutionäre Bewegungen erledigt.
    "Sie kann und muss auch als Teil der Tradition der europäischen und nordamerikanischen Revolutionen und sozialen Bewegungen verstanden werden. Was zu einem noch peinlicheren Schluss führt. Die ungarische Revolution ist nämlich die letzte europäische Revolution, wie man sagen muss. Der peinliche und blutige Abgesang der romantischen und idealistischen Geschichte auf die jahrhundertlange Epoche der Revolutionen. Aus dem utopistischen Gesellschaftsvertrag wurde die Utopie mit exzorzistischen Mitteln verbannt. Weiter geht’s nicht."
    Und deshalb bleibt die ungarische Revolution für Nádas ein Memento, eine Mahnung, eine blutende Wunde.
    Da ist er wieder - dieser tiefe Geschichtspessimismus, der den Memoreinband des ungarischen Schriftstellers durchzieht. Man muss ihn nicht teilen. Auch Nádas weiß schließlich nicht, welche Umbrüche uns noch bevorstehen und wer dann ihre Träger sein könnten. Aber vor dem Hintergrund der von ihm erlebten und in diesem Buch geschilderten Geschichte ist seine Haltung nachvollziehbar. Und schließlich ringt ja Nádas ständig selbst mit ihr. Und wenn man ihn richtig versteht, dann geht es ihm nicht zuletzt darum, Zusammenhänge sichtbar zu machen zwischen den blutigen Ereignissen und Verwerfungen des 20. Jahrhunderts und den illiberalen Gefährdungen in unserer Gegenwart.
    "Ich sage es ohne Pathos und ohne Trauer, dass mein Leben im Zeichen eines zweimaligen Verblutens gestanden hat. Seither hasse ich nicht nur jegliche Tyrannei, sondern kann auch vor Schwächen, billigen Komödien und gefährlichen Voreingenommenheiten der Res publica und der Demokratie den Kopf nicht abwenden. Tut mir leid."
    Wobei alles eine Frage der Beleuchtung ist, wie der Fotograf Nádas schreibt: "Was tritt hervor, was tritt in den Hintergrund?" Hätte er also die Geschichte und damit auch seine Geschichte anders erzählen können, wenn der Lichtstrahl auf andere Details gefallen wäre? Nicht zuletzt diese untergründig immer präsente Infragestellung von Wahrnehmung und Erinnerung und damit seiner eigenen Position macht dieses gewaltige Werk zu einem erhellenden Leseerlebnis.
    Péter Nádas: Aufleuchtende Details. Memoiren eines Erzählers

    Aus dem Ungarischen von Christina Viragh

    Rowohlt. 1278 Seiten, 39.95 Euro